shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

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Öffentlichkeit und Filterblasen (4)

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„Nicht wenige studierten Maos Zitatensammlung, das »Rote Buch«, wie sich einst ihre Eltern in die Heilige Schrift vertieft hatten.“

Detlef Michel, Maos Sonne über Mönchengladbach

Die in der letzten Woche geäußerte Kritik, bestimmte Formen des aktuellen Feminismus (oder auch Antirassismus) zeichneten sich vor allem durch Merkmale aus, die an fundamentalistische Sekten erinnern, war kein rhetorischer Trick, um sich den Inhalten nicht stellen zu müssen. Auf die Inhalte wird in zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Serie noch einzugehen sein. Doch unabhängig von spezifischen Inhalten geht es mir ganz bewußt um die Form politischen Sektierertums. Es ist nämlich keineswegs so, daß es sich beim politischen Sektierertum einfach nur um eine besonders überspitzte und dadurch von der Realität abgekoppelte Übersteigerung von im Prinzip richtigen Einsichten handeln würde. Diesem Irrtum sitzen diejenigen auf, die meinen, sektiererische Politik wäre nicht qualitativ, sondern nur graduell von vernünftigeren Formen politischen Agierens unterschieden und deshalb prinzipiell rationaler Diskussion zugänglich. Die heutige und die nächste Folge werden zu zeigen versuchen, daß es sich bei sektiererischer Politik keineswegs bloß um eine Zuspitzung eigentlich vernünftiger politischer Inhalte handelt, sondern daß diese Form politischen Handelns eine völlig andere Qualität hat.

Um die Form völlig getrennt von den Inhalten analysieren zu können, springe ich deshalb historisch wieder drei Jahrzehnte zurück, zu den K-Gruppen der ersten Hälfte der 70er Jahre. Die Absurdität der Inhalte ist mit dem gehörigen historischen Abstand offensichtlich. Eine revolutionäre Umgestaltung der Bundesrepublik durch Aufbau einer marxistisch-leninistischen Kader-Partei kann heute ohne Gefahr als kompletter Blödsinn abgetan werden. Mit dem „Inhalt“ müssen wir uns also nur insofern beschäftigen, als dieser „Inhalt“ scheinbar gewisse Überschneidungen mit einigen Grundannahmen aufwies, die damals auch von einer deutlich größeren Anzahl von Menschen geteilt wurden: Das mehr oder weniger unorganisierte Chaos der antiautoritären Bewegungen der 60er Jahre war zu Beginn der 70er Jahre als politisches Modell in eine Sackgasse geraten; doch die von den Bewegungen aufgeworfene Frage nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung wurde damals von einer durchaus breiten Öffentlichkeit zumindest für diskutabel gehalten. Es lief also alles darauf hinaus, eine Organisationsform zu finden, die diesem Bedürfnis gesellschaftlicher Umgestaltung Rechnung trug. Und es hieße die politische Reife der Bewegungen zu überschätzen, wenn man gehofft hätte, das leninistische Partei-Modell wäre dabei nicht in seinem Für und Wider erwogen worden.

Die Frage ist nur: War die Gründung der K-Gruppen das wohlüberlegte Resultat einer halbwegs rationalen Debatte? Nun, das hängt ein bißchen von der jeweiligen K-Gruppe ab. Während beispielsweise die KPD/ML mehr oder minder diskussionslos ins Leben trat, ging der Gründung des KBW tatsächlich eine halbwegs offene Debatte voraus. Ein kritisches KBW-Mitglied, das diesen später eben wegen der internen Sektenstrukturen verließ, bemerkte später:

„Wir kannten die theoretischen Publikationen der KBW-Vorläufer und fanden die Bestrebungen unterstützenswert, daß sich linke Gruppen mit ähnlichen Vorstellungen einigen wollten, ohne gleich mit dem Anspruch aufzutreten, die Partei zu sein.
Die Sammlungsbewegung für eine später eventuell zu gründende kommunistische Partei schien eine offene Diskussion politischer Anschauungen zu garantieren und auch die Möglichkeit, eigene Vorstellungen einzubringen und umzusetzen.“ ([1], S. 50)

Doch das war eine Illusion. Auch im KBW waren die selben Mechanismen wirksam wie in den anderen K-Gruppen:

„Wir hatten von Anfang an zum KBW ein kritisches, mehr praktisch-instrumentales Verhältnis. Dennoch ist es interessant im Nachhinein festzustellen, wie weit wir von der Organisation vereinnahmt worden sind, wie weit wir trotz kritischer Distanz ein Stück Identifikation entwickelt und ihre Verhaltensvorschriften übernommen haben. Sonst hätten wir kaum Sachen mitgemacht, die uns heute unsinnig erscheinen, weil sie schlicht uneffektiv und nutzlos sind für die Entwicklung einer sozialistischen Bewegung.“ ([1], S. 51)

Derartige Organisationen entwickeln fast naturwüchsig eine Dynamik, die Menschen dazu bringt, auch noch den größten Unsinn mitzumachen und offensiv zu verteidigen. Was aber sind die Mechanismen, die dieser Identifikation zu Grunde liegen?

Zum einen ist das das Filterblasen-Phänomen, das bereits in der ersten Folge dieser Serie als wichtiges Moment für die Ideologie der K-Gruppen angeführt wurde. Wir können jetzt ins Detail gehen und diese Filterblase genauer beschreiben. Typisch für die Existenz in einer Filterblase ist ja, daß man die Wirklichkeit außerhalb der Blase überhaupt nicht wahrnimmt oder noch schlimmer, gar nicht wahrnehmen will:

„Viele Genossen lasen kaum etwas außer den eigenen Publikationen, den »Klassikern des ML« und der fürs Studium absolut unentbehrlichen Literatur. Wenn sie sich einmal anders bildeten, lasen sie »proletarische Romane« aus der Weimarer Zeit, sahen sich aufbauende Filme aus der VR-China oder ähnliches an. […] Dieses ständige Eingeschlossenbleiben im keimfreien Milieu des von der ML-Ideologie desinfizierten Dunstkreises der Organisation trug wesentlich bei der Herausbildung eines Sprachcodes, der mit seinen Begriffen, seinen apodiktischen Kategorien gar nicht mehr zuließ, differenzierte Fragen zu stellen bzw. Erklärungen realer Probleme zu suchen.“ ([1], S. 56)

Sprache verliert hier ihre eigentliche Funktion, nämlich die, Mittel der Kommunikation zu sein. Statt die Sprache zu nutzen, um damit auf andere zuzugehen, Barrieren zu überwinden, wird sie zu einem Mittel der Abschottung. Bereits im letzten Beitrag wurde erwähnt, daß bestimmte Fraktionen des Queer-Feminismus einen ganz eigenen Jargon ausgebrütet haben, mit dessen Hilfe die Gruppenzugehörigkeit definiert wird. Beim KBW war das nicht viel anders:

„Eine wichtige Funktion bei der Abkapselung der Mitglieder des KBW von der Umwelt, von Kontakten und Beziehungen mit anderen Menschen hatte die Organisations­sprache. Man mußte eine bestimmte Sprache sprechen, gewisse Worte, Kürzel und Redewendungen benutzen. Der Sprachcode wurde oben festgelegt: die zentralen Publikationen (Zeitung, Broschüren und Erlasse der Leitung) waren in einem Sprachstil gehalten, der zwar einzelnen Personen der Führung zuzuordnen ist und deren Art des persönlichen Ausdrucks sein mag, sich aber doch unverkennbar an »geheiligten Vorbildern« orientiert, etwa an Lenin oder am katastrophalen Deutsch der Peking Rundschau.“ ([1], S. 54f)

Diese Verkehrung der Funktion von Sprache erklärt, warum das politische Sektenunwesen nicht einfach eine wenn auch zugespitzte, so doch lineare Fortsetzung eines allgemeinen politischen Diskurses ist. Vordergründig sieht es vielleicht so aus, als würden Dinge verhandelt, die auch außerhalb der Filterblase ein Thema sind. Doch dem ist nicht so. Es ist ein fataler Irrtum, wenn man den Jargon einfach nur bekloppt findet, sich ein bißchen darüber lustig macht und dennoch glaubt, man könne über die scheinbar angesprochenen Sachverhalte hinter dem Jargon eine tatsächliche rationale Diskussion führen. Denn die Worte haben im Sektenjargon ihre bezeichnende Funktion verloren. Sie bilden ein System der diskursiven Abgrenzung, kein Angebot, sich über Sachverhalte zu unterhalten oder gar zu streiten. In politischen Sekten wird Sprache funktional, sie dient der Abkapselung nach außen und der Identitätsbildung nach innen.

Doch warum ist diese Abkapselung für die Sekte so wichtig, daß sie die kommunikative Funktion von Sprache bewußt oder unbewußt sabotiert? Der Grund ist erschreckend und erschreckend einfach: Nur diese Zerstörung von Kommunikation erlaubt es, die einzelnen Sektenmitglieder dauerhaft an die Gruppe zu binden. Wie bei religiösen Sekten geht es darum, die Individuen von ihrer normalen Umgebung zu entfremden, sie zu isolieren und dadurch in eine Abhängigkeit zu bringen, die in bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Gruppe mündet. Nächste Woche werde ich noch einmal am Beispiel der K-Gruppen zeigen, wie genau dieser Mechanismus funktioniert.

Seien Sie also gespannt auf die erschütternde Beichte eines ehemaligen KPD/AO-Funktionärs:

„Ich gehörte zur »stählernen Vorhut des Proletariats«. Umso erbärmlicher war mein Verhalten meiner Frau und meinem Sohn gegenüber. Szenen, in denen mir mein Sohn hinterherlief, »Papa, Papa hierbleiben« brüllte, ich aber »tapfer« zu meinem Termin trabte, waren fürchterlich. Natürlich rannte ich auch vor meinen Familienproblemen in den Schoß der Partei.“ ([1], S. 28)

Nachweise

[1] Autorenkollektiv, Wir warn die stärkste der Partein… Erfahrungsberichte aus der Welt der K-Gruppen, Berlin 1977.

Written by alterbolschewik

28. Juni 2013 at 14:10

Was tun mit Kommunismus? (2)

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„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“

Adorno, Minima Moralia

1931 behauptete Bertolt Brecht vom Kommunismus: „Er ist das Einfache / Das schwer zu machen ist.“ ([9], S. 463). Leider war das Ganze offensichtlich doch nicht so einfach, denn im Prinzip hatten die deutschen Kommunisten zumindest im Osten die größte Hürde schon genommen: Unterstützt von ihren Freunden aus Moskau hatten sie nach dem 2. Weltkrieg die Macht des Kapitals zerschlagen und die ihrer eigenen Partei an deren Stelle gesetzt. Jetzt hätte man an die „einfache“ Arbeit gehen können, Stück für Stück den Kommunismus aufzubauen. Doch das Ergebnis ist bekannt: Ein Bankrott auf der ganzen Linie, der Begriff des Kommunismus völlig diskreditiert.

Daß das, was in der DDR und im weiteren Sinne in den von der Sowjetunion abhängigen Staaten herrschte, kein Kommunismus war, darüber braucht nicht diskutiert zu werden. Ähnlich abwegig ist die Vorstellung, daß diese Staaten irgendwie auf dem richtigen Weg zum Kommunismus gewesen und allein durch böse äußere Umstände daran gehindert worden wären, dieses Einfache, das der Kommunismus doch sein sollte, zu verwirklichen. Die Entwicklung ging noch nicht einmal in die richtige Richtung.

Wenn das nicht der Kommunismus war, was ist der Kommunismus dann? Wenn man versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, der die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes Was tun mit Kommunismus? ([3]) eint, dann dürfte es wohl dieser sein: Die kapitalistische Form der gesellschaftlichen Produktion hat in den letzten Jahrhunderten unendliches Leid über große Teile der Menschheit gebracht und wird dies weiter tun, wenn es nicht gelingt, die gesellschaftliche Produktion auf eine andere Art und Weise zu organisieren als vermittels der blinden Gewalt der Märkte. Kommunismus wäre dann diese Form, in der die assoziierte Menschheit auf demokratische Art und Weise die Produktion bewußt regelt, statt sich durch die blinden Marktkräfte von einer Krise in die nächste stürzen zu lassen.

Leider ist diese Minimaldefinition nicht besonders ergiebig. Sie reicht gerade einmal aus, sich einerseits von einer reformistischen Linken abzugrenzen, die glaubt, durch die Einführung korrigierender Mechanismen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise diese irgendwie in weniger destruktive Bahnen lenken zu können. Und sie erlaubt andererseits die Abgrenzung von einer autoritären Linken, die an die Stelle der demokratischen Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion die Allmacht der kommunistischen Partei setzten will.

Über diese Grenzziehungen hinaus ist diese Bestimmung des Kommunismus jedoch herzlich unbrauchbar. Sie hat eher Bekenntnischarakter als praktisch-politischen Wert. Sie ist Utopie im wirklich schlimmsten Sinn des Wortes: Ein abstraktes Ideal, das in keinem konkreten Vermittlungszusammenhang zur Gegenwart steht. Auf die berühmt-berüchtigte Frage Was tun? gibt diese Bestimmung des Kommunismus so wenig eine Antwort wie auf die Frage, warum der allergrößte Teil der Menschheit sich nicht die Bohne für eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise interessiert.

Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren des Buches spüren zwar dieses Manko, begreifen es aber nicht wirklich und ziehen deshalb zur Abwehr diese jämmerlichste aller gutmeinenden Floskeln, die „konkrete Utopie“ aus der Tasche. Man müsse den Kommunismus nur in leuchtenden Farben ausmalen oder aktiv vorleben, dann würden die Massen schon auf den Geschmack kommen. Als ob das kommunistische Projekt an unzureichendem Marketing gescheitert sei.

Tatsächlich sollte jeder, der mit der Absicht schwanger geht, den Ausdruck „konkrete Utopie“ in den Mund zu nehmen, sich vorher die Worte des Kommunistischen Manifests ins Gedächtnis rufen:

„Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind.
Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“ ([1], S. 474f)

Die Aufgabe eines kommunistischen Intellektuellen wäre es dementsprechend, auf die vor sich gehende geschichtliche Bewegung genau hinzuschauen.

Dazu gehört sicherlich der unbestechliche Blick auf den gescheiterten autoritären Staatssozialismus. Im Gegensatz zu den im Band versammelten Westlinken, die fast ausschließlich verstaubte Floskeln vorzubringen haben, schauen die in der DDR aufgewachsenen Thomas Klein ([8]), Renate Hürtgen ([6]) und auch Sebastian Gerhardt ([7]) präzise hin. Klein (Jg. 1948) liefert einen detaillierten Abriß der linken Opposition in der DDR, Hürtgen (Jg. 1947) schonungslose Einsichten in die Produktionsverhältnisse der DDR und Gerhardt (Jg. 1968) eine vehemente Kritik der scheinbar oppositionellen Gruppe der Modernen Sozialisten in der Spätphase der DDR. Das sind drei Aufsätze, die man wirklich mit Gewinn lesen kann.

Weniger gut schaut es schon aus mit der Bestandsaufnahme der „unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“. Sicherlich, mehrere der Aufsätze erwähnen die Occupy-Bewegung, den arabischen Frühling oder die Proteste in Südeuropa gegen das Austeritäts-Diktat der Finanzmärkte. Doch eine wirkliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Am nächsten kommt dem noch die jüngste Autorin des Buches, Bini Adamczak ([5]), die hier zumindest einen geschichtsphilosophischen Bogen aufspannt. Sie bemerkt wahrscheinlich zurecht, daß die aktuellen, weltweiten Auseinandersetzungen darauf hindeuten, daß die ganzen unverbundenen, aber simultanen Bewegungen auf das Ende einer Epoche hindeuten. Nämlich auf das Ende der 1989 ausgerufenen Epoche des „Endes der Geschichte“. Doch was diese neue Epoche genau kennzeichnen soll, bleibt im Ungefähren.

In die richtige Richtung verweist der meiner Einschätzung nach beste Text des ganzen Buches. Schon der Titel von Christian Frings Aufsatz macht klar, daß er nicht im heimeligen Mief einer sich mit sich selbst beschäftigenden radikalen Linken stecken bleiben will. Er lautet: Das Kapital – die entfremdete Form der Kommune aus sieben Milliarden ([4]).

Die rund zweieinhalb Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch des sogenannten real-existierenden Sozialismus haben zu einer Umwälzung der Produktionsverhältnisse innerhalb des Kapitalismus selbst geführt, daß einem schwindlig werden könnte. Allein die Entwicklung des Internets zog und zieht noch derartige Veränderungen des kapitalistischen Produktionsprozesses nach sich, daß die Erfindung der Dampfmaschine dagegen wie eine historische Nebensächlichkeit erscheint. Natürlich hat der Kapitalismus bereits während der letzten 400 Jahre global agiert. Doch nie zuvor hat die weltumspannende Produktion die Menschen so unmittelbar zusammengeschweißt wie jetzt. Wenn heute eine zusammenbrechende Fabrik in Bangladesh vierhundert Frauen unter sich begräbt, dann geht uns das in einer Unmittelbarkeit an wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Frings zieht daraus die Konsequenzen und bringt das Geschwätz über Kommunismus als konkrete Utopie sarkastisch auf den Punkt:

„Ich sehe eines der größten Probleme für die Herausbildung eines kollektiven Geists der Weltgeschichte […] darin, daß sich gerade in den Kommunismusvorstellungen der metropolitanen Linken ihr uneingestandener Eurozentrismus niederschlägt. Wer heute Vorschläge für eine andere Welt aus dem Hut zaubert, sollte sich zuallerst fragen, ob sie oder er sie denn auch schon mit den Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika diskutiert hat. […] Wir sollten daher nicht über Kommunismusmodelle diskutieren, sondern über die wirklichen Bewegungen – und inwiefern sich in ihnen eine Negation der kapitalistischen Verkehrung abzeichnet. Und auch diese Diskussion und die dafür notwendigen Untersuchungen müssen wir zunehmend als eine global geführte verstehen und den Stimmen aus anderen Teilen der Welt mehr Aufmerksamkeit schenken – gerade wenn und weil sie für unsere westlich geprägten Denkweisen oft überraschend und ungewohnt klingen.“ ([4], S. 263f)

Dazu aber wird es notwendig sein, die eigene linke filterbubble zu verlassen und Diskussionen zu führen, die tatsächlich relevant sind. Immerhin hätten wir etwas Lehrreiches in diese globale Diskussion mit einzubringen: Die Geschichte unseres Scheiterns.

Mit diesem Scheitern werden wir uns auch nächste Woche beschäftigen, wenn es schon wieder nicht weitergeht mit Marcuse, sondern noch eine Besprechung folgt. Besprochen werden soll die Mannheimer Ausstellung zur Geschichte der Arbeiterbewegung Durch Nacht zum Licht?. Freuen Sie sich also darauf, wenn es heißt:

„Warum sollten die Lohnarbeiterinnen und -arbeiter […] noch der SPD folgen, wenn sie oder zumindest die JUSOS eine kritische Aufarbeitung der Finanzkrise versprechen, aber genau jener ehemalige Finanzminister sich an die Spitze der Aufarbeiter einer Krise setzt, die er selbst mit ermöglicht hat?“ ([2], S. 364)

Nachweise

[1] Marx, K. & Engels, F.: „Manifest der Kommunistischen Partei“, in: Marx, K. & Engels, F., Werke Bd. 4, Berlin 1956ff, S. 459 – 493.

[2] Thien, H.-G.: „Von der Sozialpartnerschaft zu neuen Konflikten?“, in: Technoseum. Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim (Hg.), Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863 — 2013, Mannheim 2013, S. 341 – 367.

[3] Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013.

[4] Frings, C.: „Das Kapital – die entfremdete Form der Kommune aus sieben Milliarden“, in: Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013, S. 256 – 268.

[5] Adamczak, B.: „Socialism, for real? Träume, Begriffe, Geschichten“, in: Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013, S. 24 – 36.

[6] Hürtgen, R.: „Wie sozialistisch war der »real-existierende Sozialismus«? oder: Es ist nicht immer drin, was draufsteht“, in: Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013, S. 170 – 187.

[7] Gerhardt, S.: „Schwierigkeiten mit dem Kommunismus“, in: Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013, S. 306 – 339.

[8] Klein, T.: „Linke in Deutschland und der »real existierende« Sozialismus in der DDR“, in: Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013, S. 84 – 10.

[9] Brecht, B.: „Lob des Kommunismus“, in: Brecht, B., Die Gedichte, Frankfurt a.M. 1981, S. 463.

Written by alterbolschewik

3. Mai 2013 at 16:35

Was tun mit Kommunismus? (1)

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„Wenn es sich bei der UdSSR um einer Übergangsgesellschaft handeln sollte, warum kam sie dann niemals an?“

Bini Adamczak

Eine der verblüffenden Eigenschaften des Internets ist es, daß es uns auch die Welt außerhalb des Internets mit anderen Augen sehen läßt. Das Nachdenken über die Natur der weltumspannenden Kommunikation, die das Internet ermöglicht, hat uns neue Begriffe beschert, die uns Phänomene besser verstehen hilft, die überhaupt nichts mit dem Netz zu tun haben. Einer dieser nützlichen Begriffe ist der der filterbubble. Bezeichnet wurde damit urspünglich ein Phänomen, das durch die Algorithmen der Suchmaschinen erzeugt wird: Indem sich diese merken, wie ich auf die Suchergebnisse, die sie liefern, reagiere und dies bei späteren Suchabfragen berücksichtigen, schränken sie mehr und mehr meine Suchergebnisse darauf ein, was ich sowieso erwarte. Die Suchmaschine wirkt auf einmal effektiv als ein Filter, der bestimmte Informationen gar nicht mehr in mein Blickfeld geraten läßt; und so beginne ich in einer Blase zu leben, in der ich vor Informationen geschützt werde, die mit meinem Weltbild nicht übereinstimmen: Die filterbubble.

Mit der Explosion der „sozialen Netzwerke“ veränderte sich diese ursprünglich rein algorithmisch gedachte Filterblase, die die Technologie ohne mein eigenes Zutun um mich herum erzeugt, in ein Phänomen, das nun aktiv produziert und vielleicht auch gewollt wird. Durch die bewußte Auswahl der blogs, die ich lese, der twitter Nachrichten, die ich abonniere, der „Freunde“, die ich mir bei facebook zulege, erzeuge ich mir im Meer des Informationsozeans meine eigene kleine Insel, die mir in der Fülle der Datenströme festen Grund unter den Füßen zu bieten scheint. Oder um eine bessere Metapher zu verwenden: Ich ziehe mich mit Gleichgesinnten in ein enges Alpental zurück, in dem ich nur noch mit Leuten verkehre, die meine Weltsicht teilen. Zufällige Besucher, die sich dann hie und da einmal in dieses Tal verirren, zucken dann meist bei der ersten Begegnung mit den durch Inzucht degenerierten Talbewohnern zurück und nehmen schleunigst Reißaus.

Das andere berühmte Internetphänomen, der shitstorm, ist durch die filterbubble bedingt: Wenn die Talbewohner erfahren, daß irgendwo hinter den Bergen Blasphemiker leben, die sich über die im Tal allgemein anerkannten Werte kritisch oder gar spöttisch geäußert haben, dann raffen sie ihre digitalen Dreschflegel, Mistgabeln und Sensen zusammen und brechen gemeinsam auf zum Kreuzzug. Oft genug leben die Blasphemiker ebenfalls in einem derartigen Tal und so kommt es auf der Paßhöhe zu einem wüsten Gemetzel, bis sich die Parteien wieder in ihre Täler zurückziehen, ihre Wunden lecken und sich darüber austauschen, wie unglaublich bescheuert die Bewohner des anderen Tals doch seien.

Das eigentlich verblüffende an diesen inzwischen hinlänglich bekannten Phänomenen ist, daß sie sich keineswegs auf die digitale Welt beschränken, sondern daß sie bereits vor der Existenz des Internets auftraten: Nur hatten wir einen Begriff wie filterbubble nicht zur Verfügung, um sie zu beschreiben. Tatsächlich war das, was sich im Niedergang der antiautoritären Bewegungen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ereignete, die Entstehung einer gigantischen Filterblase, innerhalb derer sich dann eine Unzahl kleiner Filterblasen entwickelten.

Allerdings lag das damals nicht an einem Zuviel an Informationen, vor denen man sich durch seine Filterblase abschotten wollte, sondern daran, daß man überzeugt war, den offiziellen Informationsmedien nicht mehr trauen zu können. Tatsächlich war man ja über Jahre hinweg nach Strich und Faden belogen worden: Über die Nazivergangenheit der gesellschaftlichen Eliten, über den Krieg in Vietnam, über die Geschichte der kommunistischen Bewegung… Die Öffentlichkeit während des Kalten Krieges war geprägt durch Verschweigen, Verdrehungen und glatte Lügen. Und die Erfahrungen während der „antiautoritären Phase“ hatten diese Manipulationen offensichtlich werden lassen. So entstand damals eine „Gegenöffentlichkeit“ – durch Flugblätter, Zeitschriften, Broschüren, Bücher. Im offiziellen Bewußtsein unterdrückte Traditionen wurden durch Raubdrucke wieder zugänglich gemacht, auch Verlage wie Rowohlt oder Fischer sprangen auf den Zug auf und veröffentlichten beispielsweise längst vergessene Schriften etwa der Rätekommunisten.

Zunächst war das eine Offenbarung: Die Geschichte zeigte auf der Seite der radikalen Linken ganz andere, viel buntere Facetten als das langweilige schwarz-weiß-Denken des Kalten Krieges. Doch statt die beschränkte offizielle Weltsicht zu ergänzen, begann sie in bestimmten Kreisen als eigene, alternative Weltsicht zu fungieren. Je mehr man sich in dieser alternativen Weltsicht verlor, umso mehr wurde daraus etwas, für das lange Zeit der richtige Begriff gefehlt hatte. Doch mit filterbubble ist dieses Phänomen sehr gut beschrieben: Die antikapitalistische Linke, die sich aus den Trümmern der antiautoritären Bewegungen entstand, begann ihre ganz eigenen Diskurse zu entwickeln, die für Außenstehende zunehmend unverständliches Kauderwelsch wurden. Da wurden auf einmal die Streitigkeiten zwischen Marx und Bakunin oder die zwischen Bucharin und Trotzki oder die zwischen Stalin und Tito wichtiger als die bundesrepublikanische Realität der frühen 70er Jahre. Wer sich außerhalb dieser filterbubble befand, konnte sich nur achselzuckend abwenden. Angesichts der Realitätsferne vieler der damaligen Diskurse ist durchaus nachvollziehbar, warum viele Sympathisanten von dieser Art von „Politik“ ziemlich schnell die Nase voll hatten, die antikapitalistische Orientierung zusehends aufgaben und sich eher in Bürgerinitiativen oder später dann der Grünen Partei engagierten.

Doch das soll gar nicht das Thema des heutigen Beitrags sein. Denn eigentlich geht es um eine Rezension des Sammelbandes Was tun mit Kommunismus? ([1]), der im Anschluß an drei Diskussionsveranstaltungen entstanden ist, die letztes Jahr in Berlin stattfanden. Warum dann diese lange und gewunde Einleitung über filterbubbles und die radikale Linke der 70er Jahre? Weil sie eigentlich den Kern dieser Besprechung bereits vorwegnimmt: Wenn man in dieses Buch eintaucht, fühlt man sich sofort in einer filterbubble gefangen, in der ganz andere Prioritäten gesetzt werden als in der Alltagswelt des Jahres 2013. Die holprige Ironie im Namen des Herausgeberkollektivs „Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK)“ kaschiert nur mühsam, daß man als unbefangener Leser tatsächlich das Gefühl hat, der Diskussion einer Selbsthilfegruppe beizuwohnen.

Worum geht es überhaupt? Der Klappentext stellt fest, daß eine „kritische Debatte über den »real existierenden Sozialismus« sowie eine selbstkritische Auseinandersetzung der antikapitalistischen Linken mit Fehlern und Irrtümern der eigenen Geschichte“ unumgänglich sei. Und so lobt man sich selbst:

„In einmaliger politischer Breite diskutieren hier emanzipatorisch orientierte Linke des Sozialismus, libertären Kommunismus und Anarchismus, Bewegungslinke verschiedener Spektren und Angehörige der Linkspartei, Libertäre und Marxist_innen, west- und ostdeutsch Sozialisierte die sich aufdrängende Frage: Was tun mit Kommunismus?“ ([1], Klappentext)

In der Tat repräsentieren die Autorinnen und Autoren des Bandes auf den ersten Blick eine bunte Mixtur aus allen Lagern der antistalinistischen Linken. Vom Anarchismus bis zum Trotzkismus scheint praktische jede erdenkliche Spielart eines mehr oder minder freiheitlich orientierten Antikapitalismus vertreten zu sein. Doch der Schein der Pluralität trügt, was man schnell feststellt, wenn man das Durchschnittsalter der Beteiligten ausrechnet. Dieses liegt bei 57 Jahren, wobei selbst die beiden jüngsten Autorinnen, Bini Adamczak und Lucy Redler, immerhin schon 34 sind. Mit anderen Worten: Die ganz überwiegende Mehrheit der Autorinnen und Autoren wurden vor 1989, und zwar meist deutlich davor, politisch sozialisiert, zu einer Zeit, in der der „real existierende Sozialismus“ noch real existierte.

Und so katapultieren einen die meisten Beiträge des Bandes zurück in die linksradikale filterbubble der 70er und 80er Jahre. Über weite Strecken wird immer wieder auf’s Neue begründet, warum die DDR kein sozialistischer Staat war – als ob das nach 1989 tatsächlich noch irgendwie nötig wäre. Die meisten Autoren sind auf den Dachboden gegangen und haben noch einmal das rostige Besteck herausgekramt, das man bereits in den 70er Jahren verwendet hatte, um damit im stinkenden Kadaver des Stalinismus herumzustochern. Ganz ehrlich: Ich hätte nicht erwartet, daß ich mir im Jahr 2013 noch einmal Milovan Đilas‘ antistalinistischen Klassiker Die neue Klasse als originelle Kritik am Stalinismus präsentieren lassen muß – und das tut nicht nur einer, sondern gleich mehrere Autoren. Đilas Stalinismuskritik ist über ein halbes Jahrhundert alt! Oder Rudolf Bahros Die Alternative (1977) Und sogar Trotzkis Verratene Revolution (1936). Das ist keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem real verblichenen Sozialismus, sondern eine Schattendebatte, die dem Leser, so er denn alt genug ist, um sich an die Diskussionen der 70er und 80er Jahre zu erinnern, bestenfalls nostalgische Gefühle, aber sicherlich keinen Erkenntnisgewinn beschert.

Umso mehr stechen aus dieser Tristesse einige originelle Beiträge heraus, die man wirklich mit Gewinn lesen kann und sollte. Zum sozialistischen Charakter der DDR etwa den Aufsatz von Renate Hürtgen, die eben nicht die ewig gleichen Phrasen absondert, sondern unaufgeregt und detailliert eine differenzierte Geschichtsschreibung der Arbeiter-Nicht-Beteiligung in der DDR liefert. Statt mich also über die Phrasenhaftigkeit der meisten Beiträge aufzuregen, werde ich nächste Woche etwas genauer auf die Handvoll Texte eingehen, die tatsächlich die Lektüre lohnen.

Freuen Sie sich deshalb darauf, daß Bini Adamczak feststellt:

„Mit den Krisen und den Revolten in Tunesien und Ägypten, den USA, Griechenland, Spanien und vielen anderen Orten aber haben sich, innerhalb eines Jahres, auch die Bedingungen dafür, den Kommunismus zu denken verschoben. Die Bedingungen werden andere sein als jene der beiden vorangegangenen Epochen, der Epoche des Kalten Krieges und der Epoche des Endes der Geschichte.“ ([2], S. 32)

Nachweise

[1] Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013.

[2] Adamczak, B.: „Socialism, for real? Träume, Begriffe, Geschichten“, in: Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) (Hg.), Was tun mit Kommunismus?, Münster 2013, S. 24 – 36.

Written by alterbolschewik

26. April 2013 at 15:56

Einmal global betrachtet

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[Der folgende Text stammt nicht von mir, dem Alten Bolschewiken, sondern von Che2001, der ihn ursprünglich in seinem Blog veröffentlicht hat. Da er eine ganz gute Ergänzung zu den hier verhandelten Themen darstellt, wird er hier noch einmal publiziert.]

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam es zum bislang letzten Mal zu einem weltweiten Aufbruch einer sozialrevolutionären Bewegung. Die Gründe hierfür waren äußerst heterogen und an unterschiedliche länder- oder globalregionspezifische Bedingungen geknüpft. Im Trikont standen Revolutionen und Revolten in der Fortsetzungslinie antikolonialer Befreiungskämpfe, in den Metropolen war es eine Gemengelage, die sich auf den Gesamtnenner „Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit“ (Bloch) ausrichten lässt. In den USA führten die Bürgerrechtsbewegung, die, durchaus im Einverständnis mit der Reformpolitik Kennedys und Johnsons 100 Jahre nach dem Bürgerkrieg, nicht nur die formale, sondern auch die gesellschaftsreale Gleichberechtigung der Schwarzen (und der Frauen, vgl. Womens Lib) mit subversiven, aber gewaltfreien Aktionen durchzusetzen versuchte, der Protest gegen den Vietnamkrieg mit dem Aspekt der Kriegsdienstverweigerung amerikanischer Männer und die subkulturellen Beatnik- und Hippiebewegungen dazu, dass linksliberales politisches Engagement, Antirassismus, Pazifismus und Antiimperialismus ein Bündnis eingingen: The New Left.

In Frankreich stand die einerseits autoritäre, restaurativ-konservative, andererseits die Kontinuitätslinien zu Kolonialkriegen überwindende und soziale Mindeststandards durchsetzende Politik de Gaulles im offenen Widerspruch einerseits zu den rassistisch-kolonialistischen Positionen der alten Algerienkämpfer und andererseits zu den emanzipativen Forderungen von ArbeiterInnen und StudentInnen, die sich um existenzialistische, traditionskommunistische, maoistische und anarchistische Positionen formierten.

In der Bundesrepublik Deutschland bestand die Ungleichzeitigkeit in einer historisch beispiellosen Wohlstandsentwicklung in einer jungen Demokratie einerseits mit sukzessivem Ausbau des Systems sozialer Leistungen, eingebunden in eine Integration der Gewerkschaften ins Herrschaftssystem („Konzertierte Aktion, „formierte Gesellschaft“) und dem restaurativen, die NS-Vergangenheit erfolgreich verdrängenden Klima der Republik andererseits, auch „motorisiertes Biedermeier“ genannt. Die 67er-Revolte war im Ausgangspunkt die von Studierenden und Azubis, welche gegen die selbstgerechte Elterngeneration und die bigotten Legitimationsmuster des Nach-Adenauer-Staats aufbegehrten.

Ähnlich war die Situation in Japan, allerdings mit einer noch viel weiter reichenden Korruption und Geschichtsblindheit der politökonomischen Eliten. Entsprechend militanter als in der BRD fand die Mobilisierung der studentischen und proletarischen Protestbewegungen dort statt. Die Zengakuren führten seit den Frühsechzigern Straßenschlachten gegen die Polizei, die in der Härte der körperlichen Auseinandersetzungen die des Pariser Mai oder späterer Bauzaunkämpfe der westdeutschen Anti-AKW- und Startbahn-West-Bewegungen übertraf.

Matrix all dieser Prozesse war ein beispielloser ökonomischer Aufschwung in den kapitalistischen Metropolen, der sich als 15 Jahre anhaltender Dauerboom in allen relevanten Bereichen der Wirtschaft charakterisieren lässt. Mit der Wende von den 1960ern zu den 1970ern erreichte dieser sein jähes Ende. Die weltweite Überakkumulation führte zu einem plötzlichen Wachstumsstopp, der erstmals 1969 eine kleine Wirtschaftskrise bewirkte. Dann kamen zwei andere Faktoren hinzu: Die Ausgaben der USA für den bald nicht mehr finanzierbaren Vietnamkrieg wurden durch eine Kürzung von Sozialprogrammen und eine Aufgabe der Golddeckung des Dollar sowie Anwerfen der Notenpresse beantwortet, die zu einer rasanten Talfahrt des Dollar führte. Im fixen Verrechungssystem von Bretton Woods war dieser die Weltleitwährung, alle Währungskurse wurden mit dem Dollar verrechnet, so dass es zu einer weltweiten Inflation kam. Die Loslösung der Kurse von der bisherigen Weltleitwährung (oder auch Weltleidwährung) bedeutete kurzfristig Entlastung für andere Währungen, langfristig aber freie Konvertibilität aller Währungen auf dem Weltfinanzmarkt, da Währungen nun wie Kapitalwerte auf dem Finanzmarkt gehandelt werden konnten. Die Basis des Neoliberalismus wurde Anfang der 1970er gesetzt.

Zweiter Faktor war die sogenannte Ölkrise. Nach dem Yom-Kippur/Ramadan/Oktober-Krieg erhöhte die OPEC die Ölpreise mit der Folge, dass die Energie- und Rohstoffpreise weltweit eklatant anstiegen. In Folge war die kapitalistische Weltwirtschaft mit dem Problem der Stagflation konfrontiert, also gleichzeitiger Stagnation und Inflation. Die Auswirkungen waren katastrophal: In den Ländern des Trikont kam es zur „Schuldenkrise“ der „Dritten Welt“, Entwicklungskredite konnten nicht zurückgezahlt werden mit dem zwangsläufigen Ergebnis von Massenverarmung, frühere Emanzipationskämpfe kippten in Verteilungskämpfe um. In den Metropolen ging es auf höherem Niveau ähnlich zu, soziale Auseinandersetzungen wie die großen Streiks bei Fiat und Ford zielten nicht mehr wie bisher auf höhere Partizipation sondern auf Besitzsstandsverteidigung ab, freilich noch mit einer Militanz und Kompromisslosigkeit, die heute nicht mehr denkbar wäre.

Die Auswirkung auf das Bewusstsein der politischen Linken war fatal. Das Lebensgefühl der 67er-Bewegung war geprägt durch die Vorstellung, dass die Gegenwart in allen materiellen und sozialen Angelegenheiten besser war als die Vergangenheit und die Zukunft noch besser würde, dies angesichts des als anachronistisch angesehenen Fortbestands kapitalistischer Herrschaft aber nicht ausreiche. „We want the world, and we want it now!“, wie die Doors es ausdrückten, oder „We want not just one Cake, we want the whole fucking Bakery“, wie es die Black Panthers formulierten.

Der 1968 produzierte Science-fiction-Film „2001-Odyssee im Weltraum“ brachte das damalige Bewusstsein zum Ausdruck: 2001 fliegen wir zu den Monden des Jupiter, dann kommt der Sprung zu den Sternen. Kennedys eingelöste Parole „In einem Jahrzehnt zum Mond“ hatte eine Hightech-Erwartungshaltung im wahrsten Wortsinn beflügelt, die zu Projekten wie dem Überschall-Passagierflugzeug „Concorde“ und der noch schnelleren, nie in Serie gebauten Boeing 2707 führte und die sehr hochgesteckten Zukunftserwartungen eines veränderungseilen Jahrzehnts abbildete.

In den 1970ern war stattdessen die Haltung dominierend, nicht mehr die Weltrevolution zu wollen, sondern Widerstand gegen Schweinereien von oben zu leisten. Der Begriff Widerstand wurde dann auch zum Schlüsselwort, egal, ob es gegen AKWs, Luxussanierung oder Berufsverbote ging. Entsprechend zum Paradigmenwechsel igelte sich die Linke mehr und mehr ein. In Westdeutschland traten an die Stelle einer antiautoritären, rotzfrechen und hedonistischen Bürgerschreck-Linken spießige K-Gruppen, die sich alle höchst ähnlich waren, einander aber bis aufs Messer bekämpften. Es ging nicht mehr um empirisch entwickelte Befreiungsperspektiven oder konkrete Fragen des Klassenkampfs, sondern um Interpretationen marxistisch-leninistischer Glaubenssätze, die mit theologischer Inbrunst vertreten wurden.

Parallel entwickelten sich linke Szenen, die an konkrete Alltagsfragen und überkommene Diskriminierungen anknüpften: Die Frauen- Schwulen- Anti AKW- und Häuserkampfbewegungen, die Spontis, die als Abgrenzung zu den K-Gruppen linke Politik projektbezogen sahen und zunehmend kampagnenbezogen, aber bis auf allgemeine Sympathie für den Anarchismus theorielos waren.

Die globale Betrachtung geht weiter

„Revolutionäre Situationen sind nicht die des größten Elends, sondern die der größten Erwartung“

(Talleyrand)

In diesem Sinne war 1967-69 die Situation für die linken Bewegungen sicherlich der Revolution näher als in den 1970ern und 80ern, obwohl sich in dieser Zeit die Inhalte der antiautoritären Linken in breiteren Bevölkerungsschichten verankerten und sich die Gesellschaft etwa der BRD insgesamt strukturell etwas nach links entwickelte. Die Widerstandperspektive, die schrittweise die revolutionäre Perspektive verdrängte, war zunehmend nicht mit einer optimistischen oder gar utopischen, sondern mit einer dystopischen, wenn nicht apokalyptischen Zukunftserwartung verbunden, und das weit über die linke Szene im engeren Sinne hinaus. In der Anti-AKW- und Anti-Atomraketenbewegung war es weit verbreitet, Ängste vor dem nuklearen GAU und der ökologischen Katastrophe zu verinnerlichen, es galt in manchen Kreisen fast schon als Tugend, diese zu somatisieren.

Manfred Maurenbrecher spöttelte:

„Ich weiß, ich weiß, du meinst es ernst,
du spürst die Angst ganz echt.
Deine Leute vom „Schwarzwälder Bundschuh“,
die nennen mich Medienknecht.
Aber trotzdem hast du mich so angeschaut,
ich denke oft zurück;
du bekommst bestimmt keinen Friedensnobelpreis
für diesen geilen Blick.“

Peter Maffay hingegen füllte Stadien und sahnte Charts ab mit seinem ganz und gar unironischen Weltuntergangsgesang „Eiszeit“. Diese spezielle „Neue Innerlichkeit“ des neu entstehenden grün-alternativen Kernmilieus, von verschlagenen Dialektikern „Neue Weinerlichkeit“ genannt, führte sehr stark dazu, dass von den Antiautoritären verpönte, verachtete und verspottete bürgerlich-protestantische Tugenden ausgerechnet in der Alternativszene freudlose Urständ feierten. Aus den an sich vernünftigen und rational begründeten Überlegungen zu Konsumkritik und freiwilligem Konsumverzicht wurde schnell eine Art neuer Askese: Man kaufte Klamotten nicht nach Aussehen, sondern nach Gewicht, Kilo ne Mark im Second Hand Laden, man nahm kein Wannenbad, auch wenn man eine Badewanne hatte, weil dabei zu viel Heizenergie und Wasser verbraucht wurde und ähnliche Besonderheiten einer moralisch vorbildlichen Lebensweise.

Diesem neu entstehenden ökopuritanischen Lebensstil gegenüber hatten die neu entstehenden Richtungen der radikalen Linken, Autonome und Antiimperialisten, sehr viel mehr mit den 67ern gemein, auch das Wort Revolution durfte wieder gedacht werden.

Die Antiimps vertraten dafür ideologisch einen extrem purifizierten Antiimperialismus, demzufolge die weißen Metropolenmenschen überhaupt kein Interesse an einer Revolution haben könnten, da sie bis zum letzten Obdachlosen Nutznießer der Ausbeutung der drei Kontinente Afrika Südamerika und Asiens südlich der Sowjetunion und Chinas seien. Das Metropolenproletariat sei objektiv ein Kleinbürgertum. Infolgedessen hatten Antiimps an sozialen Kämpfen hierzulande oftmals kein Intersse oder nur ein sehr instrumentalisiertes. Eine bei ihnen verbreitete Vorstellung war die, dass eine Revolution nur als Weltrevolution denkbar sei, die von den verarmten Massen des Trikont ausginge. Aufgabe der Revolutionäre in den Metropolen sei es daher, den Militär- und Repressionsapparat hier zu bekämpfen, um die vorbeugende Aufstandsbekämpfung gegenüber den Revolten im Trikont zu behindern. Aktionen gegen die Startbahn West oder das Wartime Host Nation Support Abkommen waren für die Antiimps in erster Linie gegen die Aufmarschbasis Deutschland für US-Luftschläge gegen nordafrikanische und arabische Länder gerichtet, womit sie sich im Jahr 1980 als einigermaßen prophetisch erwiesen. Politisches Engagement reichte für die Antiimps von Aktionen innerhalb der Friedensbewegung bis zum bewaffneten Kampf der RAF. Längst nicht alle Antiimps waren RAF-Sympis, aber es kann wohl gesagt werden, dass die RAF sich aus den Antiimps rekrutierte. Demgegenüber hatten die Autonomen der ersten Stunde ein sozialrevolutionäres Weltbild, das in den Zeitschriften Autonomie Neue Folge und Wildcat ausgebreitet und weiterentwickelt wurde. Es handelte sich um eine Verbindung aus italienischem Operaismus mit der zentralen Vorstellung von ArbeiterInnenkämpfen als Kämpfe gegen die entfremdete Arbeit an sich mit einem starken Mensch-Maschine-Dualismus, dem Versuch, Marx mit Bakunin und Weitling zusammen zu denken, der Dependenztheorie, welche den kulturellen und politökonomischen Zusammenhängen in den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Entwicklungs- Schwellen- und Metropolenländern nachging und den Ansätzen der „Anderen Arbeitergeschichte“, die Geschichtswissenschaft als Alltagsgeschichte aus der Perspektive von unten betrieb. Sehr viele Autonome der 1980er verstanden sich allerdings als Autonome, ohne von diesen Theorien je gehört oder gelesen zu haben. Ich behaupte, das Entstehen der westdeutschen autonomen Szene fußte auf dem Dreiklang aus Anti-AKW-Startbahn- und Häuserkampfbewegung, der Antifa-Mobilisierung gegen Kühnens ANS-NA und SS-Sigis Borussenfront und der Neuen Deutschen Welle bzw. allgemeiner dem Postpunk. So handelte es sich in starkem Maße um eine subkulturelle Bewegung, die sich scharf gegen moralisierende Müslibärte des grün-alternativen Lagers abgrenzte, den ideologisch überzeugten Gewaltfreien mit ihren Antiaggressionstrainings und ihrer Abwiegelei die Position „ob friedlich oder militant, Hauptsache Widerstand“ entgegensetzten und ihrerseits einen neuen subkulturellen Style prägte.

Es ist sicherlich eine falsche Perspektive, die Sponti- und Öko-Linke der 1970er mit Hippies gleichzusetzen, wie das heute meist gemacht wird. Lange Haare, Henna, wilde Bärte und weite Fischerhemden und rosa gefärbte Jeansjacken machen noch keine Hippies, die inhaltlichen Unterschiede zwischen dem, was Hippies 1967 ff. vertraten und dem, was langhaarige Freaklinke Anfang der 1980er dachten war beträchtlich, auch die Lebensgewohnheitwen wiesen mindestens so viele Unterschiede wie Gemeinsamkeiten auf. Das Kernmilieu der Spontiszene trat allerdings auch weniger freakig auf als spartanisch-demotauglich angezogen, in Friesennerz, BW-Parka und Palituch. Was neu am Auftreten der Autonomen war, dass sie das klassische Schwarz der Anarchos und Existentialisten übernahmen, allerdings in einer martialischen Variante, und mit Punk- und Freakelementen paarten: Schwarze gepolsterte Motorradlederjacken, schwarz-weiß gewürfelte Palitücher, schwarze Springerstiefel, und dazu dann auch mal schwarzrote Streifenjeans, Fischerhemden oder Batikshirts. An Stelle der Arbeiterlieder, für die sich die MLer begeistert hatten und der Liedermacher, die Grünalternative so hörten, war der Lieblingssound der Autonomen neben TonSteineScherben eine Mischung aus Punk, Heavy Metal und psychedelischer Musik z.B. von Robert Wyatt oder Anne Clark. Auch die Doors oder Reggae wurden gerne gespielt.

Ähnlich wie bei den 67ern war in der autonomen Szene der 80er unter Heten (die Szeneinterna von Schwulen und Lesben kenne ich zu wenig, um darüber Konkretes sagen zu können) sexuelle Freizügigkeit und das Modell „offene Beziehung mit erlaubten Seitensprüngen“ ziemlich angesagt, und es gab eine sehr ausgeprägte Feten- und Konzertkultur. So von 1982 bis 1988 fand ich es ausgesprochen schön und lustvoll, in der Szene unterwegs zu sein, auch wenn eine allenthalben verbreitete Bullenspitzel-Paranoia nervte. So ab 1988 kippte das alles dann aber sehr schnell ins Repressiv-Moralische.

Anlässe dafür gab es mehrere auf unterschiedlichen Ebenen. Von zentraler Bedeutung war sicherlich, das Ende der Achtziger ein Generationenwechsel stattfand. Besonders in studentisch geprägten Gruppen fand der oftmals ziemlich abrupt statt, da viele Leute gleichzeitig Examen oder Diplom machten und ebenso schubweise Erstis neu hinzukamen, die oft durch andere Vorstellungen geprägt waren als z.B. meine Alterskohorte – viele waren bereits die Kinder von 67ern und mit linken Vorstellungen sozialisiert wurden, die sehr oft einhergingen mit dem oben skizzierten lebensweltlichen Puritanismus. Dann kam eine ganz andere Entwicklung hinzu, nämlich eine Debatte um szeneinternen Sexismus. Waren die Diskussionen um Mackergepose am Wackersdorfer Bauzaun noch auf konkretes Verhalten relativ vieler Männer bezogen und auf konstruktive Verhaltensänderungen gerichtet gewesen, so bekam das Ganze einen völlig anderen Dreh, als Vergewaltigungen in Szenezusammenhängen bekannt wurden, was in etwa gleichzeitig mit der Alice-Schwarzer-Andrea-Dworkin-Anti-Porno-Debatte und der Beugehaft für Ingrid Strobl geschah. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Debatte dermaßen massiv moralisch aufgeladen, dass sie sprengend auf Gruppenstrukturen wirkte und die Diskussionsatmosphäre in Plena vergiftete.

Die ursprünglich als Vergewaltiger benannten Männer in autonomen Zusammenhängen in Berlin waren Typen, denen ich es jederzeit zugetraut hätte, was ihnen da vorgeworfen wurde: Demoklopper der heftigsten Sorte, eher Schlägertypen als Leute, die ich Genossen genannt hätte. In der Folgezeit führte aber die Vergewaltiger-wir-kriegen-euch-Kampagne dazu, dass scheinbar jede Stadt, in der es eine linksradikale Szene gab, ihrer Vergewaltigungsdebatte brauchte, und neben tatsächlichen Taten kam es schnell dazu, dass zurückgewiesene Zuneigung nach einem One-Night-Stand im Suff, üble sexistische verbale Anmache ohne Körperkontakt oder durchaus einvernehmlicher, aber unzärtlicher und von der Frau als scheiße empfundener Sex als Vergewaltigungen bezeichnet wurden, und zwar nicht immer von der betroffenen Frau selbst, sondern in bestimmten Fällen auch von Plena, die darüber befanden. Das geflügelte Wort „Jeder Mann ist ein potenzieller Vergewaltiger“ wurde z.T. derartig aufgeladen, dass die Forderung nach Therapie für jeden heterosexuellen Mann erhoben wurde. Nun ja, zu diesem Zeitpunkt machte ich gerade eine Psychoanalyse, hätte mir den Schuh, diese Forderung für Käse zu halten also gar nicht anzuziehen brauchen. In einer Männergruppe erlebte ich dann allerdings, wie dort nicht etwa Männeradikaltherapie betrieben wurde, sondern, wie ja schon geschildert, imaginäre Hierarchien errichtet wurden nach dem Muster „die in WGs lebenden Männer mit festen Zweierbeziehungen sind, wie sie durch ihre Lebensweise bewiesen haben, am Weitesten“, sexuelle Promiskuität war igittebähbäh, und natürlich flog der einzige Dropout, ausgerechnet ein Mann mit bisexuellem Einschlag, hochkant raus.

Ich sagte dieser studentischen linken Szene für immer adieu und begab mich in neue Umfelder, in denen Studis eine Minderheit waren, in die Flüchtlings- und Kurdistansoliarbeit und erlebte dort geradezu eine innere Befreiung: Die Moralinwelt lag weitgehend hinter mir. Das heißt aber nicht, dass sie sich in der übrigen Szene nicht fortsetzte.

Es blieb nicht beim rigiden Antisexismusverständnis. Im Verlauf der 1990er Jahre setzte sich in weiten Teilen der radikalen Linken ganz allgemein eine rigide Lebensweise und zugleich eine sehr formelhafte Politische Korrektheit durch. Innerhalb der Szene gab es eine PC-Linke und eine Non-PC-Linke. Der Begriff PC wurde damals überwiegend positiv gebraucht. Im Wikipedia-Artikel zum Thema Political Correctness ist davon die Rede, dass der Begriff überwiegend von Rechten zur Diskriminierung linker Inhalte gebraucht würde und früher von undogmatischen Linken eher selbstironisch verwendet wurde. Das habe ich seinerzeit anders erlebt. PC verhielten sich Linke schon, bevor dieser Begriff geprägt wurde, die Vermeidung diskriminierender Ausdrücke oder die Linguistik mit Binnen I und klein mensch waren selbstverständlich. Mit dem Aufkommen der PC-Linken setzten sich aber noch andere Dinge durch. Vegane oder zumindest vegetarische Ernährung wurden zu positiven Normierungen, Parolen wie „Go vegan or bloody“ waren durchaus verbreitet, eine mir sehr liebe Genossin meinte damals „ich esse Fleisch, ich rauche und ich habe wechselnde Liebhaber, oh was bin ich subversiv!“, und das „subversiv“ wandte sich nicht gegen das System, sondern gegen die Moral der linken Szene. Der politisch korrekte Sprachgebrauch war in manchen Zusammenhängen so dominant, dass es quasi unmöglich wurde, Worte wie „ficken“ in den Mund zu nehmen. Ich kann mich daran erinnern, dass ein Genosse, als er Vater wurde, nicht etwa freudig verkündete, dass da ein Kind kommen würde, sondern sich dafür schämte – es bedeutete ja, dass er eine Frau penetrierend gevögelt hatte, was ihm politisch unkorrekt erschien. Der Begriff Politisch Korrekt wurde von mir und meinem engeren Umfeld damals nicht kritisiert, weil eigentlich positiv verstanden und im Sinne von Antidiskriminierung gebraucht, wir nannten diese neopuritanische Haltung „Moralspackentum.“ In Teilen der autonomen Linken verbreitete sich von London kommend die Straight-Edge-Bewegung, die Veganismus, Nichtdrogenkonsum und generellen materiellen Verzicht hochhielt, unsereins machte sich in erster Linie darüber lustig, z.B. indem ich in der eigentlich veganen Volxküche Steaks servierte, dafür bei Antiimps Begeisterung erntete und das alles durfte, weil ich in der imaginären Nicht-Hierarchie der Szene oben stand.

Dann kam in den späten Neunzigern Pop-Linke und Mc Antifa: Plötzlich war es wichtig, im Schwarzen Block gut auszusehen und Markenkleidung zu tragen, z.B. Carhartt-Klamotten und Ray-Ban-Sonnenbrillen, ursprünglich ein Notbehelf, weil Leute mit Helmen oder auch nur Hasskappen gleich verhaftet wurden. Diese Lifestyle-Autonomen bildeten die Übergangsform zu den Antideutschen im heutigen Sinne. Die ab 2000 einsetzenden Debatten zur Neuorientierung der Linken, z.B. Das Neue Historische Projekt setzten z.T. an einer Verbindung aus Wertkritik und Neuem Antiimperialismus, ganz sicher aber an einer Abkehr vom Traditionssozialismus an. Anachronistischer Weise verflachten solche Ansätze in den Folgejahren zur Feier etwa des Chavez-Venezuela als Form des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Parallel dazu kam es zur Konjunktur des Antideutschismus als Reaktion auf die Attentate vom 11. September und der Zuspitzung bisheriger antideutscher Positionen zur Israel-Idiolatrie.

Straight onward with basics

In der Abfolge des Aufkommens und Niedergehens linker Strömungen und kollektiver Geisteshaltungen in ihnen in Westdeutschland von 1967/68 bis heute wirkt sich, das ist Sinn und Zweck meiner ganzen Abhandlung, die Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Linken nach dem Modell der Langen Wellen aus.

Zuerst, 1967 ff., wurde hierzulande erst begeistert, dann verbissen, zuletzt verzweifelt versucht, die Versprechungen der bürgerlichen Demokratie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit jetzt hier und sofort einzulösen und dabei zugleich den Schwerpunkt der Gesellschaft nach links zu verschieben. Diese Revolte war bereits zusammengebrochen und ihre Reste verhärteten sich in dogmatischen marxistisch-leninistischen Splittergruppen, als ein weltökonomischer Paradigmenwechsel die Basis dieses Aufbruchs hinwegfegte. Gleichzeitig drangen die Vorstellungen und Lebensentwürfe der 67er überhaupt erst in das Bewusstsein breiterer Massen ein. Ich würde sagen, dass sich die BRD-Gesellschaft bis noch nach Mitte der 80er Jahre soziostrukturell gesehen nach links entwickelte, solange nämlich die festgefügten konservativen Kernmilieus noch mit den Eliten verbunden waren und so etwas wie legere Kleidung, Konsum weicher Drogen, Abneigung gegen preußische Arbeitsdiziplin, sexuelle Libertinage, bestimmte subkulturelle Lebensweisen als strukturell links wahrgenommen wurden.

In den 70ern ging es weniger um den großen Aufbruch als vielmehr um die Verhinderung/Bekämpfung von Verschlechterungen, und anstelle des Sturm-und-Drang-Gefühls der APO entstand eine Stimmung der Apokalypse. Der erste neoliberale Schub (Reaganomics, Thatcherism, Felipismo, Verkohlung) verschärfte dies einerseits, brachte andererseits kurzfristig gegenkulturelle und politische Strömungen hervor, die radikaler waren als die Linke bis dato und teilweise auch mit einer neuen, weniger von Hoffnung als von Wut geprägten Aufbruchsstimmung antraten, parallel dazu entstanden aber auch rechte Jugendsubkulturen und das Yuppietum. Dann waren die 80er zugleich auch hedonistische Partytime. Unter den Vorzeichen von Zusammenbruch des Kasernenhofkommunismus und Wiedervereinigung kam es in den 90ern dann zu einer ganz seltsamen Kombination: Eine Art Aufbäumen von dem, was von der radikalen Linken noch da war, Lichterketten und militante Auseinandersetzungen mit den Faschos, der Versuch eine bundesweite Antifaorganisation zu schaffen ebenso wie das Entstehen der ersten antideutschen Gruppen und parallel die Zunahme an rigider Moral, extremer „Antisexismus“, PC-Linke usw., der Versuch, in einer Situation, in der alles was der Linken Halt gegeben hatte, selbst die Wand, zu der man mit dem Rücken stand, wegzubrechen drohte, die eigene Identität mit rigider Moral aufrechtzuerhalten, was aber den Verfall eher beschleunigte. Und davon erleben wir heute schon allerlei Recycling-Ausgaben.

Written by alterbolschewik

12. April 2012 at 22:27

Meinungsfreiheit, Würde und Beleidigungen (2)

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„Als Ausländer in Deutschland hat der ausländische Student dieselben Grundrechte wie jeder Deutsche […]. Zu diesen Rechten gehört auch das Recht der freien politischen Meinungsäußerung, nicht nur in privaten Kreisen, sondern auch in aller Offentlichkeit, sogar durch Publikation.“

Kenneth Hanf (USA), in einem Leserbrief an die Freiburger Studentenzeitung, 1960

Letzte Woche hatte ich mit einer kleinen Serie begonnen, mit welchen Angriffen Autoren der Freiburger Studentenzeitung (FSZ) in den 50er und 60er Jahren zu rechnen hatten, wenn sie sich erdreisteten, Konventionen oder Hierarchien in Frage zu stellen. Damit geht es heute weiter und wird auch noch nächste Woche eine Fortsetzung finden.

Scherzo: Peinlich

Der nächste Fall verlief etwas glimpflicher, wohl weil er so absurd war. In einer kurzen Notiz unter der Überschrift „Peinlich“ berichtete die FSZ im Dezember 1959 wird über eine Rede des Regierungspräsidenten Dichtel:

„Regierungspräsident Dichtel sprach in seiner Festansprache anläßlich der Einweihung des neuen Studentenwohnheims davon –  wie wir in Erinnerung haben –, »daß man es einmal sagen muß, daß all das Unglück, das uns am 27. November 1944 getroffen hat, nicht zum Schaden der Universität war«, oder – wie es am nächsten Tag die »Badische Zeitung« berichtete – »das Unglück der Zerstörung 1944 letzten Endes für Freiburg eine gute Wirkung gehabt« habe.“

Und der Autor wagt die Frage zu stellen:

„Hat sich der Herr Regierungspräsident wirklich nicht überlegt, daß bei Luftangriffen 2924 Freiburger getötet wurden? Dachte er nicht daran, daß eventuell unter seinen Zuhörern Angehörige solcher Opfer sein könnten? Sagte ihm nicht sein Fingerspitzengefühl, daß diesen Menschen seine Bemerkung als grobe Taktlosigkeit erscheinen mußte?
Wir empfanden selten etwas so peinlich.“ ([1], S.2)

Wer glaubt, daß das angesichts der wenig sensiblen Formulierungen des Regierungspräsidenten, die in der Folge nie bestritten wurden, durchaus berechtigte Fragen sein könnten, irrt sich gewaltig. Wie kann es ein Student wagen, öffentlich einen Regierungspräsidenten zu kritisieren! Der Vorsitzende des Studentenwerks, Professor Max Müller, auf dessen Einladung der Regierungspräsident gesprochen hatte ist durchaus der Meinung, der Regierungspräsident habe „keine Taktlosigkeit begangen, sondern etwas ausgesprochen, was in dem Zusammenhang der Einweihungsfeier durchaus am Platze war. Eine grobe Taktlosigkeit bedeutet es dagegen, wenn die Studentenzeitung glaubt, als erziehungsberechtigte Gouvernante des Regierungspräsidenten auftreten zu müssen.“ (zit. nach [4], S.3) Und er fordert nicht nur eine Entschuldigung, sondern gleich den Rücktritt des Chefredakteurs.

In diesem Fall stellte sich allerdings der AStA auf die Hinterbeine, und bot dem Professor die Stirn:

„Der AStA ist jedoch der Meinung, daß in dem besagten Artikel die Redaktion ihre Kompetenzen nicht überschritten hat […] Der Großteil der bei der Einweihungsfeier anwesenden Studenten vertrat durchaus die Meinung, die in dem Artikel der FSZ ausgedrückt wurde.
Nach Meinung des AStA hat sich die Studentenzeitung in keiner Weise als »erziehungsberechtigte Gouvernante« aufgespielt. Es dürfte jedoch das Recht einer Studentenzeitung sein, berechtigte Kritik an Äußerungen zu üben, auch wenn sie von höherer Stelle gemacht werden. Der AStA sieht daher keine Veranlassung, die von Ihnen erwarteten Maßnahmen zu ergreifen.“ (zit. nach [4], S.3)

Müller steckte zurück:

„Da AStA und Redaktion einmütig sich weigern, Ihren Taktfehler einzusehen und dabei bleiben, öffentlich und gedruckt dem Herrn Regierungspräsidenten Taktlosigkeit vorwerfen zu müssen; da in einem solch überheblichen Pharisäismus der Balken im eigenen Auge unbemerkt bleibt, ja bestritten wird, der Splitter im Auge des anderen aber derart hinausposaunt wird: bei dieser Lage der Dinge kann ich in der von Ihnen erwähnten persönlichen Aussprache nur eine Zeitvergeudung für uns beide sehen.
[…] Für mich ist damit die Angelegenheit endgültig, wenn auch negativ, erledigt, da ein Weiterspinnen solcher Dinge bestimmt fruchtlos ist.“

Auch in diesem Fall ist wieder typisch, daß der eigentliche Inhalt, um den es ging, überhaupt nicht thematisiert wurde. Stattdessen ging es wieder um „Takt“, es wird erneut der Vorwurf der „Beleidigung“ erhoben – kurz: Das eigentliche Problem ist immer, daß die Hierarchien nicht respektiert werden.

Vivace: Fassade „Autonomie“

Im Februar 1960 erscheint dann ein Artikel, der sich mit den Vorschlägen der CDU auseinandersetzt, die Autonomie der Hochschulen abzuschaffen. Daß solche Bestrebungen von Erfolg gekrönt sein könnten, befürchtet der Autor Werner Müller aufgrund der Zustände an den Universitäten selbst:

„Hinter der Fassade der Selbstbestimmung werden eigensüchtige Kämpfe um Institutseinrichtungen und Lehrstühle geführt. Man hält die Konkurrenz fern, man behauptet, es gäbe nicht genügend wissenschaftlich befähigten Nachwuchs. Während einsichtige Professoren das Kolleggeldsystem abschaffen wollen, geht Semester für Semester der Streit weiter, wer diesmal die Pfründe einer Großvorlesung schröpfen darf. Und während drinnen dieses Spiel getrieben wird, geht hinter den verschlossenen Türen der Ministerien den Hochschulen das Zepter der Autonomie verloren.“ ([6], S.1)

Natürlich ruft dies wieder einen Sturm der Entrüstung hervor, wieder sind „Würde und Ansehen der Universität“ in höchster Gefahr. Müller wird vor Gericht zitiert, erklärt dann in der nächsten Nummer, daß er unzulässig verallgemeinert habe und wirft den Bettel als Chefredakteur hin. Der Studentenrat verabschiedet daraufhin folgenden Text ohne Gegenstimme mit einer Enthaltung:

„Der Studentenrat bedauert außerordentlich den Rücktritt des im Februar einstimmig vom StR. gewählten Chefredakteurs der FSZ auf Grund der Vorfälle um den Artikel „Fassade Autonomie“ in der FSZ vom Februar 1960 (Nr. 2/10. Jg.). Der StR. bedauert weiterhin die Schwierigkeiten, die sich in der letzten Zeit im Verhältnis zwischen einigen Professoren und FSZ ergeben haben.
Der StR. ist der Meinung, da eine zu enge Anlegung des § 40 der Grundordnung der Albert-Ludwigs-Universität zu einer Beschränkung der allgemeinen Pressefreiheit, die nach Meinung des Studentenrates auch für die Studentenpresse innerhalb der Universität gilt, führen kann. Der StR. ist daher der Auffassung, daß die Arbeit der Redakteure nicht durch mittelbare oder unmittelbare Androhung eines Disziplinarverfahrens behindert werden sollte.“ (zit. nach [4], S.4)

Intermezzo

Nachdem die FSZ die zuletzt geschilderten Versuche, die studentische Meinungsfreiheit zu beschränken, 1960 in der Juni-Nummer dokumentierte, brach natürlich sofort wieder ein Sturm der Entrüstung los. Bei einer Rede zum 17. Juni behauptete der Rektor, die Studentenzeitung „mißbrauche das Vertrauen der Studentenschaft und den ihr ausgestellten Blankowechsel“ ([5], S.2). Die Redaktion interpretierte dies als einen Versuch, zwischen die Zeitung und die Studentenschaft einen Keil zu treiben. Politisch nicht ungeschickt stellte sie sich sofort einer Abstimmung des Studentenrates, der ihr mit 16 zu 7 Stimmen bei einer Enthaltung das Vertrauen aussprach.

Daraufhin kam es zu einem Gespräch zwischen der Redaktion und dem Rektor, bei dem es offenkundig hoch her ging. Nach diversen Ausfälligkeiten des Rektors steuerte die Unterredung offensichtlich auf einen beeindruckenden Höhepunkt zu, als er dem griechischen Redaktionsmitglied Nikos Hadjinicolaou das Wort verbot: „Sie sind besser ruhig! Darüber spreche ich nur mit Deutschen!“ ([5], S.2)

Ein derartiger Ausfall blieb selbst in den frühen 60er Jahren nicht völlig konsequenzlos. Neben der FSZ-Redaktion protestierten nun auch verschiedene studentische Hochschulgruppen, worauf es zu einem klärenden Gespräch zwischen dem Chefredakteur der FSZ und dem Rektor kam. Dieser betonte, seine Äußerungen

„seien keineswegs Ausdruck einer allgemeinen Ausländerfeindlichkeit gewesen, sondern bedingt durch die besonderen Gegenstände des Gesprächs; zum Teil hätten sie auch politische Motive gehabt, da Herr Hadjinicolaou dem Rektor zuerst durch den Verkauf von „konkret“ bekannt geworden war.
Seine Äußerung »er halte es überhaupt nicht für angängig, daß Ausländer in der Redaktion der Studentenzeitung seien«, nahm der Rektor zurück, wies aber auf den gebotenen Takt in politischen Fragen hin, den Ausländer in ihrer Heimat von Deutschen ebenfalls erwarten dürften.“ ([5], S.2)

Das eigentliche Problem hatte sich dadurch allerdings nicht erledigt, wie Hadjinicolaou in einem eigenen Artikel herausarbeitete:

„Unsere Beteiligung am deutschen Studentenleben für die deutsche Sache und die Wiedervereinigung ist also nur dann erwünscht, wenn wir eine bestimmte Meinung vertreten, wenn wir eine bestimmte Auffassung von der deutschen Spaltung und der Wiedervereinigung haben. […]
Wollen uns die deutschen Kommilitonen am Ende nur als Kuriosum und exotische Abwechslung benutzen, um ihre Langeweile zu bekämpfen? Wir möchten das nicht glauben. Wir werden […]  wie unsere deutschen Kommilitonen gegen jede Unterdrückung der Pressefreiheit an der Universität protestieren.“ ([3] , S.2)

Grund genug dafür gab es, denn Hadjinicolaou stand im Zentrum der konkret-Affäre, die uns nächste Woche beschäftigen wird. Lesen Sie deshalb auch nächste Woche weiter, wenn Amtmann Wagner zu Nikos sagt: „Sie sollten als Ausländer froh sein, daß Sie eine Aufenthaltserlaubnis haben!“ (zit. nach [2], S.7)

Literaturverzeichnis

[1] ck., „Peinlich“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.9 (1959), Nr.7: S.2.

[2] H. B., „“Konkret“-es II“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.10 (1960), Nr.5: S.7.

[3] Hadjinicolaou, N., „Ausländer und die deutsche Politik“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.10 (1960), Nr.5: S.2.

[4] Redaktion der Freiburger Studentenzeitung, „Dokumentation in eigener Sache“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.10 (1960), Nr.4: S.1 – 4.

[5] Redaktion der Freiburger Studentenzeitung, „Eine Erklärung – kein Widerruf!“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.10 (1960), Nr.5: S.2.

[6] W.M., „Fassade „Autonomie““, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.10 (1960), Nr.2: S.1.

Written by alterbolschewik

19. November 2011 at 13:08

Meinungsfreiheit, Würde und Beleidigungen

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„Ja, wenn man eine Reise tut, kann man was erzählen. Wenn man in den Osten fährt, kann man viel erzählen, aber noch mehr kann man dann über das erzählen, was man gemeinhin „Westen“ nennt.“

Heinz Walter, Chefredakteur der Freiburger Studentenzeitung 1957

Das Intermezzo letzte Woche darüber, daß Gewalt sich nicht nur in physischen Auseinandersetzung manifestiert, ist eine ganz gute Einleitung für den heutigen Beitrag, der nächste Woche noch eine Fortsetzung finden wird. Es geht darum, wie in den späten 50er und frühen 60er Jahren, Formen von höchstenfalls moderat abweichendem oder kritischem Verhalten in der Freiburger Studentenzeitung mit institutionellen Angriffen beantwortet wurden, die jede Verhältnismäßigkeit vermissen ließen.

Wie momorulez in einem Kommentar letzte Woche zurecht anmerkte, verengt dies den Blick auf die verhältnismäßig privilegierte Schicht der Studenten. Es müßte, zumindest in diesem Fall, dringend um das Bild ergänzt werden, welchen Schikanen Auszubildende in weniger privilegierten Bereichen der Gesellschaft ausgesetzt waren. Ich will versuchen, demnächst die recht gut belegten Angriffe auf die Meinungsfreiheit von Studenten um die sehr schlecht dokumentierte Perspektive von Lehrlingen zu ergänzen.

Ouvertüre: „Reporter des Satans“

Die Ouvertüre paßt noch nicht so ganz zum Rest der Auseinandersetzungen, die in der Folge dargestellt werden sollen. Der Konflikt ist hier eher innerhalb der Studentenschaft angesiedelt, zwischen AStA und Studentenrat auf der einen und dem Chefredakteur der Freiburger Studentenzeitung auf der anderen. Ich greife den Fall hier dennoch auf, weil er den repressiven Charakter der den Westen damals dominierenden antikommunistischen Paranoia recht gut exemplifiziert.

Seit 1947 veranstaltete der „Weltbund der demokratischen Jugend“ – eine stalinistische Vorfeldorganisation – in unregelmäßigen Abständen die „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“, eine kommunistische Propagandaveranstaltung. Es war natürlich in der BRD während des Kalten Krieges verpönt, sich an einer derartigen Veranstaltung zu beteiligen. Doch in der Tauwetterperiode in der Sowjetunion nach dem XX. Parteitag von 1956 entschloß sich der damalige Chefredakteur der Freiburger Studentenzeitung, Heinz Walter, ein Theologiestudent, die lächerliche antikommunistsche Doktrin zu mißachten und sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Und so reiste er im Juli 1957 nach Moskau.

In Moskau erfuhr er dann aus der dortigen Presse, daß der Studentenrat der Freiburger Universität ihn als Chefredakteur der Freiburger Studentenzeitung abgesetzt hatte – eine entsprechende Presseerklärung hatte der Studentenrat an die Deutsche Presseagentur gegeben, das Ganze erschien in einer Reihe von westdeutschen Blättern und wurde von der stalinistischen Propaganda dankbar aufgenommen ([4], S.7).

Die Begründung dafür liefert der AStA-Vorsitzende:

„Herr Walter hat eine offizielle Einladung zu den Moskauer Festspielen angenommen in seiner Eigenschaft als Chefredakteur der Freiburger Studentenzeitung. Diese Moskauer Weltjugendfestspiele trugen unmißverständlich kommunistisch-propagandistischen Charakter.
Ich bin auch heute noch der Meinung, daß die eindeutig ablehnende Haltung der westdeutschen Studentenschaft gegenüber dem kommunistischen System in Frage gestellt wird, wenn offizielle Einladungen zu solchen Propaganda-Veranstaltungen angenommen werden.“ ([1], S.8)

Und so wurde Heinz Walter nicht nur seinen Posten als Chefredakteur der Studentenzeitung, sondern auch seinen Job in der Herder-Druckerei los. Diese betonte natürlich, wie die Freiburger Studentenzeitung in aller Naivität auch noch abdruckte, daß diese Entlassung mit der Moskauer Angelegenheit absolut nichts zu tun habe.

Allegro Furioso: Eine Kette wird umgehängt

Die klassische Konfliktsituation tritt dann zum ersten Mal 1959 auf: Mit Kritik an institutionellen Würdenträgern wird knallhart ins Gericht gegangen, wobei auf jede inhaltliche Auseinandersetzung verzichtet wird, sondern immer auf die Form abgehoben wird. Sehr gern wird die „Verletzung der Würde“ von irgendetwas oder irgendjemand angeprangert, der Vorwurf der „Beleidigung“ folgt dann auf dem Fuß.

In der Juni-Nummer von 1959 erscheint der Artikel „Eine Kette wird umgehängt“, der die feierliche Rektoratsübergabe zu Beginn des Sommersemesters kritisiert. Es ist durchaus bezeichnend, daß der eigentliche Kritikpunkt des Autors in der folgenden Debatte überhaupt nicht angesprochen wird: Es geht ihm um die Entfremdung zwischen dem Lehrkörper und den Studenten. Alle Kritikpunkte des Artikels spitzen sich auf diese Frage zu und münden in die Feststellung:

„Aber binnen eines Jahres wird sich der ganze Zauber sicherlich wiederholen. Am besten wäre es, die Studenten gleich gar nicht einzuladen.“ ([3], S.2)

Doch statt auf diese Kritik einzugehen, bezieht sich die ganze Aufregung auf den mittleren Teil des Artikels, in dem die Rechenschaftslegung des scheidenden Rektors Vögtle kritisiert wird. Auch hier bemängelt der Autor, daß nicht die Studenten angesprochen würden, sondern allein die anwesenden Honoratioren aus Politik und Wirtschaft. Zudem wird die Frage aufgeworfen, ob es wirklich sein muß, „daß sich der Jahresüberblick des abtretenden Rektors anhört wie der Geschäftsbericht einer industriellen Unternehmung“ ([3], S.2).

Mehr wird nicht gesagt. Eigentlich ist die Harmlosigkeit des Artikels nicht zu überbieten. Und er ist inhaltlich auf jeden Fall durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Doch schon am 10. Juni schreibt der AStA an die Studentenzeitung, daß er den Artikel für „beleidigend“ halte. Er sieht darin einen „unberechtigten Angriff auf den Prorektor Herrn Prof. Dr. Anton Vögtle, der sich um die Zusammenarbeit zwischen Studentenschaft und Rektorat und um die Gesamtanliegen unserer Universität große Verdienste erworben hat.“ (zit. nach [2], S.2)

Die Reaktion des AStA zeigt, daß hier, wie schon beim oben geschilderten Fall, durchaus Konflikte innerhalb der politisch interessierten Studentenschaft existierten. Doch der eigentliche Konflikt wird jetzt zwischen der Studentenzeitung und dem Rektorat ausgetragen. In einem Schreiben vom 11. Juni stößt der Rektor der Universität in das selbe Horn wie der AStA, wenn er ebenfalls feststellt, daß der Artikel „eine Beleidigung des bisherigen Rektors und jetzigen Prorektors, Herrn Prof. Dr. Vögtle, darstellt.“ (zit. nach [2], S.2). Sowohl AStA wie auch Rektor fordern eine Entschuldigung in der nächsten Nummer der Zeitschrift.

Worin eigentlich der für Vögtle beleidigende Charakter des Artikels liegen soll, wird in keinem der Schreiben erwähnt, und auch dem Leser erschließt sich dieser überhaupt nicht. Dieser Meinung ist auch der Studentenrat, der die Angelegenheit am 15. Juni diskutiert. Allenfalls sei „in gewissen Formulierungen eine Verletzung der Würde des Herrn Prorektors zu erblicken“ gewesen, eine Entschuldigung halte der Studentenrat allerdings nicht für „wünschenswert“ (zit. nach [2], S.2)

Dies teilt der Chefredakteur der Studentenzeitung dann dem Rektor mit und beruft sich in seiner Antwort auf das Recht der freien Meinungsäußerung sowie auf den Berliner Professor von der Gablentz, den wir vor zwei Wochen bereits bei der Kuby/Krippendorff-Affäre kennengelernt haben:

„Herr Prof. von der Gablentz hat am 17. Juni den Freiburger Studenten zugerufen, sie sollten ruhig »Unruhe in den Betrieb« bringen. Er sagte wörtlich: »Wenn wir keine Unruhe in den Betrieb bringen, dann haben wir unsere Pflicht nicht getan.«“ (zit. nach [2], S.2)

Darauf hin rastet der Rektor aus. Am 23. Juni schreibt er an den Chefredakteuer Martin Schmid:

„Eine Berufung auf das Recht der freien Meinungsäußerung, das durch das Grundgesetz garantiert ist, ist in keiner Weise gerechtfertigt, und ich muß mich wundern, daß Sie, sehr geehrter Herr Schmid, als Chefredakteur einer Studentenzeitung Kritik mit urteilsloser und dazu geschmackloser Lächerlichmachung einer ernsten Angelegenheit, wie sie der Jahresbericht eines Rektors darstellt, verwechseln. […] Ihre Berufung auf die Ausführung des Herrn Prof. v. d. Gablentz am 17. Juni zeigt mir, daß Sie auch diesen Redner offensichtlich falsch verstanden haben. »Bringen Sie Unruhe in den Betrieb« – dagegen wird kein Rektor etwas zu sagen haben. Aber ich verbitte es mir, daß meine Amtsvorgänger in so unqualifizierter Weise und völlig ungerechtfertigt angegriffen werden.“ (zit. nach [2], S.2)

Zudem erhält der Chefredakteur eine Vorladung zum Disziplinarbeamten der Universität. Und so sieht sich die Redaktion gezwungen, trotz vorangegangener Rücktrittsdrohungen, nachzugeben und eine unterwürfige Entschuldigung abzudrucken. Das Sahnehäubchen für diese Angelegenheit liefert dann der ehemalige Rektor Vögtle ab, der Martin Schmid zu guter Letzt wissen läßt:

„Was mich persönlich betrifft, ist die Angelegenheit hiermit selbstverständlich erledigt. Ich bedaure nur, daß Sie durch Ihr impertinentes Verhalten Seiner Magnifizenz und nicht weniger Ihren loyal gesinnten Kommilitonen des AStA und Studentenparlaments unnötige Scherereien bereitet haben.“ (zit. nach [2], S.3)

Lesen Sie auch nächste Woche weiter, wenn sich der Studentenrat auf die Hinterbeine stellt, und feststellt, „daß die Arbeit der Redakteure nicht durch mittelbare oder unmittelbare Androhung eines Disziplinarverfahrens behindert werden sollte.“ (zit. nach [2], S.4)

Literaturverzeichnis

[1] Niemann, H., „An die Freiburger Studentenzeitung“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.7 (1957), Nr.7: S.8.

[2] Redaktion der Freiburger Studentenzeitung, „Dokumentation in eigener Sache“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.10 (1960), Nr.4: S.1 – 4.

[3] sd., „Eine Kette wird umgehängt“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.9 (1959), Nr.4: S.1 – 2.

[4] Walter, H., „“Reporter des Satans“?“, in: Freiburger Studentenzeitung, Jg.7 (1957), Nr.6: S.7.

Written by alterbolschewik

11. November 2011 at 15:44

Pleased to meet you

with 5 comments

Pleased to meet you
Hope you guess my name
But what’s puzzling you
Is the nature of my game
The Rolling Stones: Sympathy For The Devil

Dank der freundlichen Erlaubnis von che und momorulez habe ich die Möglichkeit erhalten, künftig einige meiner mehr oder weniger relevanten Betrachtungen in diesem Blog zu veröffentlichen. Und da gebietet es zunächst einmal die Höflichkeit, mich vorzustellen und zu erklären, was zum Teufel ich hier eigentlich vorhabe.

Im analogen Leben macht der Alte Bolschewik seinem Namen alle Ehre: Tatsächlich ist er nicht mehr der Allerjüngste und seine Herkunft ist korrekt proletarisch. Konkret heißt das, der vierzigste Geburtstag ist schon länger her als es noch bis zum fünfzigsten dauert. Und das erste Jahrzehnt seines Lebens wuchs er in der Werkssiedlung der Landmaschinenfabrik auf, in der beide Elternteile arbeiteten.

Mit zehn Jahren allerdings wurde die Erfahrung des Arbeiterdaseins durch die intime Kenntnis des bäuerlichen Lebens ergänzt: Die Eltern zogen auf’s Dorf; das war ein katholischer Wallfahrtsort, der in dem einzigen Landkreis liegt, in dem die CDU bei den jüngsten Landtagswahlen in Baden-Württemberg statt zu verlieren Stimmen hinzugewonnen hat.

Für meine politische Sozialisation ausschlaggebend waren die einzigen zwei linken Publikationen, die mir in dieser Gegend zur Verfügung standen: Die damals von dem Trotzkisten Jakob Moneta herausgegebene IG-Metall-Zeitung, die mein Vater als überzeugtes Gewerkschaftsmitglied immer nach Hause mitbrachte; und der „Motzer“ – eine dieser Alternativzeitungen, wie sie in den 70er und frühen 80er Jahren als „Gegenöffentlichkeit“ überall, selbst in Oberschwaben, existierten (herausgegeben wurde der „Motzer“ übrigens von Oswald Metzger, der damals in der SPD war, dann als „Finanzexperte“ für die Grünen im Bundestag saß und jetzt Mitglied der CDU und der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ist; auch eine oberschwäbische Karriere).

Die durch das Elternhaus vorgegebene grundsätzlich linke Ausrichtung führte dann während des Studiums ins linksradikale Lager, konkreter: In das der Autonomen. Jesses, war ich vielleicht stolz, als ein von mir verfaßtes Flugblatt explizit im Verfassungsschutzbericht zitiert wurde. Allerdings machte ich in der Folge die von che und netbitch in diesem Blog schon öfter thematisierte Erfahrung, daß die ursprünglich sehr vergnügliche Lebensweise eines autonomen Staatsfeindes gegen Ende der 80er Jahre durch einen protestantisch-lustfeindlichen moralischen Rigorismus verdrängt wurde, der meinem katholisch-barocken Naturell wenig entgegenkam. Die Polit-Szene wurde für mich immer nebensächlicher, während ich mich zunehmend (theoretisch und praktisch) der Musik widmete. Die verfassungsfeindlichen Aktivitäten ließen nach und irgendwann schloß ich dann mein Philosophiestudium mit einer Arbeit über den frühen Marx ab. Seither verkaufe ich einen (möglichst geringen) Teil meiner Arbeitskraft, um die Sachen zu finanzieren, die mir wirklich Spaß machen.

Und eine der Sachen, die mir wirklich Spaß machen, will ich in diesem Blog nachgehen: Nämlich über den Zusammenhang von politischen Bewegungen und Philosophie nachzudenken. Konkret heißt das für die nächste Zeit, daß ich mir so einige Gedanken darüber machen will, was die anti-autoritären Bewegungen der 60er und 70er Jahre ausmachte und welche Zusammenhänge zwischen politischer Bewegung und Philosophie existieren. Mein Augenmerk richtet sich dabei im Kern auf die Marxrezeption dieser Jahre; aber ich bin sicher, daß dabei auch die sogenannten „Postmodernen“ mehr als nur gestreift werden – und daß sich da erstaunliche Parallelen auftun.

Ich habe che und momorulez gebeten, das auf shiftingreality tun zu dürfen, weil ich zum einen glaube, daß hier das richtige Forum dafür ist und zum anderen, weil dieses Blog in letzter Zeit nicht gerade durch Aktivität aufgefallen ist – was ich schade finde. Mir jedenfalls liegt sehr viel an einer solchen Debatte; und wenn der eine oder die andere Zeit findet, gegen meine manchmal vielleicht allzu steilen Thesen Einspruch zu erheben, würde mich das sehr freuen. Ebenso, wenn die anderen Mitglieder dieses Blogs dadurch ermuntert würden, selbst wieder in die Tasten zu greifen…

Written by alterbolschewik

1. April 2011 at 11:22

STERNSTUNDE

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Eine absolute Sternstunde hatten wir 1992 im Seminar für Politikwissenschaft, als über die bevorstehende Asylrechtsabschaffung diskutiert wurde und ein RCDSler meinte, die vielen Asylbewerber wären für den steuerzahler einfach eine finanzielle belastung, die nicht zu verkraften sei. Ein Freund und Genosse von mir erwiderte darauf, verglichen mit den 17 Millionen Wirtschaftsasylanten, die die BRD 1990 aufgenommen hätte wären die doch ein Klacks. Unser Gegenüber war sprachlos und doch nahe an der Raserei.

Mal wieder Kraushaar lesen

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Sehr erhellend fand ich ja diese Beitrag, bei dem sich mir die Frage stellte, wie das denn jetzt ist und ob es nicht an der Zeit sei, zumindest teilweise den ursprünglichen Impetus der 68er wieder aufzugreifen – unter veränderten Zeitzeichen latürnich:

http://www1.bpb.de/publikationen/N86ETU,2,0,Denkmodelle_der_68erBeweg

Steht der Iran vor einer neuen Revolution?

with 8 comments

Bezeichnend, dass sich in der Blogwelt bislang eher wenige Leute dazu Gedanken zu machen scheinen, außer halt IranerInnen.