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Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Archive for Juni 2012

Symbole (3)

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„Die eigentlichen Symbole sind vor- und nachher unaufgelöste Aufgaben.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik

Wir hatten in der letzten Folge gesehen, daß sich die Symbole von sprachlichen Zeichen dadurch unterscheiden, daß Signifikant und Signifikat nicht willkürlich aufeinander bezogen sind, die Bedeutung nicht von der konkreten Gestalt des Symbols unabhängig ist und vice versa. Der Vater etwa als Symbol ist einerseits die konkrete patriarchale Autorität, andererseits aber auch der Repräsentant von Recht und Ordnung im Allgemeinen. Das eine ist aber vom anderen nicht deutlich geschieden; das Symbol oszilliert zwischen dem Konkreten und dem Allgemeinen, zwischen der Unmittelbarkeit der Erfahrung und dem nur stellvertretenden Charakter dieses konkreten Symbols.

Für Hegel macht dieses Oszillieren die Schwäche des Symboles aus, ihm fehlt die Klarheit, die für ihn die klassische Kunst dann auszeichnen soll. Er konstatiert, daß

„im Symbolischen die Bedeutung dunkel bleibt und etwas anderes enthält, als das Äußere, an dem sie sich darstellen soll, unmittelbar gibt.“ ([2], S. 66)

Beim Symbol weiß man nie, ob man es mit dem Ding selbst oder einer von diesem geschiedenen, allgemeinen Bedeutung zu tun hat. Die Symbole sind somit tastende Versuche, das Absolute (für Hegel: den Geist) in sinnlicher Gestalt zu repräsentieren. Diese Versuche müssen aber aufgrund der Bindung an starre, konkrete Dinge notwendig unbefriedigend bleiben. Erst die klassische griechische Kunst, die das Göttliche in menschlicher Gestalt repräsentiert, ist in der Lage, die Fülle des Geistes sinnlich erfahrbar zu machen.

Im Gegensatz dazu ist die symbolischen Kunst, selbst in ihrer vollendetsten Form, der ägyptischen, nicht in der Lage, die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Geist zu überbrücken. Zwar repräsentiert die ägyptische symbolische Kunst eine transzendente Götterwelt, doch diese wird durch die Symbolisierung nicht verständlich, sondern bleibt geheimnisvoll und rätselhaft:

„In diesem Sinne sehen wir es den ägyptischen Kunstwerken an, daß sie Rätsel enthalten, für welche zum Teil nicht nur uns, sondern am meisten denen, die sie sich selber aufgaben, die rechte Entzifferung nicht gelingt.“ ([1], S. 465)

Mit anderen Worten: Die alten Ägypter versuchten mit ihrer Kunst etwas zu fassen, was jenseits ihrer historischen Möglichkeiten, es zu begreifen, lag.

„Die Werke der ägyptischen Kunst in ihrer geheimnisvollen Symbolik sind deshalb Rätsel, das objektive Rätsel selbst. Als Symbol für diese eigentliche Bedeutung des ägyptischen Geistes können wir die Sphinx bezeichnen. Sie ist das Symbol gleichsam des Symbolischen selbst.“ ([1], S. 465)

Die klassische Kunst hingegen ist die Überwindung dieses Rätsels. Die Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Symbole soll verschwinden. Es ist der Mythos, der sich mit seiner Linearität der Erzählung dem Rätselcharakter der Symbole entgegenstellt. Im Mythos von Ödipus ist diese zerstörung der symbolischen Kunst eingefangen:

„In diesem Sinne ist es, daß die Sphinx in dem griechischen Mythos […] als das Rätsel aufgebende Ungeheuer erscheint. […] Ödipus fand das einfache Entzifferungswort, daß es der Mensch sei, und stürzte die Sphinx vom Felsen. Die Enträtselung des Symbols liegt in der anundfürsichseienden Bedeutung, dem Geist, wie die berühmte griechische Aufschrift dem Menschen zuruft: Erkenne dich selbst!“ ([1], S. 465f)

In der klassischen Kunst verschwindet die Rätselhaftigkeit der Symbole, ihre unklare Mehrdeutigkeit:

„Denn die klassische Schönheit hat zu ihrem Inneren die freie, selbständige Bedeutung, d. i. nicht eine Bedeutung von irgend etwas, sondern das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende.“ ([2], S. 13)

Die klassische Kunst ist ohne weiteres zugänglich, ein offenes Buch; hier sind die wohlgerundeten, in sich ruhenden Werke zu finden, die rein aus sich selbst zu verstehen sind. Daß dies das bürgerliche Kunstideal des frühen 19. Jahrhunderts war, das von Hegel auf die griechische Kunst projiziert wurde, ist offensichtlich.

Was fängt nun Henri Lefebvre mit dieser Hegelschen Interpretation des Symbols an? Er stellt sie, um die berühmte Phrase zu gebrauchen, vom Kopf auf die Füße. Ich hatte schon vor einiger Zeit auf Lefebvres Ablehnung des klassizistischen Ideals hingewiesen. Klassizismus ist für ihn die Kunst der etablierten Ordnung. Er weist nicht über sich hinaus, sondern bestätigt das, was ist.

Das Symbol in seiner Uneindeutigkeit und Rätselhaftigkeit weist über das Bestehende hinaus. Es ist eine Aufforderung, sich Fragen zu stellen, sich von der scheinbaren Klarheit und Eindeutigkeit der klassischen Kunst zu distanzieren. Also gerade das, was Hegel am Symbol bemängelt, macht für Lefebvre dessen Stärke aus: Es ist rätselhaft und bringt damit Unruhe herein.

In der Kunst ist es die Romantik, die sich auf Symbole stützt, um mit deren Hilfe das Gegebene zu übersteigen:

„Die Klassik geht von den Mythen aus und expliziert sie im Sinne der anerkannten Ordnung, auch wenn sie diesen Sinn ursprünglich nicht aufweisen. Die Romantik hingegen stützt sich eher auf Symbole denn auf Mythen.“ ([3], S. 337)

Die Symbole werden in der romantischen Bearbeitung zu Kristallisationskernen, an denen sich die Ablehnung der etablierten Ordnung manifestiert:

„Der romantische Künstler operiert bereits mit bestehenden und spezifizierten Symbolismen unter Vernachlässigung der Mythen, Begriffe und Normen. Er akzeptiert gesellschaftliche Symbole und auf Gesellschaftliches bezogene Bilder insoweit, als er ihren historischen und objektiven Gehalt als den seines privaten Bewußtseins nimmt und sein eigenes – unbewußtes oder bewußtes – Verhältnis zur Natur in jene Bilder hineinträgt. Er »ersetzt« das Objektive durch das Subjektive, die Begriffe durch das Bild,die Idee durch das Gefühl.“ ([3], S. 338)

Der Clou an der ganzen Sache ist, daß dieses völlig individualisierte künstlerische Gestalten aufgrund dessen, daß es durch die Symbole geerdet ist, keineswegs partikular ist, im Gegenteil:

„Was so entsteht, ist ein emotioneller Realismus. Die Kontingenz entwickelt aus sich heraus eine neue Notwendigkeit. Obwohl er sich subjektiv außerhalb der Geschichte und des Gesellschaftlichen stellt, fängt der Romantiker beides ein.“ ([3], S. 339)

Weit davon entfernt, Weltflucht zu sein, expliziert die Romantik mit Hilfe der Symbole das, was die mit dem Mythos einsetzende Aufklärung verdrängt hat.

Freuen Sie sich also nächste Woche darauf, daß Henri Lefebvre erklärt:

„Die Romantik hat ihr ästhetisches Projekt auf Symbole gegründet, die an sich nicht ästhetischer, sondern sozialer Natur waren. […] Die Kunst setzte einen schöpferischen Entfaltungsprozeß fort, der jenseits und diesseits von ihr entstanden war: die Bearbeitung von Symbolen und »affektiven Kernen« des gesellschaftlichen Daseins.“ ([3], S. 339)

Nachweise

[1] Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über die Ästhetik I“, in: Hegel, G. W. F., Theorie Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970.

[2] Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über die Ästhetik II“, in: Hegel, G. W. F., Theorie Werkausgabe Bd. 14, Frankfurt a. M. 1970.

[3] Lefebvre, H.: „Einer neuen Romantik entgegen?“, in: Lefebvre, H., Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt a.M. 1978, S. 267 – 379.

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29. Juni 2012 at 15:48

Veröffentlicht in Henri Lefebvre

Symbole (2)

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„Symbol überhaupt ist eine für die Anschauung unmittelbar vorhandene oder gegebene äußerliche Existenz, welche jedoch nicht so, wie sie unmittelbar vorliegt, ihrer selbst wegen genommen, sondern in einem weiteren und allgemeineren Sinne verstanden werden soll.“

G.W.F. Hegel, Ästhetik

Ich hatte bereits letzte Woche darauf hingewiesen, daß ich mich mit der Interpretation von Lefebvres Theorie der Symbole auf ziemlich dünnem Eis bewege. Ich halte das dennoch für außerordentlich wichtig, denn ohne diese Theorie der Symbole – egal ob man diese dann für plausibel halten mag oder nicht – ist die Theorie der Momente unvollständig und kann zu gewaltigen Irrtümern verführen.

Man verstünde die Momente – die in der Strategie eines revolutionären Romantizismus eine tragende Rolle spielen – völlig falsch, wenn man sie nur als subjektiven, voluntaristischen Akt würde. Ich habe in den letzten Wochen mit einer ganzen Reihe von Leuten über diese Lefebvresche Theorie diskutiert und feststellen müssen, daß ich selbst ziemliche Schwierigkeiten habe, zwei zentrale Punkte dieser Theorie klar und deutlich zu entwickeln.

Das eine ist die Frage nach der Objektivität des individuellen Momentes. Wenn sich darauf eine revolutionäre Hoffnung (vielleicht sogar eine Strategie) gründen soll, kann das Moment kein einfacher voluntaristischer Akt sein, sondern muß über ein objektives Fundament verfügen. Und die zweite Frage ist die, wie sich, einmal vorausgesetzt, die Objektivität des Momentes sei begründet, sich aus dieser individuellen Erfahrung ein kollektives Handeln begründen ließe.

Lassen wir zunächst die zweite Frage außen vor und versuchen zunächst mit Lefebvre die erste Frage zu beantworten. Für ihn ist das Moment kein voluntaristischer Akt, auch wenn es eine initiierende freie Entscheidung voraussetzt. Denn diese Entscheidung ist gebunden an eine konkrete Möglichkeit, die abgelehnt oder ergriffen werden kann. Und diese konkrete Möglichkeit ergibt sich keineswegs aus einer völlig subjektiven Situation, sondern muß, damit sie sich zum Moment verdichten kann, bereits als Blaupause vorliegen. Ich habe bereits vor zwei Wochen auf den objektiven Charakter des Momentes verwiesen und es vom Ereignis und der Situation abgegrenzt: Wenn ich mich verliebe, dann ist das nichts, was ich mir selbst ausdenke, denn schon bevor ich mich das erste Mal verliebe, habe ich die entsprechenden Bilder im Kopf, die mich anleiten. Ich bewege mich dabei in einem kulturell und historisch geformtem Rahmen, der meiner ganz subjektiven Entscheidung allgemeine Objektivität verleiht. Die Form, die meine Entscheidung annehmen kann, ist vor der Entscheidung bereits gegeben, ja, sie eröffnet überhaupt erst den Raum, der eine Entscheidung ermöglicht.

Daraus ergibt sich die Aufgabe zu verstehen, wie diese Bilder entstehen, die uns überhaupt die Möglichkeit zur Entscheidung erlauben. Es geht darum, den (nicht ontologischen) Grund zu finden, der das Möglich-Unmöglichen als Alternative zur Alltäglichkeit zuläßt. Und diesen Grund finden wir im Symbol, mit dessen Theorie letzte Woche gegonnen wurde.

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß Lefebvres Theorie des Symbols ganz wesentlich durch Hegels Ästhetik geprägt ist. Lefebvre ist sich mit Hegel darin einig, daß die Kunst aus sich selbst zu ihrer Aufhebung drängt, denn das, was Kunst eigentlich will, ist nicht innerhalb der Kunst zu haben. Nur in ihrer Aufhebung realisiert sich die Kunst selbst.

Nun unterscheidet sich die Hegelsche Auffassung darüber, worum es in der Kunst geht, ziemlich grundlegend von der Lefebvres. Für Hegel ist es das Ziel der Kunst, die absolute Idee in sinnlicher Gestalt darzustellen. Es kommt also darauf an, im Sinnlichen über das Sinnliche hinauszugehen. Und genau dies ist der Anfang der Kunst, wie er sich in der symbolischen Kunstform ergibt, die die Kunst sogenannter „primitiver“ Epochen ist:

„Die abstrakte Idee hat in dieser Form ihre Gestalt außerhalb ihrer in dem natürlichen sinnlichen Stoff, von welchem nun das Gestalten ausgeht und daran gebunden erscheint. Die Gegenstände der Naturanschauungen werden einerseits zunächst gelassen, wie sie sind, doch zugleich wird die substantielle Idee als ihre Bedeutung in sie hineingelegt, so daß sie nun dieselbe auszudrücken den Beruf erhalten und so interpretiert werden sollen, als ob in ihnen die Idee selbst gegenwärtig wäre.“ ([1], S. 107f)

Als Symbole laden sich die Dinge – zumindest bestimmte Dinge – mit zusätzlicher Bedeutung auf. Die Sonne als Symbol ist – besonders für agrarische Gesellschaften – eben nicht nur ein Himmelskörper. Sie ist ein Symbol für das Leben schlechthin, weshalb sie selbst zum Gegenstand der Verehrung werden kann. Allerdings ist die Sonne als Symbol völlig ungeschieden von ihrer Bedeutung: Die Sonne ist unmittelbar die lebensspendende Kraft, als die sie verehrt wird. Insofern ist sie in den Augen Hegels noch kein wirkliches Symbol: Es fehlt die Differenzierung zwischen Bedeutung und Gestalt. Für das Symbol im eigentlichen Sinn ist entscheidend,

„daß die Identität der Bedeutung und ihres realen Daseins keine mehr unmittelbare, sondern eine aus der Differenz hergestellte und deshalb nicht vorgefundene, sondern aus dem Geist produzierte Einigung ist.“ ([1], S. 453)

Im Gegensatz zu primitiveren Formen der menschlichen Kultur, wo das Ding unmittelbar als göttlich betrachtet wird, ist im echten Symbol das Bewußtsein der Differenz vorhanden. Das Symbol wird als Zeichen begriffen, es drückt etwas aus, das anders nicht ausdrückbar wäre, aber es ist nicht mit diesem Ausdruck identisch:

„Das bloß Natürliche und Sinnliche stellt sich selbst vor, das symbolische Kunstwerk dagegen, mag es Naturerscheinungen oder menschliche Gestalten vors Auge bringen, weist sogleich aus sich heraus auf anderes hin, das jedoch eine innerlich begründete Verwandtschaft mit den vorgeführten Gebilden und eine wesentliche Bezüglichkeit auf sie haben muß.“ ([1], S. 454)

Hegel erwähnt hier interessanterweise neben Zahlen- oder Tiersymbolik unter anderem beispielhaft

„labyrinthische Gänge als Symbol für den Kreislauf der Planeten, wie auch Tänze in ihren Verschlingungen den geheimeren Sinn haben, die Bewegungen der großen elementarischen Körper symbolisch nachzubilden.“ ([1], S. 455)

Konkret erfahrbare Dinge sind gleichzeitig mit Bedeutung aufgeladen und bringen diese Bedeutung zum Ausdruck. Für Lefebvre ist es die direkte Aufladung der alltäglichen Erfahrung mit einem über diese hinausgehenden Sinn, die die Symbole so interessant macht:

„Was uns als paradox erscheint, ist es nicht gerade der Umstand, daß in einer solchen Gesellschaft das Alltagsleben weder von den Symbolismen getrennt noch mit ihnen vermengt war? Der »Primitive« wußte sehr genau, wann und wie er es mit der Quelle oder dem Berg als heiligen Mächten zu tun hatte und wann mit der Quelle oder dem Berg im profanen und praktischen Leben. Profanes und Heiliges, Alltägliches und Symbolisches gingen nicht durcheinander und traten auch nicht auseinander.“ ([2], S. 136)

Als Symbole führen konkrete Dinge ein substantielles Leben – sie sind sie selber und repräsentieren gleichzeitig etwas anderes. Gegenüber den sprachlichen Zeichen sind die Symbole deutlich mächtiger, denn sie haben nicht nur eine Bedeutung. Denn da sie ihre Bedeutung in ihrer äußeren Gestalt selbst direkt ausdrücken, sind sie, anders als die sprachlichen Zeichen, direkte Träger von Sinn. Dieser expressive Charakter der Symbole sorgt dafür, daß sie, anders als die Sprache, die Sinn erst im Diskurs konstituiert, unmittelbar affektiv wirken. Sie durchdringen das Alltagsleben unmittelbar und laden dieses mit Sinn auf.

Seien Sie also gespannt darauf, wenn Henri Lefebvre nächste Woche erklärt:

„Was also bliebe uns anderes, als nach den Werken der Vergangenheit zu greifen? Sie interessieren uns nicht nur, sie faszinieren uns, und wir wenden uns an sie mit der verzweifelten Bitte um Sinn und Stil.“ ([2], S. 157)

Nachweise

[1] Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über die Ästhetik I“, in: Hegel, G. W. F., Theorie Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970.

[2] Lefebvre, H., Kritik des Alltagslebens – Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit II, Kronberg/Ts. 1977.

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22. Juni 2012 at 12:13

Veröffentlicht in Henri Lefebvre

Symbole (1)

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„Jedes Symbol hat, isoliert gefaßt, seine eigene Wirkung und sein besonderes Prestige. […] Es zieht einen ganzen Schweif von Affekten und Imaginationen nach sich.“

Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens

Ich hätte das vielleicht schon längst sagen sollen: Was ich hier über Henri Lefebvres Theorie der Momente erzähle, ist kein einfaches Referat seiner Konzeption, sondern eine Interpretation. Natürlich habe ich mich, so gut es ging, an seine Darstellungen in La somme et le reste ([2], S. 233ff, S. 335ff, S. 637ff) bzw. der Kritik des Alltagslebens ([3], S. 176ff) gehalten. Und ich bin ganz zuversichtlich, daß das, was ich bislang dargestellt habe, sich auch weitgehend mit dem von Lefebvre Intendierten deckt. Doch wenn ich im Folgenden versuchen will, den Zusammenhang der Theorie der Momente mit Lefebvres Theorie des semantischen Feldes darzustellen, komme ich etwas ins Schwimmen. Das liegt (nicht ausschließlich) an meiner Unfähigkeit, sondern ist in den Texten selbst begründet.

Lefebvres Schreibweise ist essayistisch, auch die umfangreicheren Werke folgen keiner strengen Darstellungslogik, sondern sind aus scheinbar unzusammenhängenden, fragmentarisch wirkenden Textteilen zusammengestellt. Dahinter steckt keineswegs ein systematisches Unvermögen Lefebvres, sondern Absicht. In dieser Art der Darstellung kommt seine an Nietzsche geschulte und in der Kritik des Stalinismus geschärfte Abneigung gegen philosophische Systeme jedweder Art zum Ausdruck. Die einzelnen Bruchstücke seiner größeren Werke verweisen zwar implizit aufeinander, doch der explizite Zusammenhang bleibt bewußt unausgesprochen. Es gibt kein Lefebvresches „System“.

Die expliziten Verweise zwischen der Theorie der Momente und der Theorie des semantischen Feldes sind deshalb rar und lassen gewaltige Interpretationsspielräume offen. Ich kann deshalb nicht mehr machen als dem geneigten Publikum meine sehr subjektive Sicht auf diesen Zusammenhang vor- und zur Diskussion zu stellen.

Vordergründig ist die Theorie des semantischen Feldes eine Kritik der strukturalistischen Linguistik, wie sie in der Nachfolge von Ferdinand de Saussure damals ziemlich en vogue war. Für diese strukturalistische Linguistik bestehen die Zeichen aus zwei Komponenten, nämlich dem Signifikanten und dem Signifikat, dem (willkürlichen) Bezeichner einerseits und der damit gemeinten Bedeutung andererseits. Wo im Deutschen der Bezeichner „Stuhl“ verwendet wird, nimmt der Angelsachse den Bezeichner „chair“ und der Franzose „chaise“. Die Bedeutung ist aber immer die selbe, nämlich die Vorstellung eines bestimmten Sitzmöbels. Der Zusammenhang zwischen dem Bezeichner und dem Bezeichneten ergibt sich also nicht unmittelbar aus dem Bezeichner, sondern erst im Zusammenhang der Sprache als Ganzer. Platt ausgedrückt: Bedeutung entsteht nicht dadurch, daß Laute (oder Schriftbilder) auf Dinge bezogen werden, sondern daß diese Bezeichner in die Struktur der Sprache eingebettet sind. Es ist der innersprachliche Zusammenhang, der Bedeutung generiert, nicht der Verweis auf Außersprachliches.

Doch der strukturalistische Aspekt soll uns hier gar nicht so sehr interessieren (obwohl Lefebvre auch ein vehementer Kritiker des Strukturalismus war); ich will mich vielmehr auf einen anderen Aspekt von Lefebvres Kritik an diesem Modell konzentrieren. Lefebvre kritisiert nämlich daran, daß die Natur des Zeichens in dieser Theorie viel zu eng gefaßt ist. Lefebvre zufolge ist das semantische Feld, also der weite Raum der Zeichen, durch sehr unterschiedliche Zeichentypen charakterisiert, die sich in ihren Extremen gewaltig unterscheiden. Das sprachliche Zeichen, das der strukturalen Linguistik als Modell dient, ist für ihn eher im Mittelfeld angesiedelt, während die Pole des semantischen Feldes vom Signal auf der einen und dem Symbol auf der anderen Seite gebildet werden.

Am einfachsten ist es, wenn wir uns der Theorie des semantischen Feldes von der Seite des Signals her nähern:

„Das Signal hat eine vollständig fixierte und fixe, definierte und definitive, präzise und imperative Bedeutung; es verknüpft zwei sich ausschließende »Möglichkeiten«: Verbot die eine, Gebot die andere. Zweck der Signale ist die Konditionierung von Verhaltensweisen; sie bilden geschlossene Systeme, die, ohne Vermischung sich akkumulierend, die Alltäglichkeit programmieren.“ ([4], S. 298)

Das Signal hat, anders als das (sprachliche) Zeichen, eben keine Bedeutung im strengen Wortsinne. Es dient allein der Konditionierung. Bestes Beispiel dafür ist die Verkehrsampel: Bei rot stehen, bei grün gehen. Da gibt es nichts zu interpretieren. Ich kann vielleicht die Situation, in der das Signal erscheint, interpretieren und bei rot über die Straße gehen. Doch das Signal selbst ist nicht interpretierbar, es ist absolut eindeutig. Der Witz daran ist, daß das Signal vollkommen willkürlich und gleichzeitig völlig determiniert ist. Es erlaubt keinerlei Kommunikation, sondern nur Gehorsam (oder Verweigerung).

Historisch ist das Signal eine sehr junge Form des Zeichens:

„Erste Impulse kommen von der Industrie: Die Dinge werden zu Verhaltenssignalen.“ ([4], S. 319)

Es ist der entstehende Kapitalismus, der Zeichen zu Signalen entwertet, zu Hilfsmitteln der bloßen Konditionierung der Individuen. Es geht nicht um Mitteilung, gar Austausch, sondern um Befehl und Gehorsam. Dies ist das eine Extrem des semantischen Feldes.

Auf der anderen Seite des Zeichenspektrums finden wir die Symbole. Diese sind gerade nicht neueren Datums, sondern reichen bis in die Ursprünge der Menschheit zurück. Tatsächlich greift Lefebvre mit der Theorie der Symbole über den Bereich der Sprach- oder Kommunikationswissenschaft hinaus und bringt einen neuen Aspekt mit hinein, nämlich den der Ästhetik. Für seine Theorie der Symbole bezieht sich Lefebvre nicht auf einen Linguisten oder Kommunikationswissenschaftler, sondern auf einen Philosophen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die Grundlagen von Lefebvres Theorie der Symbole entnimmt er dessen Ästhetik, bei der die Kategorie des Symboles im Zentrum steht.

Die ästhetische Entwicklung wird von Hegel – was bei ihm nicht wirklich verwundert – in drei grundsätzlich verschiedene Phasen aufgeteilt. Sie beginnt mit der symbolischen Kunst. Das ist die erste Phase. Diese symbolische Kunst wird abgelöst durch die klassische, die schließlich Platz macht für die romantische Kunst (in der das Symbol auf neuer Ebene wieder erscheint). Das verblüffende an diesem speziellen dialektischen Dreischritt ist nun allerdings, daß gerade die mittlere Phase, die klassische Kunst, ausnahmsweise nicht das Negative, das in sich Zerrissene darstellt, sondern im Gegenteil die Einheit repräsentiert, das Höchste, was Kunst überhaupt erreichen kann. Die romantische Kunst hingegen ist bereits ein Zeichen der Auflösung. Mit ihr geht die Kunst ihrer eigenen Aufhebung entgegen, weil das, was Kunst eigentlich will, nicht durch die Kunst selbst, sondern nur durch deren Aufhebung zu verwirklichen ist.

So abstrakt dargestellt lassen sich in dieser Bewegung durchaus Analogien zu dem finden, was wir bislang bei Lefebvre kennengelernt haben. Auch sein revolutionärer Romantizismus versteht sich als Aufhebung des Klassizismus, allerdings in kritischer Absicht. Und auch bei ihm kann die Romantik nicht bei der Kunst stehen bleiben, sondern muß über diese hinausgehen, sich in einem anderen Medium verwirklichen, das nicht mehr Kunst wäre.

Soweit die Analogie, die allerdings bei näherer Betrachtung ziemlich oberflächlich ist: Mit klassischer Kunst meint Hegel die antike Kunst, während für ihn die romantische Kunst mit dem christlichen Mittelalter beginnt. Lefebvre entwendet die Kategorien Hegels und gebraucht sie in einem recht eigentümlichen Sinn, wenn er die hegelschen Kategorien der klassischen Kunst auf den französischen Klassizismus in der Folge der französischen Revolution und die romantische Bewegung dagegen bezieht; und dann die Analogie weitertreibt, indem er sie auf den sozialistischen Realismus und eine notwendige Bewegung dagegen überträgt. Doch diese Entwendung und Analogiebildung wird sich als außerordentlich fruchtbar erweisen, wie wir anhand der Theorie der Symbole sehen werden, die Lefebvre direkt aus der Hegelschen Ästhetik aufnimmt.

Freuen Sie sich also nächste Woche auf Hegel, wenn dieser erklärt, im Symbol

„haben die sinnlichen vorhandenen Existenzen schon in ihrem eigenen Dasein diejenige Bedeutung, zu deren Darstellung und Ausdruck sie verwendet werden; und das Symbol […] ist deshalb kein bloß gleichgültiges Zeichen, sondern ein Zeichen, welches in seiner Äußerlichkeit zugleich den Inhalt der Vorstellung in sich selbst befaßt, die es erscheinen macht.“ ([1], S. 395)

Nachweise

[1] Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über die Ästhetik I“, in: Hegel, G. W. F., Theorie Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970.

[2] Lefebvre, H., La Somme et le reste, Paris 1959.

[3] Lefebvre, H., Kritik des Alltagslebens – Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit II, Kronberg/Ts. 1977.

[4] Lefebvre, H.: „Einer neuen Romantik entgegen?“, in: Lefebvre, H., Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt a.M. 1978, S. 267 – 379.

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15. Juni 2012 at 11:00

Veröffentlicht in Henri Lefebvre

Moment, Situation, Ereignis

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Das Moment ist eine höhere Form der Wiederholung, des Neubeginns, des erneuten Auftauchens, des Wiedererkennens gewisser bestimmbarer Beziehungen zum Anderen (oder zum Nächsten) und zu sich selbst.“

Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens

Vielleicht ist die eine oder die andere unter meinen treuen Leserinnen irritiert, daß sie hier nun schon zum dritten Mal mit Lefebvres Theorie der Momente belästigt wird. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz unberechtigt, daß ich kurz erkläre, warum mir diese Theorie so wichtig zu sein scheint.

Mein letzter Beitrag hatte mit einem Zitat aus Lefebvres Autobiographie geendet, in dem er damals, nach seinem Ausschluß aus der Kommunistischen Partei 1958, seine Bitterkeit über die „verlorene Zeit“ in der Partei zum Ausdruck brachte. Statt daß das politische Engagement in der Partei aus der Entfremdungserfahrung, die die kapitalistische Gesellschaft ihren Mitgliedern aufzwingt, herausgeführt hätte, hatte es diese Erfahrung vielmehr verdoppelt. Die Partei trat ihren Mitgliedern ebenso als eine fremde Macht gegenüber wie das Kapital dem Arbeiter. Das Leben als politischer Aktivist erwies sich dem kapitalistischen Alltagsleben gegenüber keineswegs als überlegen, sondern fügte sich nahtlos in die universelle Entfremdungserfahrung ein.

Das konnte es doch nicht gewesen sein! Lefebvre sucht deshalb nach einer Möglichkeit, revolutionäres politisches Engagement mit einer sinnvollen Existenz im Hier und Jetzt zu verknüpfen. Sinnvoll heißt: Zumindest temporär die Entfremdungserfahrung zu durchbrechen. Und die Möglichkeit dafür sah er ganz empirisch in den Momenten.

Diese Suche danach, gesellschaftliche Veränderung mit einem sinnvollen Leben im Hier und Jetzt zu verbinden, sollte ihn dann ganz wesentlich mit der antiautoritären Revolte in den 60er und frühen 70er Jahren verbinden. Für die antiautoritären Bewegungen stellte sich genau diese Frage in eben der selben Form. Es sollte darum gehen, eine Subjektivität zu entfesseln, die, indem sie den bisherigen kapitalistischen Alltag transzendierte, auch eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich bringen würde.

Dieses Projekt ist bekanntlich gleichermaßen siegreich gewesen wie auch gescheitert. Siegreich insofern, als daß der heutige kapitalistische Alltag kaum mehr zu vergleichen ist mit dem Alltag der 50er und 60er Jahre. Gescheitert insofern, als diese Veränderung des Alltags letztendlich innerhalb der kapitalistischen Verkehrsformen verblieben ist und neue, perfide Formen der Entfremdung produziert hat. Dem Markt ist es gelungen, Waren zur Inszenierung einer Pseudosubjektivität anzubieten, die letztendlich noch tiefer in die Entfremdung hineinführen. Die Gesellschaft des Spektakels hat inzwischen selbst Pseudo-„Momente“ im Programm: Sei es nun die angedrehte Ekstase eines Stadionrockkonzertes oder, dem entgegengesetzt, das Entspannnungswochenende im Wellnesshotel. Ganze Industriezweige leben davon, Produkte mit dem Versprechen an den Mann und an die Frau zu bringen, man würde sich dadurch Befreiung vom drögen Alltagsleben erkaufen können.

Die Bedeutung des „Moments“ im Sinne Lefebvres wäre deshalb unzureichend dargestellt, wenn wir es bei den bislang dargestellten Bestimmungen bewenden lassen würden. Bislang hatte ich, als wesentliche Bestimmung, nur herausgehoben, daß das Moment Resultat einer Wahl ist. Seine Elemente findet diese Wahl im Alltagsleben, transzendiert dieses aber dadurch, daß es dieses Element aufnimmt und totalisiert. Totalisierung heißt hier, daß durch das Ergreifen des Momentes, alle anderen Elemente des Alltagslebens dazu in Bezug gesetzt werden und dadurch einen Sinn erhalten.

Dies würde nun zwar schon ausreichen, um ein Lefebvresches Moment von den Pseudomomenten des Spektakels abzugrenzen, die, aufgrund ihres Abstandes vom Alltag, diesen gerade nicht verändern, sondern dessen Sinnlosigkeit vielmehr verstärken. Doch tatsächlich sind die Momente bei Lefebvre noch deutlich genauer bestimmt; und diese genauere Bestimmung wird uns heute und auch nächste Woche beschäftigen.

Es ist dabei ganz hilfreich, die Kategorie des Momentes von der des Ereignisses und auch der der Situation abzugrenzen. Ich hatte hier im Blog bereits vor geraumer Zeit auf die Bedeutung des Ereignisses für Bewegungen hingewiesen. In der Tat haben Ereignis und Moment einige gemeinsame Bestimmungen: Sie sind beide nicht determiniert und der Durchgang durch sie verändert ganz grundlegend die Art und Weise, wie die Welt erfahren wird: Der Sinnzusammenhang der Welt wird durch Ereignis wie Moment neu geordnet, die Verhältnisse erhalten eine neue Bedeutung. Doch diese Gemeinsamkeiten sollten nicht über die Differenzen hinwegtäuschen. Das Moment ist Resultat einer Wahl, ihm liegt eine mehr oder minder bewußte Entscheidung zu Grunde. Das Ereignis hingegen bricht einfach über die darin Involvierten herein. Es ist zutiefst traumatisch: Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war ein solches traumatisches Ereignis. Wenn man so will, setzt das Ereignis die freie Subjektivität überhaupt erst in Gang, indem es das bestehende Ordnungsgefüge zum Einsturz bringt. Das Moment hingegen ist bereits das gewollte Resultat einer freien, subjektiven Entscheidung. Das Ereignis eröffnet einen Möglichkeitsraum, das Moment nutzt ihn.

Das ist nicht die einzige Differenz. Das Ereignis ist wesentlich einmalig. Es bricht von außen in den Alltag herein und bringt dessen festgefahrene Strukturen zum Wanken. Das Moment hingegen konstituiert sich im Inneren des Alltags und ist ganz wesentlich wiederholbar. Nehmen wir unser (und auch Lefebvres) Lieblingsbeispiel für ein Moment, das Moment der Liebe. Selbst die erste große Liebe ist bereits eine Wiederholung. Schon bevor wir diese Erfahrung selbst durchleben, wissen wir, was eine große Liebe ist. Auch wenn wir nie von Romeo und Julia gehört haben, sind unsere Vorstellungen über das, was das Moment der Liebe ausmacht, kulturell präformiert. Die großen Kunstwerke haben uns gelehrt, was die Momente sind (dazu nächste Woche mehr), und dieses Wissen sickert, wenn auch verzerrt und banalisiert, noch herunter bis in den letzten Dreck der Kulturindustrie. Die Momente sind somit nie einmalig, sondern sie haben immer diesen größeren Horizont, der ihre Erfahrung zu einem Paradox macht: Sie sind, während sie durchlebt werden, gleichzeitig einzigartig und allgemein, sowohl zeitlich wie auch zeitlos.

Deshalb ist die Anzahl der verschiedenen möglichen Momente endlich. Im Rahmen unserer kulturellen Präformierung gibt es nur eine begrenzte Menge von Momenten, die die totalisierende Erfahrung erlauben. Es ist nicht einfach möglich, neue Momente zu erfinden, so wie die Marketingstrategen des Spektakels neue Events kreieren. Dennoch ist es, Lefebvre zufolge, kaum möglich, eine genaue Liste denkbarer Momente aufzustellen. Im historischen Verlauf verschwinden manche Momente, während gleichzeitig neue hinzukommen. Wir erkennen hier wieder Lefebvres strikte Weigerung, ontologisch zu denken. Die Momente sind nicht an ein überhistorisches menschliches Wesen gebunden, sondern an die historische bestimmte gesellschaftliche Entwicklung.

Gleichzeitig unterscheidet sich das Moment aber auch von der Situation – ein wichtiger Diskussionspunkt zwischen Lefebvre und den Situationisten ([4]). Im Gründungsmanifest der Situationistischen Internationale hatte Debord geschrieben:

„Wie müssen versuchen, Situationen zu konstruieren, d.h. kollektive Stimmungen, eine Gesamtheit von Eindrücken, die die Qualität eines Augenblicks bestimmen.“ ([1], S. 49)

Diese konstruierten Situationen sollten das klassische Kunstwerk mit seinen Trennungen aufheben. Im Gegensatz zum Ereignis ist also die Situation – so wie sie die Situationisten verstanden – nicht kontingent, sie bricht nicht von außen herein, sondern ist das Resultat eines Willensaktes. Das verbindet sie mit dem Moment. Andererseits soll die Situation aber auch einzigartig sein: Sie wird konstruiert, um eine bestimmte, einmalige, nicht wiederholbare Erfahrung zu ermöglichen.

Dadurch mangelt es ihr aber an einer soliden Fundierung. Das deutet sich schon in Debords erstem Entwurf an:

„Die situationistischen Techniken müssen noch erfunden werden. […] Wie müssen mit einer beschränkten Experimentalstufe beginnen. Vermutlich sollten wir, trotz unvermeidlicher anfänglicher Unzulänglichkeiten, Pläne von Situationen – wie Drehbücher – vorbereiten. Es wird also notwendig sein, ein System zu fördern, dessen Genauigkeit in dem Maße steigt, wie wir durch unsere Konstruktionsexperimente weiter kommen.“ ([1], S. 51)

Die Konstruktion von Situationen ist ein reiner Willkürakt, dessen Möglichkeit keinerlei Notwendigkeit beinhaltet, auch wenn sich Debord mit Marx Mut zuspricht:

„Wir wissen aber, daß eine Aufgabe sich nur dort stellt, wo die zu ihrer Verwirklichung notwendigen materiellen Bedingungen schon vorhanden oder wenigstens im Entstehen begriffen sind.“ ([1], S. 51, vgl. [3], S. 9)

Tatsächlich wurde der Plan einer konkreten situationistischen Praxis ab 1962 aufgegeben. Die Momente hingegen, wie sie Lefebvre versteht, sind fundiert: Nicht ontologisch, aber in der kulturellen Praxis. Die Lefebvresche Wahl des Momentes ist somit kein leerer Voluntarismus, keine beliebige Entscheidung, die sich einer völlig abstrakten Subjektivität verdankt, sondern substantiell. Wobei diese Substantialität, ich kann das nur noch einmal wiederholen, keineswegs ontologisch aufzufassen ist.

Welche Rolle Lefebvre in diesem Zusammenhang der Kunst zuweist, erfahren Sie nächste Woche, wenn er erklärt:

„Die ästhetische Tätigkeit verwandelt, transfiguriert das Wirkliche; sie »reflektiert« es nur in einem ganz spezifischen Wortsinn. Ihr vorherrschendes Interesse ist nicht logische Kohärenz. Sie produziert im Wirklichen eine andere Wirklichkeit, Wirkliches gewordene Imagination.“ ([2],S. 331)

Literaturverzeichnis

[1] Debord, G., Rapport zur Konstruktion von Situationen, Hamburg 1980.

[2] Lefebvre, H.: „Einer neuen Romantik entgegen?“, in: Lefebvre, H., Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt a.M. 1978, S. 267 – 379.

[3] Marx, K.: „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in: Marx, K. & Engels, F., Werke Bd. 13, Berlin 1956ff.

[4] Situationistische Internationale: „Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen“, in: Situationistische Internationale (Hg.), Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale Band 1, Hamburg 1976, S. 125 – 127.

Written by alterbolschewik

8. Juni 2012 at 14:51

Veröffentlicht in Henri Lefebvre

Verweile doch!

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„Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!“

J.W. v. Goethe, Faust II

Das Problem, die Lefebvreschen Momente zu verstehen, beginnt schon mit der Übersetzung: Soll man le moment in die maskulinen Form oder die des Neutrums übersetzen? Als der Moment oder als das Moment? Beides hat seine Berechtigung, denn in jeder Übersetzungsvariante steckt ein Teilaspekt der Bedeutung, die Lefebvre dieser Kategorie gibt.

Die maskuline Form, also der Moment verweist im deutschen auf die zeitliche Dimension: Der Moment ist ein zeitlich begrenzter Abschnitt im Fluß der banalen Alltäglichkeit, während dessen sich die Zeit in sich zurückwendet, einen Strudel bildet, sich in sich selbst verschlingt. Er ist der Faustsche Augenblick, zu dem man sagt „Verweile doch!“ – bevor er sich wieder auflöst und in den gemächlichen Fluß der alltäglichen Zeit zurückkehrt.

Gleichzeitig ist le moment aber auch in der sächlichen Form zu lesen, als das Moment, angelehnt an die Terminologie der Hegelschen Dialektik. Es ist eine begrenzte Totalität, ein in sich geschlossenes Ganzes, das gleichwohl nur einen Teilaspekt eines größeren Ganzen bildet, eben des Alltagslebens. Als derart begrenzte Totalität trägt das Moment den Widerspruch in sich, der zu seiner notwendigen Aufhebung führen wird. Wobei, im Gegensatz zur Hegelschen Dialektik, die Aufhebung des Moments eben nicht zu einer höheren Einheit führt, sondern eben zu einem Rückfall in die Alltäglichkeit, aus der es sich ursprünglich herausgeschält hatte.

Wem das in dieser abstrakten Formulierung zu unverständlich ist, mag das bereits zitierte Moment der Liebe zum Beispiel nehmen. Gemeint ist mit dem Moment der Liebe nicht der sexuelle Akt, sondern dieses Verliebtsein, das die ganze Erfahrung der alltäglichen Welt umstülpt. Nicht nur, daß die scharfe Trennung von Subjekt und Objekt, von Liebendem und Geliebtem aufgehoben ist, auch die ganze Welt ist durch dieses Moment der Liebe in ein anderes, zumeist als „rosafarben“ bezeichnetes Licht getaucht. Das Gefühl der Entfremdung ist verschwunden, die Welt erscheint nicht mehr als eine mir fremd gegenüberstehende Macht, sondern ich fühle mich mit ihr im Einklang. Wenn aber die unmittelbare Verliebtheit aufhört, die Liebe sich in die Banalität der Ehe und des Kinderkriegens auflöst, fällt sie zurück in den großen, grauen Fluß der Alltäglichkeit, das Gefühl der Entfremdung stellt sich erneut ein.

Das Beispiel macht deutlich, wo der innere Widerspruch des Momentes zu finden ist. Einerseits hat es den Anspruch, sich absolut zu setzen. Doch dieser Anspruch auf Absolutheit ist andererseits nicht einzulösen – als solches „absolutes“ Moment wäre es sein eigenes Gegenteil:

„Gerade weil es sich absolut setzt, provoziert und umgrenzt es eine bestimmte Entfremdung: die […] Besessenheit des Liebenden, des Spielers, des Theoretikers, der sich der reinen Erkenntnis verschreibt, des verbissenen Arbeiters usw.“ ([2], S. 183)

Das Moment ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt. Gibt es seinen Absolutheitsanspruch auf, fällt es in die Entfremdung der Alltäglichkeit zurück; beharrt es aber auf diesem Absolutheitsanspruch wird es selbst zu einer Form der Entfremdung, die in der Selbstzerstörung endet. Deshalb ist das Moment der Liebe Stoff für große Tragödien: Romeo und Julia setzen ihre Liebe absolut – eine Absolutheit, die im Tod endet.

Dieses notwendige Scheitern des Moments, seine zwangsläufig tragische Natur spricht für Lefebvre keineswegs gegen es, ganz im Gegenteil. Hier kommt sein revolutionärer Romantizismus zum Tragen. Wir hatten bereits gesehen, daß dieser revolutionäre Romantizismus für Lefebvre vor allem eine Stilfrage ist, das heißt, eine bestimmte subjektive Haltung, der dem pragmatisch Möglich-Möglichen das Möglich-Unmögliche entgegensetzt. Die Theorie der Momente erlaubt es nun, diesen Lebensstil zu präzisieren. Im zweiten Band der Kritik des Alltagslebens konkretisiert Lefebvre:

„Das Moment ist das Möglich-Unmögliche, das als solches angestrebt, gewollt und gewählt wird. Hier wird das im Alltag Unmögliche möglich, ja die Regel der Möglichkeit. Hier beginnt die dialektische Bewegung zwischen Möglichem und Unmöglichem mit ihren Konsequenzen.“ ([2], S. 183)

Das Ganze ist natürlich nicht ganz frei von einem existentialistischen Pathos. Das Moment ist nichts, was einem einfach zustößt. Es ist das Resultat einer mehr oder minder bewußten Wahl. Ich hatte bereits zum Ausklang des letztwöchigen Textes Lefebvres Definition des Moments zitiert:

„Als »Moment« bezeichnen wir jeden Versuch zur totalen Verwirklichung einer Möglichkeit.“ ([2], S. 184)

Der entscheidende Punkt dabei ist die „totale Verwirklichung“. Die „totale Verwirklichung“ – beziehungsweise deren Unmöglichkeit – ist, wie wir gesehen haben, für den tragischen Charakter des Moments verantwortlich. Doch wenn wir die Liebe nehmen, dann gibt es diese eben nicht nur als Tragödie, als Romeo und Julia, sondern auch als romantische Komödie. In der letzteren ist die Liebe aber nicht als Moment gesetzt. Vielmehr verbleibt sie innerhalb der Alltäglichkeit, überschreitet den von dieser gesteckten Rahmen nicht. In der romantischen Komödie ist die Liebe nicht die Entscheidung der Liebenden, sondern sie widerfährt ihnen, oft genug gegen ihren Willen.

Damit aber etwas zu einem Moment wird, bedarf es der bewußten Entscheidung für die „totale Verwirklichung“ der Möglichkeit:

„Jede Verwirklichung als Totalität impliziert einen konstitutiven, inaugurierenden Akt.“ ([2], S. 184)

Bei diesem konstitutiven Akt handelt es sich nicht um eine creatio ex nihilo, das Moment wird nicht aus dem Nichts geschöpft. Vielmehr findet dieser Akt seinen Stoff in der banalen Alltäglichkeit, erkennt in ihr eine Möglichkeit, die es zu ergreifen gilt:

„Das Moment entsteht im Alltag und erhebt sich aus ihm. Es nährt sich an ihm, schöpft aus ihm seine Substanz und negiert ihn nur in dieser Weise. Mitten im Alltag zeigt sich eine Möglichkeit (das Spiel, die Arbeit, die Liebe usw.) im spontanen, zweideutigen Rohzustand. Inmitten des Alltags wird jene inaugurierende Entscheidung getroffen, die das Moment konstituiert und gleichsam eröffnet. Diese Entscheidung nimmt eine Möglichkeit auf sich, hebt sie heraus, wählt sie zwischen mehreren anderen aus und stürzt sich vorbehaltlos hinein.“ ([2], S. 186f)

Die revolutionär-romantische Haltung beruht also gerade darin, im Bewußtsein des zukünftigen Scheiterns dennoch diesen entscheidenden Akt zu vollziehen. Wird diese Entscheidung getroffen setzt sich das Moment temporär von der Unklarheit und Vieldeutigkeit des Alltagslebens ab. Statt daß das Leben in seiner entfremdeten Form einfach erlitten wird, erscheint es im Moment als „das Werk des Individuums […], in dem es sich, wenn auch konfus, selbst erkennt.“ ([2], S. 180)

Damit repräsentiert das Moment eine Form der konkrete Utopie: Gebunden an die erlebte, alltägliche Wirklichkeit transzendiert sie diese temporär und beschwört damit ein Möglich-Unmögliches herauf. Die Momente sind, wie Lefebvre sich ausdrückt, die konkrete Verwirklichung einer Potenz ( wobei ausdrücklich darauf hingewiesen werden muß, daß diesen Potenzen ausdrücklich kein ontologischen Status im klassisch-philosophischen Sinne zugeschrieben wird). Und letztendliches praktisches Ziel des revolutionären Romantizismus wäre

„die Transformation dieser Potenzen, dieser partiellen, zum Scheitern verurteilten Totalitäten, in »etwas« unerhört Neues und wahrhaft Totales, in »etwas«, das imstande wäre, den Widerspruch zwischen Trivialität und Tragödie zu überwinden.“ ([2] , S. 185)

Doch wie diese Transformation sich wirklich vollziehen soll, läßt Lefebvre offen, allein das Ziel wird etwas genauer beschrieben: Es geht um „die höhere Einheit […] von Moment und Alltag, von Poesie und Prosa der Welt, kurzum von Fest und Alltagsleben.“ ([2], S. 185) geht.

So verschwommen das im Detail auch sein mag, die Intention ist klar. Die Theorie der Momente bricht grundsätzlich mit der orthodox-marxistischen Revolutionsvorstellung, nach der die Revolution nichts anderes ist als die Ratifizierung objektiver historischer Gesetze. Der revolutionäre Romantiker wird zum Gegenentwurf für den puritanischen, sich selbst kasteienden Parteisoldaten, der sich den objektiven Gesetzmäßigkeit der Geschichte unterwirft. Freuen Sie sich also nächste Woche darauf, wenn Lefebvre selbstkritisch seine Parteivergangenheit hinterfragt:

„Man hat nie umsonst an mein schlechtes Gewissen appelliert, das heißt, an das Gefühl der politischen Pflicht. Was heute die absurden Niederlagen und die verlorene Zeit um so bitterer erscheinen läßt.“ ([1], S. 340)

Literaturverzeichnis

[1] Lefebvre, H., La Somme et le reste, Paris 1959.

[2] Lefebvre, H., Kritik des Alltagslebens – Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit II, Kronberg/Ts. 1977.

Written by alterbolschewik

1. Juni 2012 at 11:00

Veröffentlicht in Henri Lefebvre