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Die äußere Ordnung

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Zur Kategorie der Ordnung (2)

„Ordnung ist das halbe Leben.“

Volksmund

Was bisher geschah: Bevor sich der Autor überall in der Weltgeschichte herumtrieb und dann auch noch seine Urlaubserlebnisse in diesem Blog verarbeitete, hatte er vollmundig verkündet, mit der Kategorie der „Ordnung“ einen Schlüssel dafür zu liefern, wie subjektive und objektive Momente gesellschaftlicher Veränderung ineinandergreifen.

An einer ganzen Reihe von Beispielen war hier im Lauf der letzten Jahre immer wieder dargestellt worden, daß gesellschaftsverändernde Bewegungen dann aufbrechen, wenn ein Ereignis die bestehende Ordnung stört. Das Ereignis wurde dabei meist als traumatisierend und gleichzeitig symbolisch charakterisiert. Das gilt etwa für den Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, der die sogenannte „68er“-Bewegung in der BRD auslöste. Bislang habe ich mich dabei meistens darauf konzentriert, das Ereignis näher zu bestimmen. Und erst allmählich wurde mir klar, daß das Gegenstück zum Ereignis, nämlich die Ordnung, eine mindestens ebenso interessante Kategorie darstellt.

Im letzten Blogbeitrag zum Thema habe ich Ordnung als „handlungsbestimmendes Gefüge aus Überlieferungen und Praktiken“ bezeichnet – eine Bestimmung, die so gräßlich ist, daß sie glatt von einem Soziologen stammen könnte. Heute will ich versuchen, etwas genauer auszuführen, was sich hinter diesem Wortungetüm verbirgt.

Der erste Punkt ist dabei das „handlungsbestimmende“ der Ordnung. Wenn man unmittelbar von Ordnung spricht, dann stellt man sich zunächst einmal etwas recht Statisches vor. Doch tatsächlich beziehen sich Ordnungen vor allem auf das Handeln der Menschen. Die vorgegebene Ordnung beeinflußt mein Handeln immens. Wenn ich beispielsweise auf eine Ampel zufahre, und diese schaltet auf Rot, dann bleibe ich stehen; wenn sie wieder auf Grün schaltet, fahre ich weiter. Dahinter steht das Regelwerk der Straßenverkehrsordnung, einer ziemlich primitiven Ordnungstruktur, die mein Verhalten im öffentlichen Raum allerdings massiv beeinflußt. Das gilt auch, wenn ich bei Rot nicht stehen bleibe und weiterfahre – was als Fahrradfahrer in Freiburg eher der Normal- als der Ausnahmefall ist. Aber da schaue ich dann vorher, daß kein Gesetzeshüter in Sichtweite ist, der den Verstoß gegen die bestehende Ordnung ahnden könnte. Daß heißt, die Ordnung hat Einfluß auf mein Handeln, ob ich sie nun akzeptiere oder nicht, mich ihren Regeln unterwerfe oder gegen sie verstoße.

Das zweite sind die Praktiken, die Teil der Ordnung sind. Nehmen wir noch einmal die Straßenverkehrsordnung. In dieser gibt es ganz klare Regeln, was erlaubt und was verboten ist. Doch ich habe oben ja schon erwähnt, daß es durchaus Verstöße gegen diese Regeln geben kann, die beinahe universell sind. Freiburger Fahrradfahrer haben einen ganz eigenen Kodex dessen, was erlaubt und was verboten ist, der mit den Regeln der offiziellen Straßenverkehrsordnung nur sehr vage übereinstimmt. So ist es gängige Praxis, in bestimmten Straßen auch auf den Fahrradwegen in der Gegenfahrtrichtung zu fahren – alles andere wäre komplett unsinnig. Es gibt aber auch Straßen, in das selbe streng verpönt ist. Erstsemester, die neu in der Stadt sind, müssen dort erst einmal angepflaumt werden, bis sie kapieren, daß sie nicht immer und überall auf der falschen Seite fahren können. Über das offizielle Regelwerk legt sich ein Gewohnheitsrecht geübter Praxis, das seinen eigenen, ungeschriebenen Regeln folgt. Dieses inoffizielle Regelwerk, das das offizielle Regelwerk modifiziert, ist wesentlicher Bestandteil der Ordnung. Mit anderen Worten: Auch die Verstöße gegen die Ordnung sind, in einem begrenzten Rahmen, ein Teil von ihr.

Das verdankt sich einem dritten, extrem wichtigen Punkt, der in der obigen Bestimmung fehlt: Eine Ordnung braucht Legitimation. Für kurze Zeit mögen irgendwelche Machthaber eine Ordnung rein durch brutale Gewalt aufrechterhalten, doch das ist ein absolut seltener Ausnahmefall. Es wird immer wieder unterschätzt, wie sehr auch diktatorische Ordnungen nicht ohne Legitimation auskommen können. Daß Menschen Regeln folgen, die durch eine bestimmte Ordnung vorgegeben sind, hängt weitgehend davon ab, inwiefern diese Ordnung als legitim angesehen wird.

Nehmen wir noch einmal die Straßenverkehrsordnung: Diese legitimiert sich dadurch, indem sie garantiert, daß ich schnell und sicher von A nach B komme. An dieser Legitimation wird die Ordnung gemessen. Es ist offensichtlich, daß diese Legitimation in sich selbst widersprüchlich ist: Schnell und sicher werden sich oft genug widersprechen. Und so finden wir Regeln, die zwar der Sicherheit dienen, der Schnelligkeit aber absolut unzuträglich sind. Hier ereignen sich dann die Regelverstöße auf Basis der bestehenden Legitimation: Wenn mir ein Schild verbietet, einen bestimmten Weg zu nehmen, obwohl dieser viel schneller wäre, der Sicherheitsverlust durch regelwidriges Verhalten aber bestenfalls minimal ist, dann wird gegen die Regel verstoßen werden.

Es kann also durchaus ein Bestandteil der Ordnung sein, daß gegen bestimmte Regeln verstoßen wird, daß es ein ungeschriebenes Regelwerk gibt, das in bestimmten Bereichen das geschriebene Regelwerk ergänzt – man darf sich nur nicht erwischen lassen. Viele Ordnungsgefüge sind da ziemlich flexibel. Deswegen war es auch so lächerlich, wenn irgendwelche Autonomen in der 80er Jahren, unter Berufung auf Detlef Hartmanns Leben als Sabotage ([1]), jede kleine Unbotmäßigkeit als Zeichen einer „Neuzusammensetzung der Klasse“ interpretierten. Die allermeisten Ordnungen tolerieren Regelverstöße, solange diese ihre Legitimationsgrundlagen selbst nicht in Frage stellen.

Und mit der Frage der Legitimation von Ordnungen, nähern wir uns langsam dem entscheidenden Punkt, nämlich der Verinnerlichung von Ordnungen. Ordnungen sind nur in den seltensten Fällen reine Regelwerke, die das menschliche Handeln allein durch äußerliche Vorschriften steuern. Die meisten Ordnungen funktionieren deshalb, weil entweder ihre Legitimationsgrundlage oder sogar bestimmte Regeln so verinnerlicht sind, daß ein Handeln gegen die Ordnung schlicht undenkbar ist.

Um auch hier ein ganz einfaches Beispiel anzuführen: Tischmanieren. Wer gelernt hat, bei Tisch nicht zu schlürfen und zu schmatzen, dem wird es nie im Leben einfallen, derartiges zu tun (höchstens in einer Trotzreaktion). Und er wird dies als sehr unangenehm empfinden, wenn andere sich nicht an diese Regeln halten. Dazu braucht es, anders als im Fall der Straßenverkehrsordnung, keine Polizei, die über die Einhaltung der Regeln wacht. Sondern die Instanz, die über die Einhaltung der Regeln wacht, ist internalisiert. Und zwar so internalisiert, daß es ein richtiges physisches Unwohlsein verursacht, wenn gegen die eingeübten Tischmanieren verstoßen wird. Ordnungen stellen also nicht nur ein äußeres Regelwerk dar, sondern werden durch Erziehung und Gewohnheit Teil der eigenen Persönlichkeit.

Und so können Sie sich auf nächste Woche freuen, wenn wir uns hier in diesem Blog mit der inneren Ordnung beschäftigen.

Nachweise

[1] Hartmann, D., Die Alternative: Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Tübingen 1988 (2. Aufl.).

Written by alterbolschewik

26. Juni 2015 um 15:45

Veröffentlicht in Ereignis, Ordnung

3 Antworten

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  1. Na, wenn da nächste Woche mal nicht der alte Michel vorkommt. 😉

    futuretwin

    1. Juli 2015 at 15:24

  2. Der Begriff „Neuzusammensetzung der Klasse“ beschreibt doch eigentlich die Prekarisierung und Proletarisierung von Berufsgruppen, das Entstehen eines akademischen Proletariats, den sozialen Aufstieg der traditionellen Industreiarbeiterschaft und die Verwerfungen, die damit einhergehen und keine bloßen Regelverstöße. Da haben einige Autonome Hartmut und Roth aber falsch gelesen.

    che2001

    9. Juli 2015 at 15:07

  3. Hartmann, nicht mut;-)

    che2001

    9. Juli 2015 at 15:08


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