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Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Korčula 1968

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„Die Begeisterung, der Enthusiasmus, die große Bewegung, das echteste Gefühl der Jugend, eines besseren Wohin, eines Überhaupt dessen was wir haben wollen, die stehen in der Luft und sind in der ganzen marxistischen Diskussion seit 1918 zu kurz gekommen.“

Ernst Bloch, 1968 auf Korčula

Auch 1968 fand im August auf Korčula die von der Praxis-Redaktion organisierte Sommerschule statt. In diesem schicksalhaften Jahr stand die Sommerschule ganz im Zeichen der Revolution:. Das Oberthema Marx und Revolution war aufgeteilt in drei Themenblöcke: „Revolution und Marx“, „Geschichte und Revolution“ und „Revolution heute“. Die Liste der internationalen Gastreferenten, die die Vorträge der Praxis-Autoren ergänzten, war illuster, unter anderen sprachen Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Norbert Birnbaum, Jürgen Habermas, Iring Fetscher, Alfred Sohn-Rethel… Alle Beiträge und Teile der Diskussionen wurden in einem rund 350 Seiten starken Doppelheft der Praxis 1969 veröffentlicht, ein beeindruckendes Dokument, wie die akademische Neue Linke die damaligen Umwälzungssituation zu verstehen suchte.

Diese und die nächsten Folgen dieses historisch-philosophischen roman feuilleton werden sich mit diesem wichtigen Gipfeltreffen der Neuen Linken beschäftigen, Themen und blinde Flecke identifizieren und ganz allgemein nachvollziehbar machen, wie die Philosophie damals versuchte, ihre Zeit in Gedanken zu fassen.

Doch zunächst ein paar Worte zu der historischen Situation, die allen Beteiligten damals lebhaft präsent war und die die Debatte prägte. Ein zentrales Ereignis waren die weltweit eskalierenden Studentenproteste, deren Höhepunkt der Pariser Mai 1968 darstellte. Dort war die studentische Protestbewegung in Nanterre und an der Sorbonne so eskaliert, daß sie die Grenzen des studentischen Umfelds überschritt. Der jugendliche Protest hatte sich ausgeweitet und auf die Arbeiterschaft übergegriffen: Fabrikbesetzungen und ein Generalstreik waren die Folge gewesen.

Das zweite zentrale Ereignis war die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Truppen des Warschauer Paktes. Die Führung in Moskau hatte hiermit gezeigt, daß die angeblichen Korrekturen am Stalinismus seit 1956 bestenfalls oberflächlich gewesen waren. Der Angriff auf den tschechoslowakischen Versuch, eine demokratischere, vielleicht sogar pluralistische Variante des Sozialismus zu installieren, machte auch dem Letzten deutlich, daß es sich beim Kommunismus Moskauer Prägung nicht um eine zwar bedauerliche, aber durch die historischen Umstände zu entschuldigende Deformation eines prinzipiell begrüßenswerten Systems handelte.

Die beiden unmittelbar die Monate zuvor bestimmenden Ereignisse müssen zusätzlich vor dem Hintergrund eines bereits länger anhaltenden Prozesses gesehen werden, nämlich den antikolonialen Befreiungsbewegungen, von Cuba und Algerien bis hin zu Vietnam.

Diese drei historischen Erfahrungen, nämlich die (scheinbare) Möglichkeit eines Bündnisses von Studenten und Arbeiterschaft, die konterrevolutionäre Natur des Moskauer Regimes und der Befreiungskampf der unterentwickelten Länder grundierten die ganzen Debattenbeiträge, ob sie sich nun explizit darauf bezogen oder nicht.

Ich hatte bereits in einem früheren Blog-Beitrag darauf hingewiesen, daß die Neue Linke und die Antiautoritären Bewegungen keinesfalls deckungsgleich sind. Anhand der Sommerschule von Korčula 1968 läßt sich dies noch einmal exemplifizieren. Die Intellektuellen, die sich in diesem Sommer auf Korčula trafen, können im großen und ganzen dieser Neuen Linken zugerechnet werden: Marxistische, aber dezidiert anti-stalinistische Hochschullehrer, die durch die Bank davon überzeugt waren, daß eine sozialistische Gesellschaft nicht nur wünschenswert wäre, sondern auch in greifbarer Nähe läge. Die subjektiven Faktoren dafür waren für sie unzweifelhaft gegeben: Die Studentenrevolten, der wenn auch gescheiterte tschechoslowakische Versuch, sich vom stalinistischen Joch zu befreien und die antikolonialen Befreiungsbewegungen legten in ihren Augen Zeugnis davon ab, daß im Westen, im Osten und im Süden die Zeit reif war für eine Transformation. Und auch die objektiven Faktoren waren für sie gegeben: Der technologische Fortschritt, der seit dem zweiten Weltkrieg nicht nur die Produktion, sondern auch das Alltagsleben mit Fernsehern, Waschmaschinen, Kühlschränken grundlegend veränderte hatte, schien ihnen Indiz genug, daß die aktuellen Produktivkräfte reif genug wären für eine sozialistische Umwälzung.

Von wenigen ketzerischen Ausnahmen abgesehen, war dies die Brille, durch die die 1968 auf Korčula versammelten Intellektuellen die Situation sahen. Auf Korčula ging es nur noch darum, Details innerhalb dieser angenommen historischen Konstellation auszuarbeiten.

Doch bei allen interessanten Vorträgen und Diskussionen – die in den nächsten Folgen Thema sein werden – fällt im Rückblick zunächst ein eklatanter blinder Fleck oder besser eine hochgradig verzerrte Wahrnehmung ins Auge: Der vorgegebene marxistische Interpretationsrahmen erlaubte es den Diskutanten offensichtlich nicht, die Studentenbewegung aus sich selbst heraus zu verstehen und noch weniger, sie im Rahmen einer weit über die Universitäten hinausweisenden allgemeinen anti-autoritären Revolte, die ebenso Schüler und Lehrlinge umfaßte, zu interpretieren. Genausowenig wird das kulturrevolutionäre Moment der Revolte wahrgenommen, seine Verbindung zu einer Gegenkultur, einem musikalisch-künstlerischen Underground.

Stattdessen ist ein bestimmendes Moment der Debatten auf Korčula das Verhältnis von Studenten- zu Arbeiterbewegung. Als alleinig mögliches Subjekt gesellschaftlicher Transformation wurde in marxistischer Tradition nach wie vor die Arbeiterklasse angesehen; und so kreisten alle Beiträge, die sich explizit mit der Studentenbewegung beschäftigten, um das Verhältnis von Studenten- und Arbeiterbewegung. Marcuse etwa formulierte das in seinem Beitrag folgendermaßen:

„Zunächst einmal denke ich nicht, daß die Studenten selbst eine revolutionäre Kraft darstellen. Ich habe niemals behauptet, daß die Studenten heute die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft ersetzen, das ist natürlich Unsinn. Was die Studentenbewegung heute repräsentiert ist noch nicht einmal eine Avantgarde, hinter der die revolutionären Massen marschieren, sondern eine führende Minderheit, eine kämpferische Minderheit, die das artikuliert, was in der großen Mehrheit der Bevölkerung immer noch unartikuliert und unterdrückt ist.“ ([Marcuse 1969], S.21)

Eine gewagtere Konstruktion wurde von Norman Birnbaum vorgeschlagen. Sein Ansatzpunkt war der technologische Fortschritt, der das notwendige Anwachsen einer technischen Intelligenz bedinge.

„Die kritischen Intellektuellen haben die Studenten bislang als Verbündete betrachtet, als Akteure  möglicher revolutionärer Veränderungen in einer Welt, die sich zwar einer reformistischen Rhetorik bedient, aber konservative Absichten offenbart. Indem die kritischen Intellektuellen die Studenten derart gesehen haben, betonten sie den Generationencharakter der Studentenbewegung. Was aber, wenn wir annehmen, es handle sich tatsächlich um einen vorweggenommen Streik der technischen Arbeitskräfte von morgen?“ ([Birnbaum 1969], S.245)

Birnbaum erkennt zwar selbst, daß diese Hypothese, die die Studenten selbst zu einem Teil der modernen Arbeiterklasse erklärt, sehr weit hergezogen und empirisch kaum haltbar ist. Aber das bekümmert ihn nicht groß:

„Dennoch ist das eine Hypothese die einige Hoffnung erlaubt, daß die kritischen Intellektuellen die Grenzen […] ihrer eigenen Situation überschreiten können, um Kontakt zu einer Gruppe mit sehr bemerkenswertem politischen Potential herzustellen.“ ([Birnbaum 1969], S.245)

Hier begegnen wir wieder dem bereits früher konstatierten paternalistischen Denken, das die Neue Linke mit der traditionellen verband: Sie glaubt sich im Besitz eines gültigen theoretischen Referenzrahmens, der den eigentlichen gesellschaftlichen Akteuren aufgezwungen werden soll.

„Im Augenblick beruht die Avantgarde-Funktion der Studenten und Intellektuellen in ihrer Fähigkeit, gegenüber der technischen Intelligenz die moralische Führungsrolle zu übernehmen. Ohne eine Ausweitung der gegenwärtigen Bewegung über ihre gegenwärtige Basis hinaus, kann der Avantgardismus möglicherweise am Ende als begeistertes Sektierertum gesehen werden. Die Analyse der modernen Gesellschaft, die von der Neuen Linken und der Studentenbewegung in einer Reihe von Gesellschaften verbreitet wurde, die von den kritischen Intellektuellen in den letzten zwei Jahrzehnte ausgearbeitet worden ist, ist eine zu tiefsinnige, zu treffende Sicht der Realität, als daß sie dieses Schicksal verdiente.“ ([Birnbaum 1969], S.249)

Doch ungeachtet dieser Schwäche, daß wir aus der Dokumentation der Sommerschule von Korčula 1968 wenig über die tatsächliche Natur der antiautoritären Bewegungen erfahren können, finden sich trotzdem einige bemerkenswerte Texte, die es wert sind, der Vergessenheit entrissen zu werden. Den Anfang macht nächsten Freitag ein Text von Gajo Petrović, der mit der bemerkenswerten Frage beginnt:

„Muß sich die Philosophie immer unter der Form einer Abhandlung darstellen, in der alles systematisch expliziert, verargumentiert und illustriert wird?“ ([Petrović 1969], S.90)

Literaturverzeichnis

Birnbaum, N. (1969): „On The Idea Of A Political Avant-Garde In Contemporary Politics: The Intelllectuals And Technical Intelligentsia“, in: Praxis, Jg.5 (1969), Nr.1/2: 234 – 249.

Marcuse, H. (1969): „The Realm Of Freedom And The Realm Of Necessity. A Reconsideration.“, in: Praxis, Jg.5 (1969), Nr.1/2: 20-25.

Petrović, G. (1969): „Philosophie et revolution (Vingt faisceaux de question)“, in: Praxis, Jg.5 (1969), Nr.1/2: 90 – 96.

Written by alterbolschewik

1. Juli 2011 um 14:16

Veröffentlicht in Jugoslawien, Marx

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