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Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Archive for Mai 2012

Moment mal!

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„Ich habe nur drei Gegebenheiten ernstgenommen: Die Liebe, die Philosophie, die Partei.“

Henri Lefebvre, La Somme et le reste

Wie schon im letzten Beitrag erwähnt, erwies sich die Zeit nach seinem Ausschluß aus der KPF als äußerst produktiv für Lefebvre. Bis 1962 erscheinen, neben zahlreichen Aufsätzen, drei seiner wichtigsten Bücher: La Somme et le reste, Band 2 der Kritik des Alltagslebens und die Einführung in die Modernität.

La Somme et le reste ist eine Art philosophischer Autobiographie Lefebvres. Nach seinem Parteiausschluß zieht er hier, auf beinahe 800 Seiten, eine Bilanz seines philosophischen und politischen Werdeganges. Unter anderem rekapituliert er die Zeit vor seinem Eintritt in die Partei, als er mit Politzer, Guterman, Morhange und anderen die Zeitschrift Philosophies herausgab und lebhafte Auseinandersetzungen mit den Surrealisten auf der einen Seite und den Kommunisten auf der anderen Seite führte. Was in den dreißig Jahren der Parteimitgliedschaft an den Rand gedrängt wurde, die ursprüngliche Intention, die zum politischen Engagement geführt hatte, tritt nun wieder in das Zentrum der Lefebvreschen Überlegungen. Die „Theorie der Momente“, mit deren Darstellung in diesem Beitrag begonnen wird, hat ihre Wurzeln in den Diskussionen der 20er Jahre, bevor Lefebvre Parteimitglied wurde.

Gleichzeitig ist La Somme et le reste eine vehemente Abrechnung mit dem philosopischen Stalinismus, ja, jeglicher Form von philosophischen Dogmatismus. Was in Probleme des Marxismus, heute noch als Krise des Marxismus analysiert wurde, wird in La Somme et le reste zu einer allgemeinen Krise der Philosophie erweitert. Philosophie als ein von anderen menschlichen Aktivitäten getrenntes Geschäft ist für Lefebvre unmöglich geworden, sie verlangt nach ihrer Aufhebung. Und die Texte dieser Jahre sind ein tastender Versuch, dieses Neue greifbar zu machen:

„Die Untersuchungsmethode, die Philosophie und Ontologie (ob man sie nun Philosophie nennt oder nicht) ersetzt, muß sich als als eine Untersuchung der Gegenwart unter Beweis stellen; das schließt die Praxis mit ein, die Naturbeherrschung, Traum und Phantasie, das Vorhandensein der »Welt«, die direkte Empfindung des Kosmos und der Natur.“ ([1], S. 142)

Einen wesentlichen Teil dieser Untersuchung der Gegenwart bildet Lefebvres Kritik des Alltagslebens. Der erste Band dieser Kritik war 1947 erschienen und von einem Teil der Nachkriegsjugend interessiert aufgenommen worden ([1], S. 612). 1958 erscheint eine zweite Auflage mit einem neuen und sehr langen Vorwort, das beinahe den Umfang des eigentlichen Buches erreichte. 1962 veröffentlicht er dann den zweiter Band (1968 wird Das Alltagsleben in der modernen Welt folgen und 1981 schließlich ein dritter Band der Kritik).

Die Kritik des Alltagslebens ist für Lefebvre zentral, weil sie für ihn das Fundament bildet, auf der er seine Korrektur aufbaut, die er an der klassisch-marxistischen Sicht gesellschaftlicher Veränderung anbringt. In La Somme et le reste erläutert er die Intention, die hinter dem ersten Band der Kritik des Alltagslebens steckte:

„Tatsächlich impliziert dieses Buch die Idee, daß es keinen antinomischen Widerspruch zwischen Reform und Revolution gibt; es schließt die Idee ein, daß allein die Veränderungen im Alltagsleben ein substantielles Gewicht haben, angesichts derer die Umwälzungen des politischen Überbaus oberflächlich bleiben.“ ([1], S. 612f)

Nur dort, wo sie von einer Umwälzung des Alltags begleitet werden, können politische Umwälzungen eine fundamentale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich bringen.

Eng verknüpft mit dieser Veränderung des Alltagslebens ist der „revolutionäre Romantizismus“, den Lefebvre, wie wir letzte Woche gesehen haben, 1957 als Alternative zum leninistisch-stalinisischen Objektivismus propagiert hatte. Das dritte wichtige Buch dieser Periode, die Einführung in die Modernität von 1962 entfaltet ausführlich diesen „revolutionären Romantizismus“, der 1957 in Vers un romantisme revolutionnaire nur skizziert worden war. Wenn der „revolutionäre Romantizismus“ im wesentlichen eine Haltung, ein (Lebens-)Stil ist, dann geht es bei dieser Haltung, diesem Stil darum, den drögen Fluß des Alltagsleben zu unterbrechen. Ziel der revolutionär-romantischen Haltung muß es sein, der Banalität, der Mittelmäßigkeit und fehlenden Authentizität des Alltagslebens im Hier und Jetzt etwas entgegenzusetzen und nicht auf den St.-Nimmerleinstag der Revolution zu warten.

Eine solche Haltung wäre aber voluntaristische Don-Quichotterie, gäbe es im nicht im Alltagsleben selbst etwas, das über dieses schon hinauswiese. Und dieses Andere im Alltagsleben, das mehr ist als das Alltagsleben, sind die „Momente“.

Die Theorie oder das Konzept der „Momente“ geht, nach Lefebvres eigener Aussage auf die Zeit vor seinem Eintritt in die Partei zurück. Sie entstand im Kreis der Herausgeber von Philosophies, und Lefebvre reklamiert nicht das alleinige geistige Eigentum an dieser Konzeption ([1], S. 233). Mit der Neuausrichtung am Marxismus und an der kommunistischen Partei Ende der 20er verschwanden die Überlegungen zu den „Momenten“ in der Versenkung; sie hätten unter keinem Umständen zum vulgären Materialismus der kommunistischen Ideologie gepaßt, der das Denken nur die Widerspiegelung der äußeren Welt im Bewußtsein ist. Erst der Bruch mit der Kommunistischen Partei läßt Lefebvre diesen vor dreißig Jahre fallengelassenen Faden wieder aufnehmen.

Wovon handelt die Theorie der Momente? In ihrer ursprünglichen Fassung ging es um eine bestimmte Form der Zeiterfahrung. Lefebvre und seine Mitphilosophen (wohl vor allem Politzer) nehmen die Bergsonsche Unterscheidung von Zeit und Dauer auf, also die zwischen objektiver physikalischer Zeit einerseits und der Zeitlichkeit des Bewußtseins andererseits, um dann aber mit der Konzeption der „Momente“ das Bergsonsche Konzept der Dauer (durée) zu kritisieren:

„Die Zeit in ihre ganzen Tiefe, so schien es mir damals, erschöpft sich nicht in den Konzepten von Evolution, Entwicklung, Auflösung, Revolution, Aufstieg oder Niedergang und der Entfernung im Verhältnis zum Ursprung. Zeit und Zeitlichkeit schlossen meines Erachtens auch die Involution (Rückwendung) ein. Das heißt, daß die Dauer (durée), weit entfernt davon, sich nur durch die Linearität oder als durch Diskontinuitäten zerschnitten zu definieren, sich auch in sich zurückwendet, wie eine Schnecke oder Spirale, wie eine Strömung in Turbulenzen und Strudeln (Metaphern, die nur eine näherungsweise Wahrheit haben). Es formen sich also im Inneren jedes individuellen oder gesellschaftlichen Bewußtseins Formen der Dauer, die sich selbst während einer bestimmten Zeitspanne innerlich sind und sich aufrechterhalten, ohne still zu stehen oder sich außerhalb der Zeit zu setzen: die Momente.“ ([1], S. 233f)

Das klingt recht kryptisch und war es in der fiebrigen Zeit der 20er Jahre wohl auch. Jetzt, Ende der 50er Jahre, präzisiert Lefebvre diese Konzeption einer „Involution der Zeit“. Diese Präzisierung ist aber gar nicht so leicht nachzuvollziehen, weil sich Lefebvre ganz bewußt weigert, aus den „Momenten“ eine ontologische Tatsache zu machen. Die Momente, obwohl sie, wie wir gleich sehen werden, existenziell das Leben der Menschen bestimmen, haben keine höhere philosophische Dignität, die es erlauben würde, sie zum Fundament eines philosophischen Systems zu machen – etwa im Sinne eines „wahren“ menschlichen Lebens im Gegensatz zum „falschen“ Leben des drögen Alltags.

Bevor wir uns nächste Woche in den philosophischen Abgründen der Theorie der Momente verlieren, zunächst eine vorläufige Auflösung des Rätsels, was Lefebvre unter einem „Moment“ versteht. Er selbst erläutert dieses Konzept selbst weitgehend anhand von Beispielen. Exemplarische „Momente“ sind für ihn das Spiel, die Ruhe, die Gerechtigkeit. Und vor allem eins: Die Liebe.

„Ich werde nicht schreiben: »Die Liebe ist eine Leidenschaft«; auch nicht mit niedergeschlagenen Augen: »Die Liebe ist eine Lust«; auch nicht mit zum Himmel gerichteten Augen: »Die Liebe ist eine Freude«; auch nicht errötend: »Die Liebe ist Wahnsinn«. Ich werde einfach sagen: »Die Liebe ist ein Moment…«.
Ich verstehe unter diesen Worten zunächst einmal die permanente Versuchung durch das Absolute. Die Liebe strebt zum Absoluten; ansonsten existiert sie nicht. Und dennoch ist das Absolute unmöglich, nicht lebbar, unhaltbar, absurd. In ihrer Nachbarschaft streift der Wahnsinn umher: Die leidenschaftliche Entfremdung, die der Einsamkeit oder der Verzicht auf das, was sie nicht ist. Sie packt dich, sie nimmt dich, sie überlistet dich, um dich zu ergreifen. Und du greifst ihr gegenüber zur List, um dich wiederzugewinnen…“ ([1], S. 343)

Bei so viel atemloser Leidenschaft lohnt es sich, eine kleine Verschnaufpause einzulegen. Genießen Sie den Frühling und die Liebe, bevor wir nächste Woche tiefer in diese Thematik einsteigen, wenn Henri Lefebvre den/das Moment folgendermaßen definiert:

„Als »Moment« bezeichnen wir jeden Versuch zur totalen Verwirklichung einer Möglichkeit.“ ([2], S. 184)

Literaturverzeichnis

[1] Lefebvre, H., La Somme et le reste, Paris 1959.

[2] Lefebvre, H., Kritik des Alltagslebens – Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit II, Kronberg/Ts. 1977.

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25. Mai 2012 at 11:00

Veröffentlicht in Henri Lefebvre

Eine Liebesgeschichte – mit bösem Ausgang

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„Ich kannte Guy Debords Charakter, sein Verhalten und seine Art André Breton zu imitieren, indem er jeden ausschloß, um einen reinen und harten kleinen Kern zu formen.“

Henri Lefebvre im Interview mit Kristin Ross

Im Juni 1958 kam die erste Nummer der Zeitschrift Internationale Situationiste heraus (die Entstehung der Situationistischen Internationale wurde in diesem Blog bereits beschrieben). In dieser ersten Nummer erschien ein Artikel Guy Debords mit dem Titel Thesen über die kulturelle Revolution. Darin greift er Lefebvres Kritik aus Vers un romantisme révolutionnaire am klassizistischen Kunstbegriff auf. Im Rahmen des Klassizismus wird, so schreibt Debord, der Grad des ästhetischen Erfolgs „an einer Schönheit gemessen, die von der Dauer nicht zu trennen ist und sogar einen Anspruch auf Ewigkeit anstrebt.“ ([1], S. 25) Dieser auf „Ewigkeitswerte“ bedachten Kunst setzt Debord in den Thesen eine vergängliche Kunst entgegen, die auf das Hier und Jetzt, nicht auf die Ewigkeit zielt. Es geht nicht um Schaffung von Werken, sondern um die Konstruktion von Situationen, Momenten intensiver Erfahrung:

„Das Ziel der Situationisten ist die unmittelbare Beteiligung an einem Überfluß der Leidenschaften im Leben durch die Abwechslung vergänglicher, mit voller Absicht gestalteter Momente. Das Gelingen dieser Momente kann nur in ihrer vorübergehenden Wirkung bestehen.“ ([1] , S. 25f)

Damit nimmt Debord Lefebvres Kritik am Klassizismus auf, setzt sich aber zugleich in ein bestimmtes Spannungsverhältnis zu ihm. Beide sind sich in ihrer Kritik eines klassizistischen Kunstverständnisses zweifellos einig. Im Prinzip sind sie sich auch darüber einig, daß das, was an die Stelle einer derartigen Kunst treten soll, eine Form der Aufhebung von Kunst sein würde, und zwar einer Aufhebung im hegelschen Sinne: Gemeint ist damit das Setzen einer höheren Form, die nun nicht mehr (bloß) Kunst wäre, sondern etwas Höherwertiges. Ebenfalls einig sind sie sich auch noch darin, daß dieses Höherwertige gerade dadurch zum Ausdruck kommt, daß die Kunst, die bislang vom Alltäglichen geschieden war, genau in diesen Alltag eingreifen und ihn transformieren, ja revolutionieren soll.

Dennoch gibt es Differenzen. Debord endet seine Thesen mit der Aussage:

„Die praktische Aufgabe, unseren Zwiespalt mit der Welt – d. h. die Auflösung durch höhere Konstruktionen – zu überwinden, ist nicht romantisch; »Romantik-Revolutionäre« im Sinne Lefebvres werden wir gerade in dem Masse sein, in dem wir Misserfolg haben.“ ([1], S. 27)

Doch wo genau liegt die Differenz? Es ist ja keineswegs so, daß Lefebvre seinen „revolutionären Romantizismus“ auf die Kunst begrenzen wollte. Das Problem scheint also auf der Ebene zu liegen, wie die beiden sich die jeweilige konkrete praktische Umsetzung der verschiedenen Konzepte dachten. Genau diese Ebene aber bleibt, sowohl beim „revolutionären Romantizismus“ wie auch der „Konstruktion von Situationen“, reichlich schwammig.

Die wohl präziseste, aber immer noch völlig unzureichende Beschreibung, wie sich Lefebvre die Praxis des revolutionären Romantizismus vorstellt, entwickelt er auf den letzten Seiten seines Textes:

„Der neue Romantizismus (der revolutionäre) bestätigt das Primat des Möglich-Unmöglichen und ergreift diese Möglichkeit als das Wesen der Gegenwart. So hofft er den Abgrund zwischen dem partiellen Gelebten und einer totalen Gegenwart zu überschreiten. […] Er propagiert einen Lebensstil soweit dieser einem Kunststil gemäß der Inspiration durch den alten Romantizismus entspricht.
Der Wert des Künftigen und dessen Realisierung können nur das Ergebnis einer Periode des Abwartens und der Spannung sein, die in völliger Klarheit das Existierende ruhig und dauerhaft in Frage stellt. Der Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit, die Wahrheit der Illusion, die Authentizität der Lüge entgegenzustellen, wird, im Guten wie im Schlechten – eine romantische Haltung werden. Es ist so. Und es wird so während eines historischen Moments sein, wobei sich die Dauer eines historischen Moments nicht im voraus bestimmen läßt.“ ([2], S. 68)

So ist Lefebvres revolutionärer Romantizismus im Kern „ein Bewußtsein oder eine Haltung“ ([2] , S. 69), genauer: Ein (Lebens-)Stil. Debord ist dies offensichtlich zu wenig, wenn er Lefebvre vorwirft:

„Er verzichtet im voraus auf jedes Experiment einer tiefen kulturellen Veränderung, indem er sich mit einem Inhalt zufrieden gibt und zwar mit dem Bewusstsein des (immer noch allzu fernen) Möglich-Unmöglichen, das in irgendeiner, im Rahmen der Auflösung angenommenen Form, zum Ausdruck gebracht werden soll.“ ([1], S. 25)

Debord popagiert stattdessen den kompletten Bruch mit der Gegenwart:

„Alle Formen der Pseudokommunikation müssen bis zu ihrer äußersten Zerstörung geführt werden, damit man eines Tages eine wirkliche, unmittelbare Kommunikation erreicht […]. Diejenigen werden siegen, die es verstanden haben, die Unordnung zu schaffen, ohne sie zu lieben.“ ([1], S. 26)

Hier macht sich bereits in dieser ersten Nummer der Internationale Situationiste Debords Nihilismus bemerkbar, der ihn später jede künstlerische Strategie verwerfen läßt.

Doch noch ist die Situationistische Internationale ein Kollektiv politischer Künstler, nicht eine Sekte von Berufsrevolutionären unter der Führung von Guy Debord. Debords Stimme ist nur eine in einem ganzen Chor. Und es geht dieser Gruppe in ihren ersten Jahren um eine experimentelle Revolutionierung des Alltags – auch wenn Debord bereits damals die Grenzen dieses Projektes zu erkennen glaubt: „In der Welt der Auflösung können wir unsere Kräfte zwar ausprobieren,aber nicht gebrauchen.“ ([1], S. 27).

Zwar lassen sich also von Anfang an Differenzen erkennen – doch zunächst einmal kommt es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Lefebvre und den Situationisten, einer Zusammenarbeit, die beinahe fünf Jahre dauern wird. Und diese Zusammenarbeit gründet darin, daß beiden Seiten klar ist, daß einer wirkliche Revolution sich nicht mit der Änderung der Eigentumsverhältnisse begnügen kann. Dies ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung, wie das Beispiel der Sowjetunion gezeigt hatte. Vielmehr geht es bei einer wirklichen Revolution darum, die Strukturen des Alltags grundlegend zu verändern. Die Diskussionen in diesem knappen halben Jahrzehnt werden sich darum drehen, wie eine solche Veränderung überhaupt möglich ist und durch welche konkreten Aktivitäten sie befördert werden kann.

Für Lefebvre, der eben aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war, stellte der Kontakt zu den Situationisten (der von seiner damaligen Geliebten hergestellt wurde, die wiederum mit Michèle Bernstein befreundet war, die zum inneren Kreis der Situationisten gehörte) ein Glücksfall dar. Hier bot sich für ihn ein intellektueller Diskussionszusammenhang, in dem all die Fragen und Problemstellungen, die er innerhalb der kommunistischen Partei nicht aufwerfen durfte, thematisiert wurden. Wie er selbst in einem Interview sagte:

„Alles in allem war es eine Liebesgeschichte, die böse endete, sehr böse. Es gibt Liebesgeschichten, die gut beginnen und böse enden. Und das war eine davon.“ ([3])

Öffentlich wurde der Bruch im Jahr 1962 von Debord damit begründet, daß Lefebvre die Situationisten plagiiert habe, und zwar mit einigen Thesen über die Bedeutung der Pariser Kommune, die Lefebvre 1962 in der Zeitschrift Arguments veröffentlicht hatte. Tatsächlich sind die Parallelen, die zwischen dem Originaltext und Lefebvres Veröffentlichung bestehen, und die Debord in einem Flugblatt mit dem Titel „In die Mülleimer der Geschichte“ aufdeckte, vernichtend ([5]). Zumindest so lange, bis man weiß, daß Lefebvre Mitautor des ursprünglichen Textes war. Lefebvre hatte die Situationisten in sein Haus in den Pyrenäen eingeladen, wo sie lange und alkoholisiert über die Pariser Kommune diskutierten:

„Sie blieben mehrere Tage bei mir, und wir schrieben in Gemeinschaftsarbeit einen programmatischen Text. Am Ende der Woche, die sie in Navarrenx verbracht hatten, behielten sie den Text. Ich sagte ihnen: »Tippt ihr in ab« (er war handschriftlich) und danach klagten sie mich des Plagiats an. Das war wirklich eine böswillige Unterstellung.“ ([3])

Wahrscheinlich lag der Zorn Debords, der zu dieser Infamie Anlaß gab, weniger in der Veröffentlichung als solcher begründet, als vielmehr am Ort, an dem dieser Text erschienen war. Die Zeitschrift Arguments war ein Projekt von anderen Renegaten der Kommunistischen Partei – unter anderen Kostas Axelos .oder Serge Mallet. Die Zeitschrift stand kurz vor dem Ende und Debord hatte sich Hoffnungen gemacht, daß die Internationale Situationiste die Nachfolge antreten könnte. Doch der Kontakt zum Verleger, den Lefebvre hätte herstellen sollen, kam nicht zu Stande. Stattdessen publizierte Lefebvre sogar in der Zeitschrift – für den Paranoiker Debord ein klares Zeichen von „Verrat“, für den Lefebvre auf das Strengste bestraft werden mußte.

Doch selbst dies scheint mir nicht der eigentliche Grund gewesen zu sein. Letztlich beruhte dieser Bruch wohl auf einer fundamentale Richtungsänderung innerhalb der Situationistischen Gruppe. Die Art und Weise, wie dieser Bruch inszeniert wurde, dürfte wiederum darin gelegen haben, daß Debord einfach ein unerträgliches Arschloch war und seine ganz persönlichen Vorstellungen davon, was die Situationistische Internationale sein sollte und was nicht, mit einer abstoßenden Rücksichtslosigkeit durchsetzte. Und zu Beginn des Jahres 1962 säuberte er die Internationale von allen Resten ihrer künstlerisch-experimentellen Anfänge. Das Frühjahr 1962 verzeichnete 13 Ausschlüsse – was einer richtigen Säuberungswelle gleichkam, wenn man bedenkt, daß die Situationistische Internationale während der rund fünfzehn Jahre ihres Bestehens auf gerade einmal 69 Mitglieder kam (von denen im Laufe der Zeit insgesamt 45 ausgeschlossen wurden).

Doch die ersten Jahre, in denen Lefebvre mit den Situationisten zusammenarbeitete, waren einige der produktivsten seines nicht gerade unproduktiven Lebens. Die nächsten Folgen dieses Blogs werden einige der Themen und Theorien aus diesem Zeitraum genauer beleuchten. Freuen Sie sich also nächste Woche darauf, wenn die Situationisten meinen:

„In dem von Henri Lefebvre dargelegten PROGRAMMATISCHEN Denken bezieht sich die Theorie der Momente […] unmittelbar auf die Probleme der Schaffung des alltäglichen Lebens. In welchem Verhältnis stehen diese »Momente« zu den Situationen, die die S.I. zu definieren und zu konstruieren vorhat?“ ([4], S. 125)

Literaturverzeichnis

[1] Debord, G.: „Thesen über die kulturelle Revolution“, in: Situationistische Internationale (Hg.), Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale Band 1, Hamburg 1976, S. 25 – 27.

[2] Lefebvre, H., Vers un romantisme révolutionnaire, o.O. (nouvelles éditions lignes) 2011.

[3] Ross, K.: „Interview mit Henri Lefebvre (Original in October 79, Winter 1997)“, URL: http://www.notbored.org/lefebvre-interview.html, abgerufen am 15. April 2012.

[4] Situationistische Internationale: „Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen“, in: Situationistische Internationale (Hg.), Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale Band 1, Hamburg 1976, S. 125 – 127.

[5] Zentralrat der Situationistischen Internationale: „In die Mülleimer der Geschichte!“, in: Situationistische Internationale (Hg.), Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale Band 2, Hamburg 1977, S. 454 – 460.

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18. Mai 2012 at 11:34

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Ein romantischer Revolutionär

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Der neue Romantizismus wahrt beides zugleich: Die Klarheit der Kritik, den Gebrauch der Begriffe wie auch die Phantasie, den Traum als Untersuchung des Möglichen.“

Henri Lefebvre, Vers un romantisme révolutionnaire (1957)

1958 erhält Lefebvre eine Vorladung der Zentralen Politische Kontrollkommission der Kommunistischen Partei.

„Ich hatte am Anfang verlangt, daß eine Verhandlungsniederschrift angefertigt und dreifach unterschrieben würde. Abgelehnt: Die Genossen waren nicht berechtigt, ein solches Papier zu unterzeichnen. Sie hatten mit mir keine Grundsatzdiskussionen zu führen, auch keine politischen Erklärungen zu Protokoll zu nehmen, sondern mich ausschließlich über mein »Verhalten« zu befragen, das heißt, mir disziplinarische Fragen zu stellen, die ich mit Ja oder Nein zu beantworten hatte. »Hast Du die Erlaubnis der Partei eingeholt, um im L’Express einen Artikel über die Nouvelle Vague zu schreiben?… – Nein. – Hast Du die Erlaubnis der Partei eingeholt, um eine Antwort auf André Philipp im France-Obvervateur zu schreiben?… – Nein…« Die zwei Genossen notierten sorgfältig die Antworten. Sie wußten dennoch, worauf alles hinauslief. Ihre Meinung stand von vornherein fest. Wozu also dieses Schauspiel einer Befragung? Weil das überhaupt kein Schauspiel war. Es ging um einen politischen Akt, der klarmachte, daß die Partei – deren Führung – die Betonung auf formelle Disziplin legte. Unter den gegebenen Umständen, angesichts der großen Kämpfe, die sich anzeigten, etc…, etc…Ich wurde also nicht ausgeschlossen, weil ich dieses oder jenes denke, auch nicht, daß ich es geschrieben oder gesagt habe, sondern weil ich es ohne Erlaubnis der Partei gesagt und geschrieben habe. Oh, die Feinheiten, die plumpen Tricks des politischen Lebens…“ ([3], S. 156)

Was also genau die Partei Lefebvre vorzuwerfen hatte, bleibt im Dunkeln. Sicherlich war es nicht nur die Veröffentlichung von Problèmes actuels du Marxisme und die Kritik des Stalinismus in der Philosophie. Das Feld der Auseinandersetzung, das Lefebvre in den Jahren seit Stalins Tod eröffnet hatte, wies weit über die Erörterungen systematischer marxistischer Grundsatzfragen in Problèmes actuels du Marxisme hinaus. Ganz entscheidend – vor allem für das, was in den nächsten Jahren kommen sollte – waren seine ästhetischen Überlegungen.

1953 war Contribution à l’esthetique (Beiträge zur Ästhetik) erschienen, das auf Aufsätzen aus dem Jahr 1949 beruhte. Dieses Buch litt noch an der Rücksichtnahme auf die stalinistische Doktrin, weshalb es von Lefebvre später mit einem „sehr, sehr kranken Kind“ ([3], S. 196) verglichen wurde. Um es überhaupt durch die Parteizensur zu bekommen, stellte er dem Bändchen ein Zitat von Schdanow voran, um seine Linientreue zu beweisen. Und um diese Unterwerfung zu konterkarieren, stellte er diesem Schdanow-Zitat wiederum ein Marx-Zitat voran: „Die Kunst ist die größte Freude, die sich die Menschheit selbst bereitet“. Dieses Marx-Zitat hatte nur den einen Schönheitsfehler, daß es von Lefebvre frei erfunden war – was den stalinistischen Wächtern der Doktrin natürlich nicht auffiel. Als der Schwindel drei Jahre später aufgedeckt wurde, brachte dies Lefebvre eine einjährige Suspendierung seiner Parteimitgliedschaft ein ([2], S. 129). Vorher war das Buch allerdings ein triumphaler Erfolg. Es wurde in zwanzig Sprachen übersetzt, darunter auch ins Russische und sogar ins Deutsche – was es zur ersten (und letzten) Lefebvre-Publikation in der DDR machte.

Nach dem XX. Parteitag und der Niederschlagung des Ungarischen Aufstands warf Lefebvre in dieser Hinsicht alle Rücksichtnahmen über Bord. 1957 veröffentlichte er in der Nouvelle Revue Française einen Aufsatz mit dem Titel Einem revolutionären Romantizismus entgegen (Vers un romanticisme revolutionaire). In diesem Aufsatz griff Lefebvre nicht nur den Stalinismus auf der Ebene der Kunst an, sondern er stellte zugleich die Weichen für ein neuartiges politisches Projekt, das jenseits der Kommunistischen Partei angesiedelt war.

Schon die positive Bezugnahme auf die Romantik war natürlich ein Affront. War nicht die Romantik eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Bewegung? In diesem ersten Text zum revolutionären Romantizismus, den er noch als Parteimitglied verfaßt, ist Lefebvre zumindest bereit, das teilweise zuzugeben. Hier unterscheidet er noch zwischen der reaktionären deutschen Romantik und der französischen Romantik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die französische Romantik von der Revolution von 1948 sei eine progressive Reaktion auf die nicht eingelösten Versprechen der Revolution von 1789 gewesen:

„Die deutsche Romantik gründet sich auf ein implizites Postulat: Der Revolution auszuweichen (der bürgerlich-demokratischen); faktisch die deutschen bürgerlichen Gesellschaft zu akzeptieren […].
Die französische romantische Bewegung zieht im Gegensatz dazu ästhetische Konsequenzen aus der französischen Revolution. Sie assimiliert sie langsam, anspruchsvoll, auf der Ebene der Kunst. Wenn die französische Romantik die Philister verachtet, wenn sie die bürgerliche Gesellschaft und die Bürger zurückweist, dann im Namen der Revolution und der Demokratie.“ ([4], S. 20)

Erst für die Zeit nach der – erneut gescheiterteten – Revolution von 1848 sieht Lefebvre auch einen Niedergang der französischen Romantik. Hier erstreckt sich für ihn eine Linie über Baudelaire und Rimbaud bis hin zu den Surrealisten:

„Die Niederlage der Revolution (in deren Verlauf das Proletariat die Bühne betritt), der bald schon die Niederlage der Commune folgt, markiert den Beginn einer anderen Periode. Wann endet sie? In unserer Zeit. Der Surrealismus, ebenso wie der Symbolismus, stellten Folgen, Etappen der Degenerierung des alten »Romantizismus« dar.“ (, S. 43)

Dennoch gilt es für Lefebvre das romantische Projekt wieder aufzunehmen, im Sinne des ursprünglichen französischen Romantizismus, dabei aber über diesen hinauszugehen. Doch bevor wir uns näher die Differenz zwischen dem alten und dem neuen revolutionären Romantizismus anschauen, müssen wir uns zunächst einmal dem ästhetischen Widerpart der Romantik zuwenden, dem Klassizismus.

Das ästhetische Ideal des Klassizismus ist das in sich stimmige, wohlgerundete Werk, in dem die Gegensätze versöhnt sind:

„Die kritische Kenntnis der Geschichte und die Geschichte der Kunst zeigen, daß der Klassizismus eine vielfache Harmonie voraussetzt: Zwischen den Individuen und den gesellschaftlichen Gruppen – zwischen den Repräsentationen (den Ideen und Ideologien) und dem Gelebten – zwischen den Institutionen und der gesellschaftlichen Struktur.“ ([4], S. 33)

Wo dieser Zusammenklang des Entgegengesetzten de facto nicht existiert, scheitert auch die klassizistische Kunst:

„Je weniger real die Harmonie ist, desto nichtiger und steriler werden die Anstrengungen des Klassizismus.“ ([4], S. 33)

Und jetzt, 1957, ist Lefebvre auch bereit, den sozialistischen Realismus in diese Kritik des Klassizismus mit einzubeziehen. Wobei er – als Immer-noch-Parteimitglied – seine Kritik noch auf der immanent-ästhetischen Ebene beläßt („Der sozialistische Realismus hat sich mit dem Neoklassizismus in einer Systematik verbündet, die von jeglicher ernstzunehmender Ausarbeitung frei ist“ ([4], S. 38)). Einige Jahre später wird er auch politisch Tacheles reden:

„Jede etablierte Ordnung, gleichgültig, ob aus einer Revolution oder Restauration hervorgegangen, strebt nach einem Klassizismus, der sie rechtfertigt. […] Der Stalinismus beschloß nicht eines Morgens, das Ende der romantischen Periode zu verkünden. Keiner traf irgendwann die klare Entscheidung, daß fortan vom Romantizismus zum Neo-Klassizismus oder von der revolutionären Kritik zur dogmatischen Ideologie überzugehen sei. Das ging, waren einmal die besonderen Voraussetzungen erfüllt, ganz allmählich, stillschweigend vonstatten.“ ([5], S. 271)

Gegen die falsche Harmonie des Klassizismus setzt die Romantik die individuelle Empörung. Diese individuelle Empörung ist aber keineswegs individualistisch, denn sie gründet in den allgemeinen gesellschaftlichen Widersprüchen, gestaltet diese, indem sie ihnen das Bild eines anderen, reicheren individuellen Lebens entgegensetzt, indem sie Bilder, Symbole für das Andere findet, das der Gegenwart fehlt. Während der Klassizismus keinen historischen Horizont, keinen Willen zur Überschreitung des Gegenwärtigen kennt, ist dies der Wesenskern der Romantik. In der Terminologie Lefebvres: Der Klassizismus beschränkt sich auf das Möglich-Mögliche, die Romantik hingegen zielt auf das Möglich-Unmögliche, ein erst noch herzustellendes Unmögliches, dessen Notwendigkeit sich aus den Widersprüchen der Gegenwart ergibt. ([4], S. 66f)

Die Romantik hat also einen völlig anderen Zeithorizont als der Klassizismus. Die Gegenwart verändert sich für den romantischen Blick, indem dieser einen Standpunkt außerhalb dieser Gegenwart einzunehmen gezwungen ist. Doch welches dieser Standpunkt ist, unterscheidet die Romantik des 19. Jahrhunderts fundamental von Lefebvres revolutionärem Romantizismus. Während der alte Romantizimus sich in der Vergangenheit situiert, um der Gegenwart den Spiegel vorzuhalten, soll der revolutionäre die Gegenwart vom Standpunkt der Zukunft aus kritisieren, vom Standpunkt der noch nicht realisierten Möglichkeiten der Gegenwart. ([4], S. 58ff)

Daß den stalinistischen Dogmatikern ein derartiger Romantizismus ein Dorn im Auge sein mußte, versteht sich von selbst. Der Ausschluß – siehe oben – war nur noch eine Formalität. Doch wo sollte Lefebvre die revolutionären Romantiker finden, mit denen dieses Projekt zu verwirklichen war?

Das schien erst einmal gar nicht so schwer. Nur einen Monat, nachdem Lefebvres Aufsatz erschienen war, bezog sich eine von jungen Künstlern/Revolutionären neu gegründete Zeitschrift auf seinen Text. Freuen Sie sich also nächste Woche darauf, wenn Guy Debord in der ersten Nummer der Internationale Situationiste schreibt:

„Die kommunistische Revolution ist immer noch nicht gemacht worden und wir leben immer noch im Rahmen des sich auflösenden alten kulturellen Überbaus. Henri Lefebvre hat richtig eingesehen, dass dieser Widerspruch im Mittelpunkt eines spezifisch modernen Zwiespalts zwischen dem fortschrittlichen Individuum und der Welt steht und er hält eine Tendenz für “romantisch-revolutionär”, die auf diesem Zwiespalt fußt.“ ([1], S. 25)

Literaturverzeichnis

[1] Debord, G.: „Thesen über die kulturelle Revolution“, in: Situationistische Internationale (Hg.), Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale Band 1, Hamburg 1976.

[2] Hess, R., Henri Lefebvre et l’aventure du siècle, Paris 1988.

[3] Lefebvre, H., La Somme et le reste, Paris 1959.

[4] Lefebvre, H., Vers un romantisme révolutionnaire, o.O. (nouvelles éditions lignes) 2011.

[5] Lefebvre, H.: „Einer neuen Romantik entgegen?“, in: Lefebvre, H., Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt a.M. 1978.

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11. Mai 2012 at 11:00

Veröffentlicht in Henri Lefebvre

Probleme des Marxismus, damals

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„Die offiziellen »Marxisten« haben den Impuls, den revolutionären Geist und das umstürzlerische Wesen des Marxismus verraten.“

Henri Lefebvre, Probleme des Marxismus, heute, 1957

Das Jahr 1956 war das Schicksalsjahr der kommunistischen Bewegung – das Jahr in dem sie, zumindest bei den Intellektuellen, endgültig ihren Kredit verspielte. Dabei hatte es so gut begonnen: Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag, in der er die Verbrechen Stalins anprangerte, gab zu der Hoffnung Anlaß, daß nun endlich eine wahrhaftige Auseinandersetzung darüber stattfinden könne, welche Fehler die kommunistische Bewegung seit der Oktoberrevolution gemacht hatte. Doch schon der Eiertanz um diese Rede, die zuerst von westlichen Medien publiziert wurde und deren Authentizität keineswegs allgemein anerkannt wurde, hätte deutlich machen können, daß man die Hoffnungen nicht allzu hoch hängen durfte.

Zunächst jedoch sahen all diejenigen in den kommunistischen Parteien, die sich wider besseres Wissen über Jahre hinweg zähneknirschend der Parteiraison gefügt hatten, ihre Chance. Wann, wenn nicht jetzt, war der Zeitpunkt gekommen, die kommunistische Bewegung zu ihren ursprünglichen Zielen zurückzuführen und nicht mehr als verlängerter Arm der sowjetrussischen Außenpolitik zu agieren.

Die ersten, die das Signal aus Moskau derart interpretierten, waren die polnischen Kommunisten, die noch aus Zeiten des 2. Weltkriegs nicht allzu gut auf die sowjetrussische Führung zu sprechen waren. Sie machten, gegen den Willen Chruschtschows, den wenige Jahre zuvor nur knapp einem Schauprozeß entronnenen Władysław Gomułka zum Parteichef. Die Ernennung des als Reformer geltenden Gomułka stieß zunächst auf Widerstand in Moskau, wurde dann aber widerwillig akzeptiert.

Aus dieser Nachgiebigkeit wiederum leiteten die ungarischen Kommunisten die Hoffnung ab, in ihrem eigenen Land souverän agieren zu können. Welch ein Irrtum: Die Proklamation der ungarischen Unabhängigkeit durch den Reformkommunisten Imre Nagy wurde von der UdSSR mit einem Einmarsch von Panzertruppen blutig niedergeschlagen. Damit hatte sich der Kommunismus Moskauer Prägung – zumindest bei den Intellektuellen – endgültig ins Aus manövriert. Diejenigen, die sich in den 20er Jahren aus Enthusiasmus angeschlossen hatten oder in den 30er und 40er Jahren angesichts der faschistischen Bedrohung im Stalinismus das kleinere Übel sehen wollten, wandten sich, wenn sie das nicht längst getan hatten, nun größtenteils angewidert ab. Selbst Sartre, der sich wahrscheinlich als letzter namhafter Intellektueller zum nützlichen Idioten Moskaus machen ließ, entzog dem Regime nun seine Unterstützung.

Wie reagierte in dieser Situation Henri Lefebvre, der nun schon seit beinahe dreißig Jahren ein braver Parteisoldat war? Er machte einen letzten verzweifelten Versuch, innerhalb der kommunistischen Partei Frankreichs eine Erneuerung anzustoßen. Er schreibt Problèmes actuels du Marxisme, das auf Deutsch unter dem poetischeren Titel Probleme des Marxismus, heute erscheinen wird.

Darin konstatiert Levebvre eine fundamentale Krise des marxistischen Denkens, das aber von den Stalinisten hartnäckig geleugnet werde. Und er ist der festen Überzeugung, daß nur die Anerkennung dieser Krise und die Rückkehr zu einem Denken, das in der Tradition von Marx, Engels und Lenin stehe, aus dieser herausführe (wobei der Hinweis auf Engels und Lenin eher als ein taktisches Lippenbekenntnis gewertet werden sollte; die zwei Kapitel des Buches, die er diesen beiden „Klassikern“ widmet, sind extrem kurz und lustlos, insbesondere das über Engels).

Das eigentliche Problem des marxistischen Denkens wird von Lefebvre als dessen Dogmatismus identifiziert. Das philosophische Verbrechen Stalins und seiner Schergen – das zu den ganzen anderen Verbrechen noch hinzukommt – ist die Behauptung, mit dem historischen und dialektischen Materialismus seien prinzipiell alle philosophischen Probleme gelöst. Lefebvre widerspricht vehement:

„Der Materialismus tritt an die Wirklichkeit mit einer Problematik heran. Nur der Dogmatismus, Ausdruck eines vulgarisierten und schematisierten Denkens, übergeht die Probleme, weil er sie für endgültig gelöst hält.“ ([2], S. 20)

Schlimmer aber noch als dieser Schematismus ist, daß er sich im stalinistischen Denken mit einer vollkommenen Willkür paart, die sich das Mäntelchen eines Kampfes gegen den Dogmatismus umhängt. Deshalb wird er von Lefebvre „Ultradogmatismus“ genannt, ein Dogmatismus, „der imstande ist, seinen eigenen Dogmatismus zu leugnen,um ihn besser durchsetzen zu können, indem er rituelle »Diskussionen« ohne wirkliche Tragweite organisiert.“ ([2], S. 35)

Ursache dieses „Ultradogmatismus“ ist die Unterwerfung der marxistischen Theorie unter die Bedürfnisse der Praxis – nicht in dem Sinne von Marx, daß das Denken, das Bewußtsein nur im Rahmen der gesellschaftlichen Praxis zu begreifen ist, sondern in dem Sinne, daß die Theorie opportunistisch den je aktuellen Erfordernissen der Staatraison angepaßt wird:

„In der Tat hat Stalin niemals aufgehört, sich gewissen Konsequenzen seiner eigenen Verhaltensweisen zu widersetzen; er zögerte nicht, die dümmsten und kompromittierendsten »Stalinisten« zu opfern. Er spottete über jene, die ihn in jeder Zeile zitierten, während man ihn in jeder Zeile zitieren mußte, um auch nur den bescheidensten Artikel veröffentlichen zu können.“ ([2], S. 31)

Nimmt man den „philosophischen“ Teil dieses Dogmatismus und Willkür vereinigenden „Ultradogmatismus“, dann reduziert sich dieser im Kern auf die berüchtigte „Widerspiegelungstheorie“ des Bewußtseins. Aufmerksame Leserinnen dieses blogs werden sich erinnern, daß auch die jugoslawische Praxisgruppe bei ihrer Kritik des philosophischen Stalinismus an dieser Widerspiegelungstheorie angesetzt hatte. Die jugoslawische Diskussion in Bled 1960 lief analog zu Lefebvres Argumentation in Problèmes actuels du Marxisme. Lefebvre kritisiert, wie die jugoslawischen Philosophen, die abstrakte Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus, die völlige Verkennung des deutschen Idealismus und seiner Bedeutung für die Marxsche Theorie. Er zitiert zum Beleg die Große Sowjetenzyklopädie, die sich mit folgender Behauptung lächerlich machte (der Unsinn wurde dann in der DDR der 50er Jahre tatsächlich übersetzt und nachgedruckt):

„Die idealistische deutsche Philosophie der Jahre vor und nach 1800, die in der Philosophie Hegels gipfelte, war eine aristokratische Reaktion auf die französische bürgerliche Revolution und den französischen Materialismus.“ (zit. nach [2], S. 34)

Dagegen setzt Lefebvre Marx‘ erste Feuerbachthese, in der es heißt:

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus […] ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus […] entwickelt.“ ([3], S. 5)

Und Lefebvre kommentiert dies:

„Die lange Tradition der idealistischen Philosophie ist also nicht zu verwerfen. Ganz im Gegenteil. In ihr findet sich der abstrakte – aber in gewissem Grad gültige – Ausdruck der schöpferischen Tätigkeit der Menschen.“ ([2], S. 48)

Lefebvre widerspricht damit der abstrakten Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus, wie sie die stalinistische Philosophie praktiziert. Die Kategorien des Marxschen Denkens sind nicht dem Nichts, sondern dem geschichtlichen Gang des menschlichen Denkens entsprungen. Lefebvre zählt eine Reihe von Kategorien auf, die, wie etwa die der „Entfremdung“, aus der idealistischen Tradition stammen, und bemerkt:

„Marx hat jeden dieser Begriffe in kritischer Weise wiederaufgenommen; denn bei ihm ist die Philosophie beständig von einer Kritik der Philosophie begleitet.“ ([2], S. 72)

Die Möglichkeit dieser Kritik gründet darin, daß die philosophischen (ebenso wie die ökonomischen) Kategorien Ausdruck historischer Praxis sind. Einerseits reflektieren sie diese Praxis, und zwar gleichgültig, ob sie der materialistischen oder idealistischen Tradition entspringen. Andererseits aber verfehlen sie diese auch immer, denn Bewußtsein und Wirklichkeit sind niemals deckungsgleich:

„Das Handeln der Menschen ist zumeist ein Tasten; sie werden von den Konsequenzen ihrer Akte verfolgt, nachgeschleift, überflügelt; in jedem Augenblick stehen so die Individuen und Gruppen vor Resultaten, die sie nicht gewollt haben. Jedoch ereignet und vollzieht sich alles vermittels und durch Bewußtsein, Willensakte und Ideen.“ ([2], S. 80)

Keine menschliche Praxis ohne Bewußtsein, aber die Praxis ist reichhaltiger als das Bewußtsein, das die Menschen von ihr haben. Gleichzeitig beinhaltet das Bewußtsein ebenfalls mehr als nur die Wahrnehmung der Erscheinungen der äußeren Welt. Äußere Welt und Bewußtsein sind also keineswegs deckungsgleich. Dieser fundamentale Widerspruch begründet für Lefebvre die Möglichkeit und Notwendigkeit der Dialektik: Weil Bewußtsein und äußere Realität gegeneinander verschoben sind, kommt es zu Widersprüchen zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit und in der Folge auch zu Widersprüchen innerhalb des Bewußtseins. Erkenntnis kann deshalb nie heißen, feste Kategorien auf die Erfahrung anzuwenden, sondern es muß immer darum gehen, die Widersprüche des Bewußtseins in Bezug zur gesellschaftlichen Praxis zu setzen:

„Die absolute Objektivität der Dialektik, wie sie vom dialektischen Materialismus notwendig postuliert wird, muß es sich als philosophische These gefallen lassen, immer wieder in Frage gestellt zu werden.“ ([2], S. 128)

Der eigentliche Witz dieser Auffassung von Dialektik (die von Ferne an die Dialektik in der Hegelschen Phänomenologie des Geistes erinnert) besteht darin, daß für Lefebvre diese dialektische Bewegung niemals abgeschlossen ist. Sie setzt in jeder historischen Situation von neuem ein, eben weil die menschliche Praxis reicher ist als das menschliche Bewußtsein darüber. Damit grenzt er sich vehement von Hegel ab:

„Die Bildung der universellen Begriffe […] folgte keiner inneren und kontinuierlichen Bewegung, wie Hegel dachte. Sie folgte einer ungleichmäßigen, diskontinuierlichen Bewegung mit »Blockierungen«, Aufenthalten und Sprüngen, ohne daß man sie auf die allgemeine Geschichte oder die Wirtschaftsgeschichte reduzieren könnte.“ ([2], S. 125)

Das aber heißt, daß genuin marxistisches Denken nicht als System zu haben ist. Es muß grundsätzlich offen sein für neue historische Erfahrungen, die sein Kategoriensystem in Frage stellen. Damit wirft Lefebvre natürlich dem offiziellen Marxismus den Fehdehandschuh hin. Denn dieser Marxismus begreift sich als philosophisches System,

„und zwar ein geschlossenes System. […] Er analysiert nicht das menschliche Bewußtsein an sich, um zu ermitteln, ob es nicht eine konkrete Funktion der Voraussicht, des Vorwegnehmens, der Antizipation hat; er studiert weder die Imagination und Vorstellung noch den Traum. […] Er studiert nicht die Utopien und ihre geschichtlichen Bedingungen. Er interessiert sich hier nicht für die sehr wichtige philosophische Kategorie des Möglichen, für seine Beziehungen zum Wirklichen und Vernünftigen.“ ([2], S. 118)

Diese Generalabrechnung mit dem Marxismus als System kam in der Partei nicht besonders gut an. Lesen Sie deshalb auch nächste Woche weiter, wenn Henri Lefebvre schreibt:

„Während der »historischen Tage« des Mai und Juni 1958 wartete ich auf meinen Ausschluß aus der KPF. Die Entscheidung war bereits gefallen, ich wußte es.“ ([1], S. 155)

Literaturverzeichnis

[1] Lefebvre, H., La Somme et le reste, Paris 1959.

[2] Lefebvre, H., Probleme des Marxismus, heute, Frankfurt a.M. 1965.

[3] Marx, K.: „Thesen über Feuerbach“, in: Marx, K. & Engels, F., Werke Bd. 3, Berlin 1956ff.

Written by alterbolschewik

4. Mai 2012 at 11:00

Veröffentlicht in Henri Lefebvre