shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Archive for August 2013

Eroberung der Öffentlichkeit (2)

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„Taten, nicht Worte!“

Motto der Women’s Social and Political Union

Am 26. April 1914 schreckte die New York Times ihre Leserschaft durch einen Artikel mit dem Titel Bilanz des ersten Jahres der militanten „Terrorherrschaft“. Die Zustände in Großbritannien, so konnte man dem Artikel entnehmen, waren inzwischen unerträglich geworden:

„Die Aktivitäten der Militanten reichten von einem Pfefferwurf auf Premierminister Asquith und dem einer toten Katze auf Augustine Birrell, dem Oberstaatssekretär für Irland, über Brandstiftung der Midland Railway Schuppen in Bradford ($500.000 Sachschaden) bis hin zu dem Versuch, einen Teil der Bank von England in die Luft zu sprengen. […] Die Militanten benutzten bei ihren Aktionen Feuer, Bomben, Minen, Beile, Hämmer, Revolver, Schürhaken, Messer, Knüppel, Steine, Teer, Farbe, Reitgerten, Pferdepeitschen, Hundepeitschen, Regenschirme, stinkende Chemikalien, ätzende Chemikalien, Stacheldrahtfallen für Polizisten, ganz zu schweigen davon, daß sie ihre Fäuste, Nägel, Zehen und Füße als Waffen einsetzten.“ ([2])

Wer waren diese gefährlichen Terroristen? Und warum überzogen sie seit 1913 ganz Großbritannien mit ihrer Terrorherrschaft? Nun, es handelte sich um Frauen, die für ein elementares politisches Recht kämpften: Das Wahlrecht. Weshalb sie, entsprechend dem englischen Wort für Wahlrecht suffrage als Suffragetten bezeichnet wurden. Und der Grund für ihre Militanz war ganz einfach: Eine der führenden Frauen der Suffragetten-Bewegung, Emmeline Pankurst, war am 3. April 1913 zu drei Jahren Haft verurteilt worden.

Pankhurst hatte 1903 mit der Women’s Social and Political Union eine Organisation gegründet, die endgültig die Nase voll hatte, die Männer durch freundliches Zureden dazu zu bringen, ihnen doch das Wahlrecht zuzugestehen. Statt wie bisher üblich, in geschlossenen Sälen Protestversammlungen abzuhalten, eroberten sich die Suffragetten um Pankhurst die Straße. Demonstrationen in der Öffentlichkeit führten schnell zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der Schutz der führenden Köpfe der Bewegung wurde zu einer Notwendigkeit – tatsächlich verfügte Emmeline Pankhurst über eine Truppe von Jiu-Jitsu-trainierten Leibwächterinnen. Empört berichtete die New York Times:

„Sie kämpften mit Polizisten auf der Straße, in Theatern, in Versammlungsräumen, in Parks, und die Art von Schlachten, die diese »wilden Frauen« – wie so von der englischen Presse bezeichnet werden – zu schlagen in der Lage sind, kann anhand des Faktums beurteilt werden, daß sie am 13. Oktober Miss Silvia Pankhurst körperlich aus den Händen der Polizei befreiten, als jene versuchte, sie ins Gefängnis zu bringen; sie haben ihre Rednertribünen mit Stacheldrahtverhauen umgeben, die sie unter Blumen verbargen, damit die Polizei, wenn sie angriff, sich darin verwickelte und verletzte, wobei sie in ihrem Kampf noch von den Frauen auf der Tribüne getreten wurden.“ ([2])

Tatsächlich wurde der Kampf um das Frauenwahlrecht wohl nirgendwo so militant geführt wie in Großbritannien – während ehemalige britische Kolonien sich als Vorreiter des Frauenwahlrechts profilierten. In den Vereinigten Staaten wurde das Frauenwahlrecht erstmals 1869 in Wyoming eingeführt, andere Bundesstaaten folgten. Auch in Neuseeland (1893) und Australien (1902) erhielten die Frauen dieses elementare politische Recht deutlich früher als Mutterland. In Großbritannien hingegen brach die militante Kampagne für das Frauenwahlrecht mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieg zusammen.

Den deutschen Frauen fiel das Wahlrecht im Vergleich dazu eher in den Schoß. Obwohl es auch hier herausragende Persönlichkeiten wie Luise Otto-Peters oder Hedwig Dohm gab und Organisationen wie den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (1865) oder den Verein Frauenwohl (1888), blieb die deutsche Frauenbewegung doch deutlich hinter den Aktivitäten der Frauen in anderen Ländern zurück. Als in der Folge des ersten Weltkrieges das Kaiserreich zusammenbrach, wurde das Frauenwahlrecht ohne größere Umstände in die Weimarer Verfassung aufgenommen – und so erhielten es die deutschen Frauen lange vor den kämpferischen Britinnen (1928).

Und Großbritannien war nicht das schlimmste Beispiel: Ausgerechnet Frankreich, wo Olympe de Gouge die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin verfaßte und wo die schnell niedergeschlagene Pariser Commune von 1871 kurzfristig das Frauenwahlrecht einführte, sollte es bis zur Beendigung des zweiten Weltkrieges dauern, daß die Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen akzeptiert wurden. Erst die Verfassung der 4. Republik aus dem Jahr 1944 erlaubte es ihnen zu wählen.

Dennoch: Von einigen unrühmlichen Ausnahmen wie der Schweiz abgesehen (1971), war mit dem Ende des 2. Weltkrieges zumindest in den sogenannten westlichen Staaten dieses wichtige Ziel der internationalen Frauenbewegung erreicht: Frauen hatten zumindest formal die selben politischen Rechte wie die Männer.

Etwas schneller ging es mit dem zweiten wichtigen Thema der ersten Frauenbewegung: Diskriminierungsfreier Zugang zur Bildung. Frauen sollten die selben Bildungschancen besitzen wie Männer. Hier ging es insbesondere um das Recht auf höhere Schulbildung und schließlich Zugang zu den Universitäten. Interessanterweise war auf diesem Gebiet die politisch reaktionäre Schweiz federführend, wo die Universität Zürich bereits 1840 Hörerinnen zuließ. Spätestens in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war dann für Frauen prinzipiell das Recht gegeben, sich an einer Universität zu immatrikulieren und dort einen Abschluß zu machen.

Damit hatte sich die erste Frauenbewegung in einem langen, zähen Kampf wesentlichen Bereiche der Öffentlichkeit zumindest formal erobert. Daß dann immer noch die Männer meinten, ihren Frauen sagen zu können, was sie zu wählen haben, und daß die Eltern immer noch eher den geistig minderbemittelten Sohn auf die Universität schickten statt die kluge Tochter, steht auf einem anderen Blatt. Aber rein formal waren mit dem Ende des zweiten Weltkriegs auch die wesentlichen Ziele der ersten Frauenbewegung erreicht: Rein formal waren die Frauen nun gleichberechtigt.

Und so konnten in der Nachkriegszeit diese lange andauernden, harten Kämpfe um die Gleichberechtigung der Frauen aus der Erinnerung verschwinden. Die Suffragetten etwa, wenn man sich überhaupt noch an sie erinnert, sind im kollektiven Gedächtnis bestenfalls als Witzfiguren präsent, als dicke Frauen in Slapstickfilmen, die Polizisten mit dem Schirm auf den Kopf hauen. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts geriet das feministische Erbe der ersten Frauenbewegung komplett in Vergessenheit.

Und so können Sie sich nächste Woche gespannt sein, was daraus folgt, wenn Nancy Friedan 1963 bitter konstatiert:

„Für die nach 1920 geborenen Frauen ist die Frauenfrage tote Geschichte. Als lebendige Bewegung fand sie in Amerika ihr Ende, als das letzte Recht errungen war: das Wahlrecht.“ ([1], S. 66)

Nachweise

[1] Friedan, B., Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau, Reinbek 1970.

[2] New York Times, 26. April 1914: „First Year’s Record of Militant »Reign of Terror«“.

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30. August 2013 at 15:13

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Die Eroberung der Öffentlichkeit (1)

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„Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen, gleichermaßen muß ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen.“

Olympe de Gouges, Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, 1791

Was bisher geschah: Bevor ich einen kurzen Exkurs zur ästhetischen Form eingeworfen habe, ging es hier im Blog zwei Monate lang um Öffentlichkeit und Filterblasen. Ausgangspunkt war das Phänomen eines bestimmten aktuellen Feminismus‘. Dieser zeichnet sich dadurch aus, daß er sich von der öffentlichen Auseinandersetzung verabschiedet. Die Protagonistinnen ziehen sich in „safe places“ zurück, um sich dort unter ihresgleichen gegenseitig vorzujammern, wie schlecht doch die Welt ist. Jeder Kontakt mit einer Öffentlichkeit, die nicht völlige Übereinstimmung mit der eigenen Weltwahrnehmung signalisiert, wird nicht als ein Versuch, zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen, sondern als Aggression interpretiert, auf die dann selbst wieder mit Aggression (selten) oder aber mit Rückzug in die eigene Filterblase (häufig) reagiert wird.

Ich bin dann einen Schritt zurückgetreten um zu zeigen, daß dieses Phänomen keineswegs auf diese Gruppe beschränkt ist, sondern daß sich Anfang der 70er Jahre ähnliche Strukturen bei den maoistischen K-Gruppen, die nun wirklich nicht des Feminismus verdächtig waren, herausbildeten. Darauf erfolgte dann ein ganz großer historischer Rücksprung, um in groben Zügen die Entstehung politischer Öffentlichkeit zu skizzieren: Sie entstand ursprünglich in der griechischen Polis, wurde dann während der Renaissance wieder neu aufgelegt um dann ab dem 17. Jahrhundert im Großen und Ganzen die Gestalt anzunehmen, die wir heute kennen: Eine publizistische Öffentlichkeit, die die politische Organisierung der Bürger begleitet.

Mit dem heutigen Blogtext beginne ich eine neue Serie, die aber an diese Diskussion nahtlos anknüpft: Der Kampf von Frauen um diese politische Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Frauenbewegung liegen, die sich ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte. Doch diese ist nicht zu verstehen, wenn man sich nicht die historische Entwicklung vor Augen führt. Denn der Kampf von Frauen dafür, sich öffentlich artikulieren zu können und in dieser Öffentlichkeit ernst genommen zu werden, war und ist eine zähe Angelegenheit, die vor über zweihundert Jahren begann und bis heute keineswegs abgeschlossen ist.

Kehren wir deshalb noch einmal zur ursprünglichen Form politischer Öffentlichkeit zurück, zur griechischen Polis. Die freien und gleichen Bürger, die sich dort über das Gemeinwohl auseinandersetzten, waren Männer. Ausgeschlossen aus dieser Öffentlichkeit waren explizit Sklaven, Frauen und Kinder. Über diese, so begründet Aristoteles in seiner Politik, übt der Haushaltsvorstand Macht aus. Was die Griechen über die Barbaren erhebe, sei die Differenzierung in der Machtausübung:

„Wenn aber bei den Barbaren Weib und Sklave dieselbe Stellung haben, so liegt der Grund hiervon darin, daß ihnen überhaupt dasjenige fehlt, was von Natur zum Regieren bestimmt ist, vielmehr die Gemeinschaft hier nur die Verbindung einer Sklavin mit einem Sklaven ist.“ ([1], S. 9)

Dennoch teilen für Aristoteles, trotz aller feinen Unterschiede, die Frauen zumindest in politischer Hinsicht das Schicksal der Sklaven:

„Es steht nämlich dem Manne zu, sowohl die Frau wie die Kinder zu regieren, und zwar beide Teile als Freie […]. Denn der Mann ist von Natur mehr zur Leitung geschickt als das Weib (was nicht ausschließt, daß das Verhältnis sich hie und da auch wider die Natur gestaltet).“ ([1], S. 31)

Als sich mit dem Aufstieg des Bürgertums erneut eine politische Öffentlichkeit herausbildete, wurde an dieser patriarchalen Weltsicht nicht gerüttelt. Das Recht, in der politischen Öffentlichkeit aufzutreten, wahr- und ernstgenommen zu werden, wurde zunächst nur dem männlichen Besitzbürgertum zugestanden. Frauen hatten in der Öffentlichkeit nichts verloren, ihnen wurde die Sorge um das Heim zugeordnet, öffentliche Angelegenheiten hatten sie nicht zu interessieren. Allerdings mit einer Ausnahme: Karitative Aufgaben konnten von Frauen auch in der Öffentlichkeit ausgeübt werden – was wieder mit der männlichen Sichtweise auf die Frauen zu tun hatte. Da ihnen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die alleinige Aufgabe der Kinderaufzucht aufgezwungen worden war, gehörte es zur gesellschaftlichen Ideologie, daß Frauen von Natur aus das sorgende und mitfühlende Geschlecht seien – eine Ideologie, die durchaus auch von vielen Frauen geteilt wurde.

Doch dieser kleine öffentliche Bereich, der den Frauen zugestanden wurde, der karitativen Bereich, sollte sich als Einfallstor dafür erweisen, daß Frauen ihre ihnen von der Gesellschaft als „natürlich“ vorgestellte Rolle in Frage stellten. Denn die Sorge um die Mühseligen und Beladenen, die die Männer großzügig den Frauen als Aufgabenbereich zugestanden, brachte die Frauen in Kontakt mit einem gesellschaftlichen Problem, das einen Prozeß des Nachdenkens in Gang setzte: Die Sklaverei.

1785 reichte die französische Autorin Olympe de Gouges bei der Comédie Française ein Theaterstück namens Zamore et Mirza, ou l’heureux naufrage (Zamore und Mirza, oder Der glückliche Schiffbruch) ein:

„Es ist – wie fast alle ihre Stücke – ein politisches Tendenzdrama, das der Emanzipation der Neger dienen soll. Die organisierten Sklavenhalter lassen die Premiere (1790) zu einem Skandal werden und prügeln sich mit den Anhängern der Abschaffung der Sklaverei. Das Stück muß nach wenigen Aufführungen abgesetzt werden.“ ([2])

Als dann 1791 die erste Verfassung Frankreichs verabschiedet werden soll, empört sich Olympe darüber, daß in dieser Verfassung nur den Männern das Wahlrecht zugestanden werden soll. Mit Wut und Witz verfaßt sie, in Anlehnung an die Erklärung der Menschenrechte – oder der Männerrechte, im Französischen ist das nicht zu unterscheiden – ihre Erklärung der Frauenrechte. Deren erster Artikel hebt an mit dem Satz:

„Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne ebenbürtig in allen Rechten.“ ([3], S. 141)

Diesen Zusammenhang zwischen dem Kampf für die Abschaffung der Sklaverei und dem für Frauenrechte findet sich auch in den USA. Sarah Moore Grimké bekämpfte zuerst die Sklaverei, bevor sie 1873 mit ihren Letters on the Equality of the Sexes and the Condition of Women (Briefe über die Gleichheit der Geschlechter und die Lage der Frauen) auch für sich und ihr Geschlecht politische Rechte einforderte.

In den Sklaven konnten die Frauen ihr eigenes Schicksal wiedererkennen und sich ihrer eigenen Lage bewußt werden. Und sie erwarben im Kampf für die Rechte der Sklaven die Fähigkeiten, auch den Kampf in eigener Sache zu führen.

In den USA führte dies dann allerdings nach dem Bürgerkrieg teilweise zu bizarren Auswüchsen. Bei der von Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony gegründete National Woman Suffrage Association führte der Vergleich mit den (nun befreiten) Sklaven zu einer recht unappetitlichen Strategie:

„Empört darüber, daß männliche frühere Sklaven und männliche Einwanderer, die neu im Land waren, Rechte zugesprochen erhielten, die ihnen verweigert wurden, verbündete sich Stantons und Anthonys Organisation mit rassistischen und nativistischen Politikern in der Hoffnung, die überwältigende Mehrheit weißer, im Land geborener männlicher Wähler davon zu überzeugen, das Frauenwahlrecht zu unterstützen.“ ([5], S. 4)

Das führte zu einer ersten Spaltung der noch jungen Frauenbewegung.

Nächste Woche geht es weiter. Freuen Sie sich also darauf, daß Edith M. Stern 1949 klarstellt:

„So wie Sklaven im Dienst individueller Herren standen, […] so sind Hausfrauen an den Dienst individueller Familien gebunden. Daß es einer Mutter zufällt, sich um ihre Kinder im hilflosem Säuglings- und Kindesalter zu kümmern – oder zumindest dafür zu sorgen, daß sich jemand um sie kümmert – ist unbestreitbar. Aber nur eine Sklavenpsychologie kann Frauen in den Dienst erwachsener Männer stellen.“ ([4], S. 53f)

Nachweise

[1] Aristoteles, Politik, Reinbek 1965.

[2] Fetscher, I., „Zweimal hingerichtet“, in: Die Zeit, Jg.40 (1987), Nr.11 (6. März 1987), S.49.

[3] de Gouges, O.: „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, in: Schwarzer, A., So fing es an! Die neue Frauenbewegung, München 1983, S. 141 – 143.

[4] Stern, E. M.: „Women Are Household Slaves“, in: MacLean, N., The American Women’s Movement, 1945 – 2000, Boston und New York 2009, S. 50 – 54.

[5] MacLean, N., The American Women’s Movement, 1945 – 2000, Boston und New York 2009.

Written by alterbolschewik

23. August 2013 at 15:18

Veröffentlicht in Feminismus

Mehr als eine bloße Formalie

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„Berlins linke Faschisten grüßen Teddy, den Klassizisten“

Transparent bei der Störung eines Adorno-Vortrages am 7. 7. 1967

Letzte Woche war ich im Schweinsgalopp durch Friedrich Schillers ästhetische Theorie geprescht und hatte dabei vor allem auf den Form-Begriff abgehoben. Vielleicht noch einmal kurz zur Erinnerung: Bei Schiller besteht die Eigenart des Ästhetischen darin, daß es zwischen unmittelbarer Sinnlichkeit auf der einen und abstrakter Vernunft andererseits vermittelt. Wobei sich die Vernunftanteile des gelungenen Kunstwerkes in dessen Form niederschlagen, ohne daß dabei die sinnliche Seite des Kunstwerkes Schaden nimmt. Form und Sinnlichkeit erscheinen im Kunstwerk – anders als im richtigen Leben – so, als ob sie eine zwanglose harmonische Einheit bildeten, das eine aus dem anderen spielerisch hervorgehe wie auch umgekehrt. Das eigentliche Ziel des gelungene Kunstwerk ist für Schiller die Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem, von besonderer Sinnlichkeit und allgemeiner Vernunft.

Diese abstrakte Entkopplung von Sinnlichkeit und Vernunft, ihre unvermittelte Gegenüberstellung und künstliche Zusammenführung im Kunstwerk scheint eine Schwäche des Schillerschen Entwurfs zu sein. Die Schiller vorausgehende Philosophie der Aufklärung hatte, in der Folge von John Locke, den Descartesschen Dualismus verworfen und das Allgemeine, die Form, aus dem Besonderen, den Sinneneindrücken abgeleitet. Sinneseindrücke, einerlei ob nun im Alltag oder in der Erfahrung des Kunstwerkes, erscheinen zunächst als ganz individuelle, einmalige Vorkommnisse, auf die wir erst einmal rein körperlich reagieren. Wenn das Licht unser Auge trifft oder Schallwellen unser Ohr, dann ist das ein singuläres Ereignis. Wenn sich dann dieser Sinnenreiz wiederholt und mit vorherigen Sinneseindrücken verglichen wird, kann er Form annehmen und seine Singularität verlieren. Er wird zu einem mehr oder minder Allgemeinen und kann sich so zur Erfahrung verdichten. Das Allgemeine, die Form, ist in dieser Sichtweise einfach das zusammenfassende Resultat der sinnlichen Empfindungen, geht aus diesen zwanglos hervor.

Tatsächlich war Schiller über diese naive Art und Weise, das Allgemeine zu denken, hinaus. Mit Kant ist er der Auffassung, daß die Form, das Allgemeine, der sinnlichen Erfahrung vorausgehen muß. Nur wenn wir bereits über das Allgemeine, die Form verfügen, ist es uns möglich, das Besondere, den Sinnenreiz, mit anderen Sinnenreizen in Verbindung zu bringen. Die Form ist die Voraussetzung von Erfahrung, nicht deren Resultat.

Daran knüpft auch Adorno mit seinem Formbegriff an. Auch ihm ist das Allgemeine, die Form, dasjenige, das der individuellen Erfahrung vorausgeht. Dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied zu Schiller: Das Allgemeine, das Adorno meint, ist ein historisch gewordenes Allgemeines. Und damit nimmt er eine gewisse Vermittlungsposition zwischen dem Denken der Aufklärung und dem kritischen Rationalismus Kants ein: Ja, der individuellen Erfahrung geht die Allgemeinheit der Formen voraus, doch diese Formen sind selbst historisch gewordene, im Gattungsprozeß der Menschheit entstanden.

Allerdings ist der Prozeß, der aus puren Sinnenreizen die Formen des Verstandes formt, bei Adorno weniger optimistisch als bei Locke und seinen Nachfolgern aufgefaßt: Es ist die Furcht vor der Natur, vor den unheimlichen Schemen und Geräuschen, die auf unsere Vorfahren ungefiltert eindrangen, die zur Herausbildung des Formenarsenals führten, mittels dessen das Unheimliche der unvermittelten Konfrontation mit der Sinnlichkeit gebannt wurde. Und so verfolgen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung ([3]) bis in die subtilsten und abstraktesten Regungen der Vernunft deren Ursprung aus der Furcht vor der Natur zurück.

Was für die Formen der Rationalität, die die Sinnlichkeit der erscheinenden Natur in starre Schemata zu pressen sucht, festgestellt wurde, gilt, mit einigen Veränderungen auch für Adornos Auffassung künstlerischer Formen. Auch diese sind Sedimente eines historischen Prozesses, der ebenso ambivalent ist wie der wissenschaftlicher Erkenntnis:

„Alle Formen der Musik […] sind niedergeschlagene Inhalte. In ihnen überlebt was sonst vergessen ist und unmittelbar nicht mehr zu reden vermag. Was einmal Zuflucht suchte bei der Form, besteht namenlos in deren Dauer. Die Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente. Keine Verhärtung der Form, die nicht als Negation des harten Lebens sich lesen ließe.“ ([1], S. 47f)

Die historisch überlieferten künstlerischen Formen sind das Material, an denen der Künstler sich abarbeitet, indem er sie mit seiner eigenen Subjektivität konfrontiert und in dieser Konfrontation die Sedimente aufsprengt und ihren Sinn wieder freilegt. Der Sinn künstlerischer Auseinandersetzung ist es nicht, das vorgegebene Formenmaterial kritiklos zu übernehmen und seine eigene Subjektivität in diese Formen hineinzugießen. Das wäre, wie der Nörgler zurecht erklärte, bloßes Kunsthandwerk. Hier kommt weder die Subjektivität noch die Form zu ihrem Recht. Sondern es geht darum, die versteinerte Form wieder so aufzusprengen, daß Subjektivität und Form einander nicht mehr fremd bleiben, sondern eine ausdifferenzierte Totalität bilden. Diese Verlebendigung der Form, zwanglos vereinigt mit der Verallgemeinerung der Subjektivität, realisierte sich für Adorno exemplarisch auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Kultur: Beethoven ist ihm der Inbegriff dieser Versöhnung von Allgemeinen und Besonderen, von historisch gewordener Form und exemplarischer Subjektivität.

Damit scheint sich Adorno nicht allzuweit von Schillers Klassizismus entfernt zu haben: Für beide ist das gelingende Kunstwerk eines, in dem Besonderes und Allgemeines in der Totalität des Werkes als versöhnt aufscheinen. Doch es gibt einen ganz entscheidenden Unterschied. Dieser liegt in Adornos Beharrung darauf begründet, daß sowohl das Allgemeine, die künstlerischen Formen und Formelemente, wie auch das Besondere, die Subjektivität des Künstlers, historischer Natur sind. Schiller predigte ein zeitloses Ideal, das sich ihm exemplarisch in der griechischen Kunst materialisierte und das er seinen Zeitgenossen als Modell vor Augen stellte. Für Adorno hingegen ist Beethovens künstlerische Leistung selbst wieder an die historischen Umstände gebunden: Die Emanzipationsbestrebungen der französischen Revolution und die damit verbundenen Hoffnungen, diese Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem nicht nur in der Kunst zwischen Form und Subjektivität, sondern auch im Politischen, zwischen Bürger und Staat zu verwirklichen.

Der historische Zeitpunkt verstrich, die bürgerlich-kapitalistische Welt mutierte zu einem imperialistischen Moloch, in dem die Individuen zum Material einer unmenschlichen Maschinerie wurden, die in den Schrecken des ersten Weltkriegs die Utopie des bürgerlichen Individuums unwiderruflich auslöschten. Diese historisch-politischen Veränderungen gingen an der Kunst nicht spurlos vorbei. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert spaltete sich für Adorno, zeitgleich zum Niedergang des Bürgertums, die Kunst in zwei divergierende Stränge auf, die jeder für sich an dieser Spaltung krankten.

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß Adorno die Musik der Wiener Schule und insbesondere Schönbergs als den Gipfel der musikalischen Entwicklung feierte, während er die Populärkultur, insbesondere den Jazz aus tiefstem Grunde verabscheute. Tatsächlich sind für Adorno die Wiener Schule und der Jazz zwei Seiten einer Medaille, Ausdruck der selben historischen Problematik. Es ist dies die Problematik, daß ein Werk, wie es sich Schiller erträumt hatte, als Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, historisch nicht mehr möglich ist. Nicht Schönberg ist der Gipfel der musikalischen Entwicklung, sondern Beethoven. Und die Musik Schönbergs ist ebenso wie der Jazz ein Symptom dafür, daß die historische Entwicklung Werke wie die Beethovens unmöglich gemacht hat.

Natürlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen der Wiener Schule und dem Jazz, doch zunächst ist gegen das Gerücht festzuhalten, daß es für Adorno eine wichtige Übereinstimmung gibt: Beiden ist ein Bruchstück dessen zugefallen, was die Einheit der bürgerlichen Kunst ausgemacht hatte. Der Jazz – oder allgemeiner: die Populärkultur – übernimmt das Erbe der Form. Die Populärkultur bewegt sich im Allgemeinen, den wieder und wieder stereotyp wiederholten immergleichen Formen, die in minimalen Varianten ständig auf’s neue ausgewalzt werden. Der Wiener Schule fiel hingegen das Erbe der Subjektivität zu – einer so radikalen Subjektivität, daß sie, in Ermanglung eines Anschlusses an die Allgemeinheit, jede gesellschaftliche Resonanz verlor. Und so leiden beide, auf je unterschiedliche Art und Weise, an dieser Spaltung.

Doch bei aller spiegelbildlichen Übereinstimmung dürfen natürlich die ganz wesentlichen Unterschiede nicht außer acht gelassen werden. Die Populärkultur fühlt sich in ihrer kastrierten Rolle pudelwohl und sieht keinerlei Grund, daran etwas zu ändern. Und wenn Künstler innerhalb dieses Stranges der künstlerischen Entwicklung anfangen, das System in Frage zu stellen und sich mit ihrer Subjektivität gegen das kulturindustrielle Formdiktat stellen, ereilt sie recht schnell das Schicksal der künstlerischen Avantgarde: Sie werden in Nischen abgedrängt, die sie ihrer gesellschaftlichen Wirkung berauben.

Die Avantgarde hingegen ist, bei aller Verkrüppelung, für Adorno die einzige Möglichkeit, gegen die Übermacht des Systems die rebellische Kraft der Subjektivität zu bewahren. Wobei es konstanter Wachsamkeit gegenüber dem ästhetischen Material bedarf, um sich von diesem nicht überwältigen zu lassen, seinen subjektiven Eigensinn gegen die Macht des Abgedroschenen, Banalen zu behaupten. Was die Avantgarde im besten Fall hervorbringt, sind deshalb keine Werke im klassischen Sinn mehr, sondern Protokolle der Anstrengung, sich gegen den Zwang zur Konformität zur Wehr zu setzen. Im Gegensatz zu den klassischen Werken offenbaren sie die Male der Verstümmelung, sind Zeichen dafür, daß eben nicht alles gut ist, wie die Populärkultur frisch, fromm, fröhlich und frei behauptet. Doch zu mehr sind sie nicht in der Lage, und Adorno wäre der letzte gewesen, der dies nicht bedauerte. Nur darin liegt für ihn die Größe der Wiener Schule und das ist der Grund, warum Adorno den Jazz vehement kritisierte – und nicht, weil er ein verklemmter Snob war, der unfähig war, zu Glenn Miller auf der Tanzfläche mit dem Arsch zu wackeln.

Damit schließe ich diese Exkurs zur künstlerischen Form ab und wende mich ab nächster Woche einem komplett anderen Thema zu. Freuen Sie sich also darauf, daß Betty Friedan meint:

„Frauen sind Menschen, keine ausgestopften Puppen und keine Tiere.“ ([2], S. 47)

Nachweise

[1] Adorno, T. W.: „Philosophie der neuen Musik“, in: Adorno, T. W., Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt 1975.

[2] Friedan, B., Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau, Reinbek 1970.

[3] Horkheimer, M. & Adorno, T. W.: „Dialektik der Aufklärung“, in: Horkheimer, M., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt 1987, S. 11 – 290.

Written by alterbolschewik

16. August 2013 at 16:27

Veröffentlicht in Ästhetik, Theodor W. Adorno

Che über Leah Bretz‘ und Nadine Lantzschs Buch „Queer_Feminismus“

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Ganz ehrlich, ich bewundere den Che, daß er sich durch dieses Buch hindurchgequält hat – eine gewisse masochistische Ader ist ihm nicht abzusprechen. Allein die Zitate in seiner Rezension belegen, daß sich die Autorinnen einer Sektensprache befleißigen, die allein auf die In-Group zielt und überhaupt nicht die Absicht hat, jemanden außerhalb der eigenen Filterblase zu erreichen. Damit sich diejenigen, die sich außerhalb dieser Filterblase bewegen, die Ausgaben für das Buch sparen können, hier Ches ausführliche Rezension, die ursprünglich auf seinem Blog erschienen ist:

„Wenn ich hier „Eine Art von Rezension“ schreibe hat das seinen guten Grund. Dies ist nicht nur eine Rezension, sondern stellt vielmehr einen Abgleich des Büchleins mit eigenen Erfahrungen aus linken emanzipatorischen Zusammenhängen dar, weil vieles, was die Autorinnen schreiben, mir fremd und doch gleichzeitig vertraut vorkommt und sich außerdemingens Synergien und Synchronizitäten zu dem ergeben, was Alter Bolschewik parallel auf Shifting Reality behandelt. Auch bei der Netbitch sind verwandte Themen und Fragestellungen verschiedentlich aufgetaucht. Fragwürdigen Erwartungshaltungen von Maskulinisten, Verschwörungstheoretikern oder Blogschlachtenbummlern möchte ich gleich eingangs eine Absage erteilen: Es geht mir nicht um ein Aufrechnen alter Konflikte mit Dritten oder Dritter mit den Autorinnen, die ich nicht kenne und gegen die ich nichts habe. Sondern es geht um den Gegenstand an sich, und das ist zwar die Materie Queerfeminismus, aber zunächst mal ein singuläres Buch.

Meine Erwartungshaltung als ich mit dem Lesen begann hatte zuförderlichst einmal darin bestanden, erläutert zu bekommen, worin sich Queerfeminismus von Feminismus im Allgemeinen unterscheidet, inwieweit queerfeministisches Denken in sonstiges feministisches Denken eingebettet ist, ich hatte eine Art Bestandsaufnahme des radikalen feministischen Denkens auf dem Status quo von jetzt erwartet. Diese Erwartungen erfüllt das Buch in keiner Weise. Schon formal fühlte ich mich etwas vor den Kopf gestoßen.

Bei Büchern, die von politisch aktiven Menschen über die eigenen politischen Inhalte geschrieben werden sind vor allem zwei Darstellungsformen üblich und verbreitet: Autobiografien bzw. Erlebnisberichte, die das eigene politische Denken und Handeln narrativ aus der eigenen Vita ausbreiten und zum anderen theoretische Arbeiten im engeren Sinne, die einen politischen Denkansatz aus der politischen Entwicklung und Rezeptionsgeschichte her darstellen. Nichts von Beidem geschieht hier, nach kurz abgerissenen Lebensläufen der Autorinnen wird hier fast übergangslos mitten in die Sache gesprungen. In einer nicht-erzählerischen, wissenschaftlichen Abhandlung eines politologischen Themas ist eine bestimmte Vorgehensweise normalerweise strikt vorgegeben: Eine einleitende Erläuterung des Themas, ein Abriss des bisherigen Diskussionsstandes und der wesentlichsten Kontroversen in der Diskussion und eine Abgrenzung des eigenen Ansatzes von den anderen, ehe vertieft zur Sache gegangen wird. Nichts davon findet statt (außer in ein paar lapidaren Sätzen über ein paar Seiten, wo es um hegemoniale Geschichtsschreibung und queere und antirassistische Gegenpositionen geht, dazu gleich noch mehr), als Leser muss ich raten oder aus der sonstigen Beschäftigung mit feministischer Theorie zwischen den Zeilen ableiten, worin sich Queerfeminismus von sonstigem Feminismus unterscheidet oder wie Queerfeminismus entstanden ist. Noch nicht einmal ein abstracts, das eingangs die Kerngedanken zusammenfasst, Grundvoraussetzung der Veröffentlichung eines Aufsatzes in einer StudentInnenzeitschrift, ist vorhanden. Teilweise sehr provokante Positionen der Autorinnen, die auch im Widerspruch zu anderen feministischen oder antirassistischen Haltungen stehen werden nicht durch Quellenbelege, Zitate oder Sekundärtexte belegt, sondern einfach apodiktisch behauptet. Das ganze Büchlein kommt ohne Fußnoten aus. Auch das schmale Literaturverzeichnis am Ende, das einen Überblick über für das Buch relevante queerfeministische und antirassistische Literatur geben will bewegt sich ausschließlich innerhalb der eigenen Filterblase, Klassiker wie „Das Unbehagen der Geschlechter“, „Gender Troubles“, „Jenseits der Macht, „Strange fruit“ ….. fehlen komplett. An keiner mir bekannten Fakultät hätte ein solches Buch irgendeine Chance, als schriftliche Arbeit überhaupt zugelassen zu werden, da es rein handwerklich jegliche wissenschaftliche Arbeitsweise vermissen lässt. Auf fast jeder Seite schrieb ich bei meiner anfänglichen Lektüre gleich mehrmals „Beleg?“ an den Seitenrand.

Gewöhnungsbedürftig, aber ambitioniert und interessant ist der Sprachstil der Autorinnen, Sprachdekonstruktivismus im besten Saussureschen Sinne, mit dem die Gewordenheit und gesellschaftliche Bedingtheit und Machtabhängigkeit von Begrifflichkeiten sehr schön verdeutlicht wird. So heißt es: „durch… hierarchisierungen verschiedener sprach_handlungen werden eurozentrische, weiße und akademisierte diskurse naturalisiert und normalisiert. sie werden also als „natürlich, ursprünglich, unveränderlich, vorgängig“ vorausgesetzt und diese herstellung weder als machtvoller prozess wahrnehmbar gemacht, noch als herstellung benannt…. sprach_handlungen scheinen lediglich in schriftlicher form vermittelbar, was wiederum ableismus, also diskriminierung_en, die aufgrund von zugeschriebenen, konstruierten und naturalisierten körperlichen und psychischen „fähigkeiten“ erfolgen, re_produziert“ S. 10. ff.

(Anm. d. Verf.: hier habe ich echt etwas dazugelernt, bisher bedeutete Ableismus für mich schlicht ein Synonym für Behindertenfeindlichkeit.)

Damit erfolge „Wegnennung“ von Quellen und somit, in fast allen genealogischen Erzählungen, eine Art zwangsläufiger Geschichtsklitterung. Bis zu diesem Punkt kann ich den Autorinnen sehr gut folgen und auch zustimmen, ich hatte ja selbst in der Auseinandersetzung mit Neuen Rechten einerseits und Wirtschaftsliberalen andererseits erlebt, wie bestimmte emanzipatorische Gedanken gar nicht mehr formulierbar gemacht werden sollen. Dann allerdings verlassen die Autorinnen den Boden der empirisch nachvollziehbaren Darstellung feministischer Geschichtsschreibung, wenn es heißt“ „wir möchten transparent machen, wie wir mit unserer queer_feministischen praxis in bezug zu verschiedenen geschichten und genealogien stehen….wir wollen die begriffe nicht ihren kontexten entreißen und mit völlig anderen be_deutungen füllen, weil wir verantwortung übernehmen, wenn wir bestimmte begriffe über_nehmen. es gibt allerdings nicht_die-erzählung von queer_feminismus. das wellenmodell lehnen wir als form der erzählenden einbettung feministischer geschichte ab, weil die eurozentrierenden, weißen, heteragegenderten und ableisierten normen dieser hegemonialen geschichtsschreibung bis heute kaum hinterfragt werden und damit ein großer teil feministischer geschichte, konflikt- und tradierungslinien sowie inhalte entmerkt und weg_genannt werden.“

Und hier schreit es bei mir geradezu: „Wo ist der Beleg?“. Dass die Standardinterpretation der Realität in einer heteronormativen Gesellschaft heteronormativ ist und dass weiß-männlich-heterosexuell noch immer das alles andere dominierende Muster ist lässt sich nicht abstreiten, dass queere und speziell lesbische Lebensrealítität permanent ausgeblendet wird („weggenannt“) auch nicht. Aber dies ausgerechnet an der Gschichtsschreibung festzumachen und dieser zu unterstellen, all die Thematiken, die sich aus der Wahl einer anderen Perspektive als whm ergeben zu unterdücken ist schon weit mehr als fragwürdig. In einschlägigen Zeitschriften wie Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis werden solche Fragestellungen sehr wohl diskutiert, und zwar kontinuierlich seit einer Zeit, als beide Autorinnen noch zur Grundschule gingen, gerade die Geschichtswissenschaft hat dem Dekonstruktivismus in der Tradition Bourdieus und Foucaults in Deutschland zum Durchbruch verholfen, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Körpergeschichte, Umweltgeschichte sind längst im Mainstream angekommen. HistorikerInnen wie Karin Hausen, Maria Mies, Gerburg Treusch-Dieter, Adelheid von Saldern, Rebecca Habermas, Doris Kaufmann und Karl-Heinz Roth haben sehr viel dazu beigetragen, dass die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, des Waschens, der Hygiene, die mündlich überlieferte Geschichte der nicht schreibenden Unterschichten (oral history), die Geschichte sozialer Protestbewegungen und die Entwicklung von Geschlechtsrollen-orientierungen im Wandel der Zeiten für wichtiger oder zumindest genauso wichtig angesehen werden wie die offizielle Politik- und Staatsgeschichte, die in ihrer Reinform nur noch an inselartigen besonders konservativen Fakultäten in der Geschichtsforschung wie Bonn oder München vertreten wird. Dieser Paradigmenwechsel vollzog sich im Verlauf der Achtziger und Neunziger Jahre. Die an die Gendertheorie anknüpfende Alltagsgeschichte wurde schon in den Achtzigern vom damaligen Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte vertreten. Mehr Establishment geht nicht.

Was die „weiße“ Geschichtsschreibung angeht erwähne ich die dem MPI nahestehende wichtige Zeitschrift Historische Anthropologie, in der nicht nur Beiträge von AutorInnen aus allen Weltregionen publiziert und solche mit definitiv antirassistischen Stoßrichtungen veröffentlich werden, sondern solch wunderschöne Provokationen wie die Beiträge von Gananath Obeyesekere, in denen er süffisant kolonialrassistische Stereotypen umdrehend sich durchaus wissenschaftlich ernsthaft damit beschäftigte, dass „der sogenannte Kannibalismus der Maori“ sich in Wirklichkeit nur auf den „Konsum von Europäern beschränkt“ habe und damit zu einem Zeitpunkt, als Frankreich gerade das Mururoa-Atoll in die Luft sprengte in der sog. „Südsee“ einen Cannibal-Chic auslöste. Die hegemonisierende, weiße, männliche Geschichtsschreibung ist innerhalb der Geschichtswissenschaft selber längst schon Geschichte geworden.

Im Sinne der Operationalisierbarkeit verschiedener Ansätze zum geeigneten Zeitpunkt im Rahmen postmoderner Philosophieauffassung folgerichtig, in der konkreten Form allerdings völlig ahistorisch wird es dann an dieser Stelle: „es gibt nach unserem verständnis keinen „ursprung“ von queer, genauso wenig wie es eine trennung von theorie und praxis gibt. es gibt lediglich verschiedene erzählungen, die je nach sozialer position für e_inen selbst im verborgenen liegen und die erst be_nannt werden müssen, bevor sie denk- reflektier-und verhandelbar sind.“

Damit sind wir einerseits beim zu ergründenden inneren Selbst, dessen Existenz von Foucault vehement abgelehnt wurde, andererseits jenseits jeder historisch entstandenen Entwicklungslinie. Im Folgenden nehmen die Autorinnen dann eine Unterteilung sexistischer Strukturen in verschiedene Kategorien vor, der ich wieder im Wesentlichen zustimmen kann (Kategorialgenderung, Androgenderung, Zweigenderung, Ciscgenderung, Heteragenderung und Reprogenderung), um dann allerdings zu einem Punkt zu kommen, den ich als intellektuellen Schuss ins eigene Knie bezeichnen würde: „über die verwendung des begriffs klassismus sind wir uns nicht sicher und auch nicht in allen aspekten einig. was ist eigentlich gemeint mit dem begriff? wer benutzt den begriff wie, in welchem kontext, mit welcher positionierung? sind damit (nur) ökonomische verhältnisse gemeint? was ist mit habitus? nicht teilhabe an bildung? der klassistischen ab_wertung von körpern, kultur, sprache, verhaltensweisen? muss ich mich auf marx beziehen, wenn ich klassismus thematisieren will?“ (S.17). Es klingt jetzt vielleicht gemein, aber bei dieser Passage fing eine alte Genossin von mir, ehemalige Emma-Mitstreiterin, lauthals zu lachen an. Eine derartige Offenbarung von „keine Ahnung“ in einem Buch, das sich als feministische Theorieschrift versteht ist schon beachtlich. In der Traditionslinken wie in der Frauenbewegung ist der Zusammenhang zwischen Klasse und Patriarchat eigentlich klar, und abgesehen von obsoleten Diskussionen um Haupt- und Nebenwidersprüche recht eindeutig gefasst. Männliche Dominanz- und Besitzverhältnisse sind demzufolge historisch zwangsläufig miteinander verknüpft. Am Anfang des Patriarchats steht die jungsteinzeitliche Revolution, in deren Verlauf Männer sich den Besitz des Landes und des Viehs, die Kontrolle über die Waffen und über die Reproduktionsarbeit bzw. Arbeitskraft überhaupt der Frauen sicherten. Jede gesellschaftliche Formation seither kommt nicht ohne die Reproduktion ungleicher Besitz-und Geschlechterverhältnisse aus. Das ist so ganz grob die Matrix, die den Hintergrund sowohl marxorientierter als auch klassisch-feministischer Ansätze bildet (Klassiker: Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Bebel, Die Frau und der Sozialismus, de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Schwarzer, Der Kleine Unterschied und seine großen Folgen, mit den Themen aus den letzten Zeilen aus dem Zitat beschäftigte sich Bourdieu in „die feinen Unterschiede“), wenn das noch nicht einmal mehr gewusst wird eröffnet sich allerdings ein Abgrund an Desinformiertheit bei Leuten, die den Anspruch haben, Andere zu informieren.

http://de.wikipedia.org/wiki/Dreifachunterdr%C3%BCckung

Überhaupt scheinen den Autorinnen die Verknüpfungen von Diskriminierung-Marginalisierung-Sexismus-Rassismus und Ökonomie nicht klar zu sein, dann fehlt es allerdings an den Grundlagen der eigenen theoretischen Verortung. Und da die Diskriminierung marginalisierter Gruppen ohne sozioökonomische Theorie gedacht wird werden unterschiedliche Diskriminierungsverhältnisse aneinander gereiht bzw. unterschiedslos nebeneinandergestellt, neben Sexismus, Rassismus, „Klassismus“ und Homophobie z.B. Ableismus, Diskriminierung von Dauersingles ohne Partnerbeziehungen oder von Dicken. Eine Perspektive von revolutionärer oder auch reformistischer Überwindung bestehender HERRschaftsverhältnisse haben die Autorinnen nicht, es geht ihnen vielmehr um die Einnahme der richtigen Haltungen und von punktuellen, situationsgebundenen „Interventionen“ gegen Dominanzsstrukturen. Bei Intervention würde ich als aktionsorientierter Linker nun an Frauen-schlagt-zurück-Vergewaltiger-wir-kriegen-euch-Aktionen, Notruftelefone oder Blockaden gegen Abschiebungen denken, aber auch das scheint wiederum nicht gemeint zu sein, sondern in erster Linie Sprechakte: hierarchisierte Verhältnisse und Privilegien verbal oder symbolisch sichtbar zu machen. „wir begreifen jede form von denken_erleben_fühlen_sprechen_schreiben bereits als handeln, es gibt keine nicht-handlungen und keine prozesse, zustände oder gedanken, die einer handlung vorgängig sind. Somit ist eine gesellschaftliche struktur kein „fester“ zustand, sondern eine permanente handlung, wird durch handlungen hergestellt, gefestigt und aktualisiert…. Rund um den begriff handeln_handlung würde es sich im rahmen dieses buches anbieten, sich den begriffen „aktivismus“, „widerstand“, kampf“ und „bewegung_en“ w_ortend zu nähern. Wir haben uns gegen die verwendung und w_ortung dieser begriffe entschieden. Einerseits weil diese begriffe erneut hierarchisierungen zwischen handeln als aktivem „tun“ und nicht_handlungen generieren und somit ableismus re_produzieren. Andererseits weil sie in ihren konventionalisierten verwendungen nicht in gänze er_fassen, wie wir diese begriffe deuten. sie ziehen inhaltliche grenzen, wo wir keine sehen und hierarchisieren interventionen in diskriminierende strukturen und diskurse entlang einer entnannten androgegenderten_weißen_ableisierten norm.“ (S. 21 ff.) Manche Progressiven sind halt in erster Linie wortschrittlich. Von der ersten und zweiten Generation der Frauenbewegung fühlen die Autorinnen sich nicht vertreten und konstatieren, dass diese auch nichts mit queeren Inhalten zu tun habe, sondern vor allem die Interessen heteroexueller weißer Frauen formuliert hätten. In Anbetracht der Tatsache, dass dazu die immer zum großen Teil aus Lesben bestehende Emma-Redaktion und gemischte hetera-lesbische Frauenzusammenhänge zu rechnen sind, die im Gegensatz zu Bretz und Lantzsch in strategischen Bündnissen und pragmatischer Arbeit denken und handeln wird dies der Sache nicht ganz gerecht, denn damit wird auch der sehr relevante Anteil queerer Frauen innerhalb der allgemeinen Frauenbewegung unterbelichtet. Unter dem Begriff „Umverteilung ohne Anerkennung“ wird von Privilegierten, z.B. Heten oder Männern erwartet oder verlangt, zugunsten von Marginalisierten zurückzutreten und Unterstützungs- oder Reproduktionsarbeit wahrzunehmen, den von Marginalisierung Betroffenen aber die SprecherInnenposition zu überlassen. Das finde ich gut, es ist aber nicht neu. Aus meiner Biografie in linken Gruppierungen kenne ich die Herangehensweise, dass die Schüchternen, die Stotternden, die MigrantInnen usw. aufs Podium gehen oder die Texte schreiben oder vortragen sollen als eine Selbstverständlichkeit. Wenn das heute nicht mehr so ist – ich kann aus eigener Erfahrung nur über Leute sprechen, die ihre Sozialisation in links-emanzipatorischen Gruppen in den 1970ern, 80ern und 90ern erlebt haben und wenn heute noch aktiv so von den Youngsters abgeschnitten sind – dann dokumentiert dies, was eine emanzipatorische Bewegung alles an selbstverständlicher Kultur und selbstverständlichem Wissen inzwischen verloren hat. Oder aber es dokumentiert nur den Binnenhorizont einer kleinen Subkultur, so etwas kenne ich ja auch aus eigenem Erleben. Über den Theoriestand des Queerfeminismus habe ich aus dem Buch so gut wie nichts erfahren.“

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14. August 2013 at 22:30

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Reine Formsache

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„Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lang es ihren Zauber erfährt“

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen

Der heutige Text fällt etwas aus dem selbstgesteckten Rahmen, paßt aber, wie ich finde, ganz gut. Zum einen setzt er eine Diskussion fort, die im Aisthesis-Blog von Bersarin begonnen wurde. Darin ging es um Adornos viel geschmähte, von mir immer vehement verteidigte Kritik am Jazz. Dank ziggev, der mehr von der Materie versteht als ich, mußte diese Diskussion nicht in Äußerlichkeiten steckenbleiben, sondern konnte sich exemplarisch an einem konkreten Musikstück, Billie Holidays Interpretation von Easy Living, entfalten. Ich demonstrierte an diesem Stück, das ziggev gegen Adornos Kritik in Anschlag gebracht hatte, daß Adornos Kritik an der musikalischen Form des Jazz völlig berechtigt ist: Die Form dieses Stückes ist eine kulturindustriell vorfabrizierte Hülle, innerhalb derer keinerlei musikalische Entwicklung stattfindet, ein völlig äußerliches 32-Takte Schema in der Aufteilung AABA (ziggev wies mir im Ausgleich dazu nach, daß meine Abqualifizierung der Harmonik als bloßen Impressionismus zu kurz griff).

Doch warum ist die Form eigentlich so wichtig? Warum reduziert sich ein Kunstwerk auf bloßes Kunstgewerbe, wenn die künstlerische Form dem Ganzen äußerlich bleibt? Die Antwort auf diese Frage ist komplizierter, als man annehmen möchte. Und sie führt uns zurück in die Zeit, in der ich letzte Woche hier im Blog stehen geblieben war, in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der bürgerlichen Kunst und Kultur, die ich im letzten Blogbeitrag als eine nicht-diskursive Form der öffentlichen Auseinandersetzung beschrieben hatte, wurde der Formbegriff im Klassizismus heilig. Und dies keineswegs nur aus rein inner-ästhetischen Gründen, sondern aus ganz handfesten politischen. Warum das so ist, versuche ich im folgenden an Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen deutlich zu machen.

Im Januar 1793 war Ludwig XVI. hingerichtet worden, Anfang Juni schlug die französische Revolution dann endgültig in eine Terrorherrschaft um, die binnen eines Jahres mehrere Zehntausend Menschen das Leben kostete. Und Schiller, der wie Hegel oder Hölderlin zunächst ein Bewunderer der französischen Revolution gewesen war, begann zur selben Zeit seine Ansichten zur Ästhetik in einer Reihe von Briefen zu entwickeln, die zunächst an den Prinzen Friedrich Christian von Augustenburg gerichtet waren, die dann aber 1795 in deutlich veränderter Form in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien.

Der Grund dafür, daß Schiller sich der Ästhetik zuwandte, hatte nichts mit Eskapismus zu tun. Der Umschlag von Freiheit in Terror, dessen Zeuge er geworden war, bestärkte Schiller in seiner Ansicht,

„daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert.“ ([2], S. 11)

Das eigentliche Problem, so Schiller, liege in der Doppelnatur des Menschen begründet, der einerseits ein sinnliches Natur-, andererseits aber auch ein abstraktes Vernunftwesen ist. Dort, wo die sinnliche Natur des Menschen triumphiert, ist er ein Wilder, wo aber die abstrakte Vernunft herrscht, Barbar. Die französische Revolution hatte den Naturstaat zerschlagen, der die wilde, sinnliche Seite des Menschen in Schranken gehalten hatte, aber der abstrakte Vernunftstaat eines Robbespierre erwies sich dann als neue Form der Barbarei. Tatsächlich lesen sich manche Passagen bei Schiller bereits wie eine Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Schiller stellt deshalb die Forderung auf, daß Natur so wenig dem abstrakten Zugriff der Vernunft unterworfen werden dürfe wie die Mannigfaltigkeit der Natur die Einheit der Vernunft unterminieren:

„Wenn also die Vernunft in die physische Gesellschaft ihre moralische Einheit bringt, so darf sie die Mannichfaltigkeit der Natur nicht verletzen. Wenn die Natur in dem moralischen Bau der Gesellschaft ihre Mannichfaltigkeit zu behaupten strebt, so darf der moralischen Einheit dadurch kein Abbruch geschehen; gleich weit von Einförmigkeit und Verwirrung ruht die siegende Form.“ ([2], S. 17f)

Und damit sind wir bei der Form angelangt, die Schiller hier unvermittelt in seinen Text einbrechen läßt. Die Form garantiert, daß Sinnlichkeit und Vernunft sich in einem ausbalancierten Verhältnis finden. Wie allerdings dieser Ausgleich faktisch zustande kommen kann, dies zu begründen bereitet Schiller ziemliche Mühe.

Zu diesem Zweck postuliert Schiller zwei menschliche Grundtriebe:

„Der erste dieser Triebe, den ich den sinnlichen nennen will, geht aus von dem physischen Daseyn des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur, und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen […]. Dieser Zustand der bloß erfüllten Zeit heißt Empfindung, und er ist es allein, durch den sich das physische Daseyn verkündigt.“ ([2], S. 47)

Diesem sinnlichen Trieb, der den Menschen in den Strudel kontinuierlicher sinnlicher Empfindungen hineinreißt, steht ein anderer, entgegengesetzter Trieb gegenüber:

„Der zweyte jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus von dem absoluten Daseyn des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur, und ist bestrebt, ihn in Freyheit zu setzen […] und bey allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten.“ ([2], S. 48)

Zwischen diesen beiden Trieben muß es einen Ausgleich geben, denn die Verabsolutierung des einen wie des anderen führt entweder in Wildheit oder Barbarei. Deshalb muß es eine Instanz geben, die diesen Ausgleich herstellt:

„Ueber diese zu wachen, und einem jeden dieser beyden Triebe seine Grenzen zu sichern, ist die Aufgabe der Kultur, die also beyden eine gleiche Gerechtigkeit schuldig ist, und nicht bloß den vernünftigen Trieb gegen den sinnlichen, sondern auch diesen gegen jenen zu behaupten hat. Ihr Geschäft ist also doppelt: erstlich: Die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freyheit zu verwahren: zweytens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicher zu stellen.“ ([2], S. 51)

Zu diesem Zweck postuliert Schiller nun einen dritten Trieb, der die Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft bewerkstelligen kann: Den Spieltrieb.

„Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt seyn, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.“ ([2], .S. 57)

So werden Sinnlichkeit und Form zueinander in Beziehung gesetzt, obwohl sie grundsätzlich unterschiedlichen Sphären angehören. Die Sinnlichkeit soll erscheinen, als ob sie nicht willkürlich sei, sondern der Form entspringe. Und die Form soll den Anschein erwecken, als ob sie sich zwanglos aus der Sinnlichkeit ergebe: So, und nur so, entsteht ästhetische Freiheit. Und an dieser ästhetischen Freiheit, am gelingenden Kunstwerk, das die spielerische Verschränkung von Sinnlichkeit und Form verwirklicht, machen wir die Erfahrung, was es wirklich heißt, Mensch zu sein:

„Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne daß die Gattung, die in uns wohnt, daran Antheil nähme […]. Die Freuden der Erkenntniß genießen wir bloß als Gattung, und indem wir jede Spur des Individuums sorgfältig aus unserm Urtheil entfernen […]. Das Schöne allein genießen wir als Individuen und als Gattung zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung.“ ([2], S. 121)

Dies ist die Utopie, die das bürgerliche Kunstwerk angesichts des Schreckens der französischen Revolution postuliert: Die Versöhnung des Allgemeinen mit dem Besonderen und umgekehrt. Sie kann aber nur gelingen, wenn die Form dem Kunstwerk nicht äußerlich bleibt, sondern aus der Entwicklung der sinnlichen Momente sich entfaltet, wie sie umgekehrt diese Momente in einen vernünftigen Zusammenhang bringt.

Und weil mir der Text schon wieder viel zu lang geraten ist, werde ich erst nächste Woche ausführen, wie sich dies diese Utopie noch einmal negativ widerspiegelt in Adornos Kritik der Kulturindustrie. Freuen Sie sich also auf nächste Woche, wenn Adorno meint:

„Unter der reicheren Oberfläche des Jazz liegt kahl, unverändert, deutlich ablösbar, das primitivste harmonisch-tonale Schema mit seiner Gliederung in Halb- und Ganzschluß und damit der ebenso primitiven Metrik und Form.“ ([1], S. 774)

Nachweise

[1] Adorno, T. W.: „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“, in: Adorno, T. W., Gesammelte Schriften Bd. 18, Frankfurt 1970ff, S. 729 – 777.

[2] Schiller, F., Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000.

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9. August 2013 at 14:33

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Öffentlichkeit und Filterblasen (8)

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Politische und kulturelle Öffentlichkeit

„Der erste bewußte Entdecker und gewissermaßen auch Theoretiker des Intimen war Jean-Jacques Rousseau“

Hannah Arendt

Ich habe letzte Woche reichlich herumgeeiert, um die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als einer neuen Form von Öffentlichkeit darzustellen. Mit Herumeiern meine ich, daß ich – da ich nicht gerade Spezialist für die Geschichte des 18. Jahrhunderts bin – versucht habe, die Habermassche Darstellung, die dieser in Strukturwandel der Öffentlichkeit präsentiert hat, kurz zu skizzieren. Irgendetwas schien mir aber in der Habermasschen Darstellung nicht zusammenzupassen, wobei ich allerdings dachte, das läge eher an Darstellungsproblemen meinerseits denn daran, daß Habermas nicht zusammenpassende Dinge passend gemacht hat. Nach einigem Überlegen bin ich mir da aber nicht mehr ganz sicher.

Sicherlich richtig ist folgendes: Seit dem 15. Jahrhundert bildet sich, zusammen mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, sukzessive eine gesellschaftliche Sphäre heraus, die wir bürgerliche Gesellschaft nennen. Diese bringt eine eigene Form der Öffentlichkeit mit sich, die unabhängig von der repräsentativen Öffentlichkeit des Staates dazu dient, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Es ist dies das Selbstverständnis des aufstrebenden Bürgertums sowie der sich verbürgerlichenden Teile des Adels.

Das Problem – und genau darin liegt mein Herumgeeiere begründet – ist die Doppeldeutigkeit dieser Öffentlichkeit. Wenn wir uns noch einmal das griechische Modell vor Augen führen, dann war Öffentlichkeit praktisch synonym mit dem Politischen. Das Öffentliche war politisch und das Politische konstituierte sich durch die Öffentlichkeit. Die bürgerliche Öffentlichkeit ist aber keine ausschließlich politische Öffentlichkeit. Sicherlich: Was in den Londoner Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts diskutiert wurde und in den entsprechenden Zeitungen publiziert, war zweifellos politisch. Hier wurden Dinge verhandelt, die unmittelbar auf die Sphäre des Staates Rückwirkungen hatten. Die bürgerliche Öffentlichkeit ist also eine politische Öffentlichkeit. Aber eben nicht nur.

Denn die Debatten, die im 18. Jahrhundert geführt wurden, waren nicht ausschließlich politische Debatten. Sondern eben auch kulturelle Debatten. Und hier, so denke ich, vermischt Habermas zwei Dinge, die zwar faktisch zusammengehören, die aber zunächst einmal analytisch getrennt werden müssen. Habermas versucht, die britischen Kaffeehäuser umstandslos mit den französischen Salons oder den deutschen Tischgesellschaften gleichzusetzen ([1], S. 48ff). Doch diese Institutionen waren, im Vergleich zu den englischen, deutlich unpolitischer, dabei aber viel stärker kulturell orientiert.

Wir müssen deshalb, was bei Habermas immer wieder verwischt wird, die politische von der kulturellen Öffentlichkeit unterscheiden. Daß die politische Öffentlichkeit in England deutlich stärker ausgeprägt war als auf dem Kontinent, verwundert nicht: Hier gab es bereits auf der Ebene des Staates Strukturen, die sehr direkt durch eine demokratische politische Öffentlichkeit beeinflußt werden konnten. Auf dem Kontinent sah das noch anders aus: Zwar bildete sich dort auch in einem gewissen Maße eine politische Öffentlichkeit heraus, doch deren Einflußmöglichkeiten waren gering: Sie konnte bestenfalls Vorschläge publizieren, mußte aber auf den guten Willen des Herrschers vertrauen, daß dieser die Vernunft dieser Vorschläge einsah. Insofern war auf dem Kontinent die kulturelle Öffentlichkeit weitaus dominanter als die politische, ersetzte diese sogar teilweise.

Die kulturelle Öffentlichkeit aber bezieht sich weniger auf den Staat, als vielmehr auf die bürgerliche Gesellschaft selbst: Es wird ein Selbstverständnis, ja ein bürgerlicher Wertekanon entwickelt, der dann im 19. Jahrhundert als bürgerliches Klassenbewußtsein identifiziert werden konnte.

Und dieser kulturelle Wertekanon stellte, obwohl auf die Gesellschaft zielend, paradoxerweise das Individuum in den Mittelpunkt. Zielte also der politische Diskurs auf den Staat, so der kulturelle auf das Individuum. Dieses Individuum war nicht mehr einfach länger nur Person, jemand, dem sein Platz in der Gesellschaft durch Herkommen zugewiesen war; vielmehr stand für dieses Individuum die Entfaltung seiner Persönlichkeit im Zentrum. Dadurch entwickelt sich auf dieser kulturellen Ebene etwas neues, nämlich die bürgerliche Moral.

Der politische Diskurs wird, zumindest im Prinzip, so geführt, daß von den Personen abgesehen wird. Idealtypisch geht es um Argumente, die öffentlich ausgetauscht werden. Und die Öffentlichkeit selbst ist schließlich die Instanz, die darüber befindet, welche Argumente die richtigen sind und wie diese in Staatshandeln übersetzt werden sollen. Natürlich geht es dabei um Interessen und diese Interessen werden oft nicht offengelegt. Aber genau das soll ja der öffentliche politische Diskurs leisten, daß solche versteckten Interessen ans Tageslicht kommen und daß ein vernünftiger Interessensausgleich gefunden werden kann. Was sich im politischen Diskurs herausstellt, ist – zumindest idealtypisch – ein gemeinsamer Wille aller.

Der kulturelle Diskurs hingegen funktioniert anders. Hier wird nicht argumentiert, sondern es werden Evidenzen präsentiert. So und so ist der Mensch oder: so und so soll er sein. Kunst und Kultur erzeugen auf diese Weise ein Verständnis, was es heißt, Mensch zu sein. Wobei dieser „Mensch“ natürlich das patriarchale Oberhaupt der bürgerlichen Familie ist, nicht einfach ein beliebiges Individuum der Gattung Mensch. Und der kulturelle Diskurs erläutert nicht, welche Maßnahmen der Staat ergreifen, sondern wie eine Gesellschaft aussehen soll, in der solche Menschen zusammenleben.

Der eigentliche Witz nun ist, daß gerade der kulturelle Diskurs Ende des 18. Jahrhunderts eine politische Wirksamkeit erlangt, die äußerst frappierend ist. Jean-Jacques Rousseau gießt die Differenz zwischen dem politischen und dem kulturellen Konsens in seine legendäre Unterscheidung zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen:

„Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser sieht nur auf das Gemeininteresse, jener auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen: aber nimm von eben diesen das Mehr und das Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille.“ ([2], S. 31)

Der Gemeinwille ist nach Rousseau das, was alle die Individuen verbindet, wenn man von ihren Sonderinteressen absieht. Genau dies ist es, was die kulturelle Öffentlichkeit produziert: Ein gemeinsames Klasseninteresse, das sich trotz der ökonomischen Konkurrenz der Individuen als ein Wertekanon etabliert. Habermas schreibt hier völlig zurecht:

„Die nichtöffentliche Meinung wird unter dem Titel einer anderen opinion publique zum einzigen Gesetzgeber erhoben, und zwar unter Ausschaltung der Öffentlichkeit des räsonierenden Publikums. Die Prozedur der Gesetzgebung, die Rousseau vorsieht, läßt daran keinen Zweifel. Es bedarf nur des gesunden Menschenverstandes (bon sens), um das Gemeinwohl wahrzunehmen. Die einfachen, ja einfältigen Menschen würden durch die politischen Finessen der öffentlichen Diskussion bloß irritiert; lange Debatten gäben partikularen Interessen Auftrieb. […] Die volonté générale ist eher ein Konsensus der Herzen als der Argumente.“ ([1], S. 121)

Dem einzigen, wo man Habermas eben widersprechen muß, ist die Behauptung, es handle sich dabei um eine „nichtöffentliche Meinung“, die den Gemeinwillen konstituiert. Es handelt sich dabei um eine andere Form der Öffentlichkeit, eben eine kulturelle Öffentlichkeit, die nicht diskursiv ist, sondern auf – scheinbaren – Evidenzen beruht.

Tatsächlich waren die Attacken gegen das ancien regime zum größten Teil auf dieser Ebene angesiedelt. Es wurde weniger das politische Mißmanagement angeprangert, als vielmehr die angeblich inakzeptablen Moral der Repräsentanten und vor allem auch Repräsentantinnen. Einen Höhepunkt dieser Vertauschung von Politik und Moral stellte der Prozeß gegen Marie-Antoinette dar, in dem dieser vorgeworfen wurde, sie hätte mit ihrem eigenen Sohn Unzucht getrieben. Es ist die Rousseausche Ersetzung des eigentlich politischen Diskurses durch einen ominösen „Gemeinwillen“, der sich eben nicht diskursiv herstellt, die den Tugendterror der Jakobiner wenn nicht hervorbrachte, so doch zumindest legitimierte. Ein abstraktes Allgemeines, von dem eine kleine Gruppe behauptet, es sei evident, wird so zur bequemen Abkürzung für das mühsame Geschäft, einen politischen Konsens zu finden.

Und damit nähern wir uns wieder der Filterblasenproblematik und dem Versuch kleiner Gruppen, auf Basis eines kulturellen Konsenses die Öffentlichkeit zu manipulieren.

Ich würde jetzt gerne sagen, worauf Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, nächste Woche freuen dürfen. Doch ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht. Möglicherweise werfe ich noch einmal einen Blick auf den revolutionären Romantizismus, vielleicht springe ich aber auch gleich zurück in die 70er Jahre. Oder ich greife eine Debatte bei Bersarin auf und erläutere anhand von Friedrich Schiller, warum für die bürgerliche Ästhetik die Kategorie der Form von entscheidender Wichtigkeit ist. Sie können ja in den Kommentaren Präferenzen kundtun – ob ich mich dann daran orientiere, wer weiß?

Nachweise

[1] Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied und Berlin 1975.

[2] Rousseau, J.-J., Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1977.

Written by alterbolschewik

2. August 2013 at 16:58

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