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Adorno an Thomas Mann – Santa Monica 1. 12. 1952
„Die Grenze, die Sie zwischen sich selbst und Wagner setzen, scheint mir keine bloß individuelle, sondern eine geschichtsphilsoophische. Wollte man Begriffe in den Mund nehmen, wie sie einem von Literatur- und Kulturhistorikern verdorben sind, so müßte man wohl sagen, daß bei Wagner, wie etwa auch bei Baudelaire, der romantische Ästhetizismus, also der ungebrochene Glaube an das Kunstwerk als ein in sich Ruhendes, sinnvoll-Reales, noch naiv lebt, in Ihnen aber, und übrigens ähnlich in Gide, zum Selbstbewußtsein gefunden und dadurch von innen her, nicht etwa von außen aufgepropfte Weltanschauung sich transzendiert hat. Die Schwelle bezeichnet wohl Nietzsche, der auf der einen Seite an der Wagnerschen Setzung des Kunstwerks Zeit seines Lebens festgehalten hat (neulich las ich bei ihm eine Formulierung: eine anti-metaphysische Weltanschauung, ja, aber eine artistische) und von dem andererseits eben die Formulierung stammt, das Kunstwerk dürfe nicht geschaffen erscheinen; eine Formulierung, die sich wörtlich fast ebenso bei Valèry findet. Zuweilen habe ich den Verdacht, als sei das wie sehr auch gewandelte Erbe des Ästhetizismus, als Lossage von dem Reich der Zwecke, das allein wirksame Gegengift gegen die sich ausbreitende Barbarei, und wenn die Ursprünge des Unheils tatsächlich nicht nur auf die Entwicklungstendenz der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch auf die Komplexion ihrer Kritiker zurückdatiert, so ist daran wohl vorab zu denken. Vielleicht ist es die unscheinbare, aber in ihrer Tragweite gar nicht abzuschätzende Schwäche von Marx gewesen, daß er nicht wirklich substantiell die Kultur in sich verkörperte, gegen die er sich kehrte; seine Sprache, vor allem in der reiferen Zeit, läßt sehr darauf schließen, und wenn er die Spannung zwischem dem utopischen und dem positivistischen Element im Sinn des letzteren auflöste und damit vorbereitete, daß der Sozialismus selbst zu einem Stück der Produktiionsmaschinerie wurde, so hängt das wohl mit seiner eigentümlichen Frabenblindheit gegen den Schein zusammen, ohne den es keine Warheit gibt.“
Theodor W. Adorno/ Thomas Mann, Briefwechsel 1943 – 1955, Frankfurt/M. 2003, S. 126-127