shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Burka für alle!

with 29 comments

Eigentlich ist dieses Blog ja nicht mehr so richtig aktiv. Aber ich will der geneigten Leserin, dem geneigten Leser ein Fundstück aus dem Umkreis der social justice warriors nicht vorenthalten, das in seiner Komik kaum mehr zu überbieten ist. Für ein Summercamp in der Nähe von Freiburg, wo sich angebliche „Linke“ treffen, hat die „awareness“-Gruppe einen „code of conduct“ herausgegeben, in dem es heißt:

„Was gerade bei Sommercamps immer wieder zu Auseinandersetzungen führt, ist der Umgang mit Nacktheit. In dieser Gesellschaft genießen nach wie vor nur Männer* gesellschaftliche Akzeptanz bei oberkörperfreiem Auftreten in der Öffentlichkeit. Dies führt häufig dazu, dass viele Männer* dieses Privileg nutzen und schnell ihr T-Shirt ausziehen, wenn es warm ist.“

Schockierend! Junge Männer ziehen bei sommerlicher Hitze ihr T-Shirt aus! Haben die denn nicht ihre Privilegien gecheckt? Daß die linke Szene, vor allem die universitäre, seit den 90er Jahren im Umgang mit Sexualität zusehends prüder wurde, habe ich noch registriert. Ich hätte aber nicht gedacht, daß inzwischen Körperlichkeit selbst als Affront betrachtet wird.

Doch es kommt noch doller:

„Auf der anderen Seite kann ein Sich-Ausziehen auch bestärkend sein, zum Beispiel für Frauen* oder Trans*Personen, die sonst in der Öffentlichkeit ganz anderen Blicken oder Sprüchen ausgesetzt sind.“

Während sich also die Männer züchtig bedecken sollen, ist es für Frauen ein Akt der Emanzipation, sich auszuziehen? Man fragt sich wirklich, in welcher Welt die AutorInnen leben. Überall in der Öffentlichkeit wird der mehr oder minder nackte weibliche Körper in Szene gesetzt. Damit einher geht die Definition einer Norm, wie der nackte weibliche Körper unter kapitalistischen Bedingungen auszusehen habe. Und wer nicht so aussieht, soll gefälligst die Produkte und Dienstleistungen kaufen, die den Konsumenten vorgaukeln, sich dadurch dieser Norm anzunähern.

Meinen die Privilegienchecker wirklich, daß diese Normen auf ihrem Sommercamp außer Kraft gesetzt sind? Es werden in der von ihnen inszenierten Atmosphäre garantiert nicht die kleinen, mit Speckfalten gesegneten, bleichen Stubenhockerinnen ihr T-Shirt ausziehen und sich dadurch „empowern“. Denn gerade dadurch, daß Nacktheit zu einem Thema gemacht und mit moralischen Hinweisen umstellt wird, schaffen die TugendwächterInnen eine Atmosphäre, in der nackte Körper ungebührliche Aufmerksamkeit erregen. Aus einem bloßen Ausziehen wird automatisch ein Zurschaustellen gemacht – und genau das schreckt die ab, deren Körper den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen.

Das war, gerade in der Linken, einmal anders. In den 70er und 80er Jahren dachte sich wirklich niemand etwas dabei, wenn sich auf einem sommerlichen Treffen in freier Natur Menschen auszogen. Ob da jemand eine Wampe hatte oder die Brüste herunterhingen, war völlig belanglos. Das Ausziehen hatte nichts von Inszenierung, war keine Leistungsschau der Körper und hatte auch keine sexuelle Komponente. Es war einfach Sommer und warm… Und die repressive bürgerliche Moral hatte man, zumindest bildete man sich das ein, längst hinter sich gelassen.

Die sich links gebärdende Prüderie hingegen läuft hingegen auf eine Talibanisierung hinaus: Der einzige Ausweg aus ihren Dilemmata ist die Burka – und zwar für alle. Dann endlich, wenn alle Körper hinter einer Komplettverschleierung verschwunden sind, können sie sich von gleich zu gleich begegnen, ohne daß irgendjemand von seinen Privilegien profitiert.

Written by alterbolschewik

14. August 2015 um 12:38

29 Antworten

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  1. Und Tach!
    Sitze gerade N A C K T wie der Grill mich schuf vor dem Bildschirm und entsprechend unemanzipatorisch geht der Daumen (nur der!) hoch für diesen Beitrag!
    Ansonsten wird der Klimawandel den politisch korrekt eingewamsten Pamphletschreibern schon die Flausen aus dem Kopf, resp. die Flusen vom Leib treiben.

    summacumlaudeblog

    15. August 2015 at 7:54

    • Der Klimawandel ist schon da: Hier in Freiburg ist es heute 10° kälter als in Berlin – das ist doch nicht normal! Insofern sitze ich zwangsweise züchtig eingekleidet vor meinem Laptop und wünsche ein abkühlendes Gewitter nach Berlin.

      alterbolschewik

      15. August 2015 at 15:10

  2. Und ich erinnere mich noch an eine Zeit, da galt das Love In als emanzipatorische linke Demonstration…. why don´t we do it in the road und so…öffentlicher Gruppensex als situationistische Praxis.

    Bin heute noch ein ausgesprochener Freund des Saunaflirts, den ich gerade wieder praktizierte. anschließend saß dann die Betreffende mit Mann und Kind am Essenstisch und griente mich breit an;-)

    che2001

    16. August 2015 at 11:48

    • Talibanisierung, Burka, … das ist doch der große Holzhammer.

      Deiner Schlussfolgerung, dass auf einem solchen Sommercamp die BesucherInnen wahrscheinlich nicht ungezwungen nackt herumspringen werden, kann ich noch zustimmen. Und ich würde fehlende Shirts auch nicht in einer Form skandalisieren wollen, die das Ganze als unerwünscht erklärt.

      Aber die von dir angeführten „sommerlichen Treffen in freier Natur“ oder die von che genannte Sauna sind einfach keine guten Beispiele. Das sind (oder waren) Orte, an denen die Verhaltensregeln allseits bekannt und abgesteckt sind und das Nacktsein akzeptiert ist.

      Lauf doch einfach mal aufmerksam durch Großstädte (vielleicht ist Freiburg da auch zu klein oder gediegen). Nach meiner Beobachtung hat sich in den letzten Jahren die Zahl der Männer signifikant erhöht, die in Fußgängerzonen Oben ohne herumlaufen, Bahn fahren. Und diese Beobachtung haben auch mehrere Freundinnen gemacht, die alles andere als prüde sind, also kein Problem mit Sauna, FKK etc. haben. Die finden das aber trotzdem als unangenehm und aggressives Gehabe, wenn sich Typen ohne Oberteil im Zug mit 10 Zentimeter Abstand neben sie setzen. Ist halt nicht der passende Ort dafür. Kann ich auch verstehen. Und da kann ich schon mal fragen, wer was mit welchen Konsequenzen machen kann.

      Den Unterschied zwischen dem Mann und Frau hast du ja selbst benannt: „der mehr oder minder nackte weibliche Körper“. Ob du mit maximal knappen Hotpants und nem Top durch die Gegend läufst oder blank ziehst, macht halt einen Unterschied ums Ganze. Bei einem Mann erzeugt das vielleicht ein paar Blicke, bei Frauen wahrscheinlich sehr viel krassere Reaktionen. Von daher ist das was du etwas verächtlich Privilegiencheck nennst, doch manchmal sinnvoll (auch wenn ich die Schlussfolgerungen der CheckerInnen bestimmt nicht immer teile).

      karpfen27

      16. August 2015 at 18:54

    • „Aber die von dir angeführten “sommerlichen Treffen in freier Natur” oder die von che genannte Sauna sind einfach keine guten Beispiele. Das sind (oder waren) Orte, an denen die Verhaltensregeln allseits bekannt und abgesteckt sind und das Nacktsein akzeptiert ist.“

      Aber genau darum geht es doch, um ein Sommercamp in freier Natur. Wenn die AutorInnen gegen die von Dir beschriebenen Auswüchse gerantet hätten – kein Problem. Aber das ist ja genau das Muster, nach denen die Privilegienchecker vorgehen: Es wird, zudem an unpassendem Ort, gegen die eigene Ingroup agitiert, weil’s da einfacher ist. Das ist wie die „black lives matter“-Aktivistinnen, die Bernie Sanders angriffen. Weil sie da natürlich keinen Ärger bekommen würden.

      alterbolschewik

      17. August 2015 at 9:39

  3. „Es wird, zudem an unpassendem Ort, gegen die eigene Ingroup agitiert, weil’s da einfacher ist.“

    Da stimme ich dir zu, dieser krasse Fokus auf kleine Unterschiede – unter Ausblendung der großen Gemeinsamkeiten – ist oft unangebracht. Aus polit-taktischen Gründen geradezu dumm. Aber wie gesagt, ich glaube, man wird dem Thema nicht gerecht, wenn der Talibanvorwurf entgegengesetzt wird. Da gerät dann die in deiner Antwort ja genannte Differenzierung einfach in den Hintergrund.

    Was mich an der Stelle oft eher irritiert, ist der Versuch, durch ellenlange und hölzern formulierte Leitbilder oder Regeln Verhalten beeinflussen zu wollen. Ich habe den Eindruck, dabei geht es eher ums „gute Gefühl“ und den Akt des Verkündens. Aber vielleicht bin ich auch zu wenig in linken Zusammenhängen oder allgemein Gruppen, Initiativen etc. unterwegs und unterschätze so die Möglichkeiten von solchen Texten.

    karpfen27

    17. August 2015 at 13:32

  4. OK, vermutlich ging es darum, solche Entwicklungen, wie von Karpfen beschrieben, mal aufzugreifen.
    Prinzipiell stimme ich dir zu, dass die Thematisierung eher ein „Zurschaustellen“ erzeugt. Jedoch, muss dies so sein?
    „Es werden in der von ihnen inszenierten Atmosphäre garantiert nicht die kleinen, mit Speckfalten gesegneten, bleichen Stubenhockerinnen ihr T-Shirt ausziehen und sich dadurch ‚empowern‘“ unterstellst du.
    Hat viel für sich. Jedoch implizierst du dabei, dass besagte Stubenhockerinnen eh schon über wenig Selbstbewußtsein ob ihres Körpers verfügen. Das muss aber ja nicht der Fall sein. Es gibt ja durchaus Ideen wie Fat Empowerment z.B. die gegen solches Verstecken des Körpers aktiv angehen wollen.
    Muss jede selbst wissen, wie sie dazu steht, nur von vorne herein davon auszugehen, dass die Normen NICHT außer Kraft gesetzt sind und die Idee deshalb nicht verfängt ist vielleicht verkürzt.
    Ich bin selbst kein großer Freund von linker Prüderie bei der „Körperlichkeit selbst als Affront betrachtet wird“.
    Nur, du schreibst selbst zu den 70er, 80er Jahren: „Und die repressive bürgerliche Moral hatte man, zumindest bildete man sich das ein, längst hinter sich gelassen“ und räumst damit ein, dass es vielleicht nur Einbildung war.
    Vielleicht bleibt es auch hier Einbildung, aber es ist ein anderer Weg. Klar kann das was Verkrampftes haben, die Thematisierung, aber mal ehrlich: War es früher wirklich egal? Hattet ihr die Normendamals denn tatsächlich außer Kraft gesetzt? Oder wurden sie nur nicht thematisiert und wirkten daher implizit fort?
    Ne Lösung hab ich auch nicht, ich hab mich nur zuerst deiner Meinung angeschlossen und dann noch einmal nachgedacht. Ich versuche halt sowas nicht sofort pauschal zu verdammen.

    futuretwin

    19. August 2015 at 10:21

  5. Du hattest die Quelle nicht verlinkt, aber sie war ja leicht zu ergoogeln. Das Fazit aus der Pro/Contra-Abwägung, das den von dir zitierten Stellen nachfolgte, hast du „unterschlagen“. 😉

    „Deshalb haben wir uns entschieden, keine allgemeine Regel zum Umgang mit Nacktheit zu formulieren. Wir möchten euch aber bitten, diese Problematik zu bedenken und nicht leichtfertig einfach mal das Shirt auszuziehen.“

    Also, ganz so talibanisch ist es dann doch nicht, oder? 😉

    futuretwin

    19. August 2015 at 11:43

  6. Sorry für meine langen Reaktionszeiten, aber die letzten beiden Tage waren komplett vollgestopft mit anderem Kram.

    Zu Euren Kommentaren: Ich gebe zu, daß das mit Burka und Talibanisierung eine gewisse Troll-Komponente besitzt. Und daß ich die Schlußfolgerung der AutorInnen unterschlagen habe, ist dem auch geschuldet. Einerseits. Aber andererseits würde ich dennoch behaupten wollen, daß da mehr als nur ein Körnchen Wahrheit darin steckt, und das ist ein gesellschaftliches Problem, das uns alle angeht. Entschuldigt also, wenn ich ein bißchen weiter aushole.

    In früheren Jahrhunderten gab es gewisse Regeln des Benehmens, die einfach durch die Gesellschaft gesetzt waren, inklusive eines Spielraumes, innerhalb dessen gegen diese Regeln verstoßen werden durfte (z.B. Karneval). Und so muteten Männer in der Öffentlichkeit (zumindest der bürgerlichen) ihren Mitmenschen nicht ihren nackten Oberkörper zu. Das machte man einfach nicht; und wer es dennoch machte, wollte bewußt provozieren. Diese ungeschriebenen Regeln (und ihre Ausnahmen) hatte ich übrigens, kurz bevor ich dieses Blog aus Zeitmangel in den Ruhestand versetzt habe, als Ordnung bezeichnet. Diese Regelung des alltäglichen Umgangs durch gesellschaftliche oder zumindest klassenweite Konventionen zerbröckelte im Laufe des 20. Jahrhunderts in zusehendem Maße. Ich mache mir heute noch nicht einmal mehr Gedanken darüber, wenn ich mit einer zerrissenen Jeans ins Büro gehe – für die Generation meiner Eltern undenkbar. Es gibt natürlich immer noch Grenzen – so wie Frauen eben nicht oben ohne durch die Straßen laufen können, doch diese Grenzen sind inzwischen sehr, sehr weit gesteckt.

    Das Problem ist, daß das eben nicht nur als Befreiung gesehen werden kann. Sondern, wenn eine Grenze überschritten ist, eben auch als Belästigung von Mitmenschen. Das liegt daran, daß es kaum mehr gesellschaftlich verbindliche Normen gibt, die die Grenzen definieren. Sondern es beruht innerhalb eines sehr breiten Korridors auf der Willkür des Einzelnen, was noch geht und was nicht mehr. Und das ist ein echtes Problem. Was dem einen Ausdruck individueller Freiheit ist, ist der anderen Belästigung.

    Um nun wieder zu verbindlichen Regeln zu kommen, gibt es zwei Lösungen, eine naturrechtliche und eine positive, wie ich sie in Anlehnung an die Rechtsphilosophie nennen möchte.

    Naturrechtlich heißt in diesem Sinn, daß die Begründung bestimmter Verhaltensvorschriften sich auf Tatsachen gründet, die außerhalb des menschlichen Zugriffs liegen. Eine religiöse Begründung ist in diesem Kontext als naturrechtliche Begründung anzusehen: Wenn der Koran gebietet, daß Frauen ihre Haare zu bedecken haben, dann kann kein menschlicher Wille diese Setzung außer Kraft setzen und alle, die das anders sehen sind Abtrünnige, die den absoluten Willen Gottes mißachten. Und es ist gerade der Zerfall selbstverständlicher gesellschaftlicher Normen, der bei einem Teil der Gesellschaft zu einer religiöse Rückbesinnung und damit auf eine naturrechtliche Begründung von Regeln führt. Aus dieser Perspektive ist der Islamismus ein relativ klares Symptom dafür, daß der gesellschaftliche Konsens in den islamischen Gesellschaften schwer am bröckeln ist.

    Die positive Lösung derartiger Probleme hingegen wäre es, daß die Menschen sich, nachdem gesellschaftliche Regeln ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt haben, in einem Akt der Willkür auf neue Regeln verständigen. Die Modalitäten für diese Regelfindung können sehr unterschiedlich sein, die gängigsten sind wohl Mehrheitsprinzip und Konsensprinzip, doch auch diese Regeln können willkürlich festgelegt werden. Wichtig dabei ist aber: Es ist eine willkürliche Entscheidung, die die Gemeinschaft trifft, und es ist auch wichtig, daß ihr diese Willkür bewußt ist. Sie beruht auf keinen Prinzipien, die eine universelle Anwendung gestattet, sondern sie ist einfach eine Entscheidung, die auch anders hätte getroffen werden können.

    So viel zum allgemeinem Hintergrund, vor dem ich diese Problematik sehe. Wenn wir nun auf unseren konkreten Fall zurückkommen, können wir versuchen zu verstehen, ob die Begründungen, die die AutorInnen des codes of conduct, naturrechtlicher oder positiver Art sind. Um es gleich zu sagen: Wenn sie ihre Kleidervorschriften positiv begründet hätten, hätte ich deutlich weniger Problem damit. Die positive Begründung hätte gelautet: „Aus der Erfahrung mit vorigen camps können wir sagen, daß sich eine signifikante Anzahl von TeilnehmerInnen dadurch gestört fühlen, wenn Menschen mit entblößtem Oberkörper herumlaufen. Das Vorbereitungskomitee hat deshalb mehrheitlich beschlossen, daß wir entblößte Oberkörper bei diesem camp nicht dulden werden. Bitte respektiert diese unsere Entscheidung oder bleibt dem camp fern.“ Das wäre eine klare Ansage, die keinerlei Moral enthält und wo sich jede entscheiden kann, ob er/sie das für sich akzeptieren kann oder nicht.

    Das eigentliche Problem für mich fängt aber da an, wo dieses Bekleidungsvorschriften naturrechtlich begründet werden. Denn genau dies ist der Fall. Männliche nackte Oberkörper sind Ausdruck „männlicher Privilegien“ und die Ablehnung derartiger Privilegien ist in diesem Umfeld eine ebenso starke Macht wie es dem Islamisten der Koran ist. Das selbe gilt für das empowerment von „Frauen* und Trans*personen“. Auch das ist eine unhintergehbare Grundlage moralischen Handelns in derartigen Gruppen, aus der dann Verhaltensregeln abgeleitet werden. Das Problem für die AutorInnen des code of conduct ist nun, daß aus ihren Axiomen zwei unterschiedliche Dinge folgen, nämlich die Verhüllung und die Entblößung zugleich, nur für verschiedene Personengruppen, die aber, da gender eine fließende Kategorie ist (noch so eine unhinterfragbare Grundlage), nicht so einfach geschieden werden können. Deshalb dann die windelweiche Kompromißformel, die futuretwin zitiert hat.

    Das Problem in den Diskussionen um derartige Verhaltensmaßregeln innerhalb der radikalen Linken scheint mir zu sein, daß alle die Axiome teilen (Privilegien sind abzulehnen, Minderheiten sind zu empowern, gender ist fließend), dann aber über die moralischen Ableitungen gestritten wird. Und in diesen Auseinandersetzungen gibt es dann, wie im Islam, die Gemäßigten auf den einen, die Taliban auf der anderen Seite. Und die letzteren radikalisieren sich in dem Maße, in dem die Gemäßigten ihnen Konzessionen machen.

    Der eigentliche Punkt im Sinne der Aufklärung wäre meines Erachtens anders zu machen: Wir können alle die erwähnten Axiome als Minimalkonsens anerkennen. Aber wir leiten daraus nichts ab. Wenn wir Verhaltensmaßregeln aufstellen, dann aufgrund klarer Verfahrensregeln (z.B.: Das Organisationsteam darf im Vorfeld Bekleidungsregeln mit Mehrheitsentscheidung festlegen). Damit werden dann diese ganzen unsinnigen Diskussionen obsolet, wenn irgendwelche linken Taliban erklären: „Ihr seid doch auch der Überzeugung daß xy, daraus folgt aber z und deshalb müßt ihr auch z.“ Wir können uns durchaus für z entscheiden, aber das sollte die freie Entscheidung freier Menschen sein, keine imaginäre Ableitung aus gesellschaftstheoretischen Axiomen.

    Und deshalb sehe ich einen Zusammenhang mit den Taliban: Nicht, daß die OrganisatorInnen des Camps fundamentalistische Unterdrücker wären, sondern daß sie ihre Vorschriften naturrechtlich begründen und damit eine endlose und unfruchtbare Diskussion in Gang setzen.

    alterbolschewik

    20. August 2015 at 19:43

  7. Danke für die ausführliche Antwort!

    Ich weiss nicht, ob es möglich ist, aus den 13 Zeilen herauszulesen, ob die Begründung eine naturrechtliche ist. Auch bei Che wurde neulich über Ähnliches diskutiert und mir fiel dazu ein Text ein, der sich damit beschäftigte, was Dekonstruktion kann und was nicht. Problematisch ist, dass es denen, die Dekonstruktionen anwenden manchmal auch nicht bewusst ist. Ich weiss aber nicht, ob dies hier der Fall ist.

    Du schreibst, dass ein Axiom zur Anwendung kommt, das lautet: „Privilegien sind abzulehnen.“ Ist das so? Können Privilegien abgelehnt werden? Wie ist das zu verstehen? Meinst du das auf einer gesellschaftlichen oder auf einer individuellen Ebene? Ersteres wäre: Die Existenz des Privilegs in der Gesellschaft wird abgelehnt. Da würde ich zustimmen, das ist hier der Fall. Jedoch existieren die Privilegien und werden nicht dadurch inexistent, dass ein begrenzter Personenkreis sie kritisiert.
    Zweiteres wäre: Ich lehne das Privileg ab. D.h. ich verfüge darüber, mache jedoch nicht davon Gebrauch. Um etwa einen „geschützten Raum“ zu schaffen. Das muss aber zunächst einmal jeder für sich entscheiden. Nun gibt es hier bezüglich verschiedener Privilegien unterschiedliche Strategien des Umgangs. Bestimmtes Verhalten, das in anderen Räumen geduldet würde, wird es hier nicht.

    Um aber etwa des Camps verwiesen zu werden, bedarf es schon eines hohen Schwellenwerts des „Privilegienmissbrauchs“. Ich glaube, es geht zunächstmal darum, auf die Privilegien hinzuweisen. Das ist der berühmte Check. Sich unbewusster Strukturen bewusst zu machen. Das ist das was Dekonstruktion kann und soll. Aus der Welt sind die Privilegien damit noch nicht.
    Jetzt kann natürlich dieses Bewußtmachen schon eine unangenehme Athosphäre zur Folge haben.
    Du schreibst oben „Denn gerade dadurch, daß Nacktheit zu einem Thema gemacht und mit moralischen Hinweisen umstellt wird, schaffen die TugendwächterInnen eine Atmosphäre, in der nackte Körper ungebührliche Aufmerksamkeit erregen.“ Ja. Passiert.

    Aber es geht nicht darum, dass Regeln aufgestellt werden. Das passiert in dem Text ja eher nicht. Es wird „mit Hinweisen umstellt“. Es wird auf Mechanismen hingewiesen, es wird problematisiert. Aber eben in einem einerseits-andererseits-Modus, wie ich ihn mir tendenziell wünsche.Es steht dort z.B. nicht: „Wer das Shirt auszieht, fliegt raus.“ Und das ist auch bei anderen Aspekten so, nicht nur bei „Nacktheit“. Dort steht etwa:

    „Ein Übergriff oder eine diskriminierende Beleidigung ist für uns etwas anderes als die leichtfertige Benutzung eines Begriffs mit diskriminierenden Implikationen.“

    Es kommt also nicht nur zu „windelweichen Kompromißen“ angesichts des Dilemmas einerseits Männer zu bitten, die Klamotten anzulassen, andererseits Frauen zu ermutigen, sie wegzulassen. Die Windelweichheit zieht sich vielmehr durch den ganzen Text.

    Daher finde ich es etwas verfehlt, aus einer fehlenden positiven Lösung heraus den Vergleich zu Fundamentalismen zu ziehen und, polemisch gesprochen, die Organisatoren gleichzeitig mit der Taliban zu vergleichen und andererseits mit Begriffen wie windelweich ihnen ihre mangelnde „klare Linie“ vorzuhalten.

    Du beschliesst mit:
    „Und deshalb sehe ich einen Zusammenhang mit den Taliban: Nicht, daß die OrganisatorInnen des Camps fundamentalistische Unterdrücker wären, sondern daß sie ihre Vorschriften naturrechtlich begründen und damit eine endlose und unfruchtbare Diskussion in Gang setzen.“

    Der Vergleich mit der Taliban scheint mir ein rein philosophischer (Naturrecht) und ich weiss nicht, ob er begründet ist, vielleicht hab ich ihn noch nicht vollständig erfasst. Aber was die praktische Durchsetzung angeht könnte das Camp von den Taliban kaum verschiedener sein. Letztere haben vielleicht „Windeln auf dem Kopf“, aber Weichheit kann man dort wohl eher nicht feststellen. 😉

    Und die endlosen Diskussionen sind gewollt. Und sie werden nicht als unfruchtbar angesehen. Das ist der Hauptunterschied zwischen dir und den Organisatoren. Ich versuche eine Mittelstellung einzunehmen und seh mir beide Positionen an. Ich sehe die Probleme der Verkrampfung, die überpräsente Thematisierung zu Folge haben kann. Aber die Sorglosigkeit, mit der damals die unverkrampfte Nacktheit gelebt worden sei, da ja alle eh schon die bürgerlichen Normen abgeworfen zu haben glaubten, scheint mir auch nicht zwingend der Königsweg. Weil vieles eben nicht thematisiert wurde und unbewusst fortwirkte. Vielleicht waren der Bierbauch oder die Hängebrüste tatsächlich egal. Schönheitsideale wirken aber ja fort. Und vielleicht eher bekämpft bzw. nicht Normschöne empowert, wenn sie thematisiert werden.

    futuretwin

    21. August 2015 at 10:04

  8. Auf einer ganz anderen Ebene finde ich es erschreckend, dass die ursprüngliche Perspektive der sexuellen Befreiung, die für die radikale Linke mal völlig zentral war, aufgegeben wurde zugunsten einer Zentralperspektive der Gehemmten, Verklemmten, Traumatisierten (nicht, dass ich unsolidarisch mit Letzteren wäre, so ist das nicht gemeint), die Sex fast nur noch als Problem, nicht als lustvolle Praxis sieht (vgl,. Maria Wiedens epochalen Text „Wieder den linken Moralismus von Sexualität“ in Ästhetik und Kommunikation irgendwann um 1992). Öffentliche Fickorgien in öffentlichen Parks, das wäre für mich wünschenswerte linke Praxis.

    che2001

    22. August 2015 at 23:20

    • Che, ich antworte erst jetzt darauf, weil mir eine Parallele aufgefallen ist, zu meiner Lektüre in der letzten Zeit (Lacan-Umfeld).

      Aber vielleicht der Reihe nach. „Zentralperspektive der Gehemmten, Verklemmten, Traumatisierten“, ja ist ein bisschen die Tendenz, seh ich auch problematisch.

      „Fickorgien im Park“ Da dachte ich zuerst, „Du hast keine Kinder, ne?“ aber der Einwand kam mir dann selbst ein bisschen spießig vor. Trotzdem fände ich die konkrete Praxis (u.a.) aus diesem Grunde wahrscheinlich nicht so prall. Vor allem aber erscheint sie mir erschreckend naiv.

      Polemik-Modus an.
      Was soll das denn bringen? Hatten wir das nicht schon mal, freie Liebe und so? Hat aber gar nicht zur Revolution geführt, doof. Ich habe so ein wenig das Gefühl, dass du dir selbst mehr Sex wünschst und das in der linken Szene vergeblich suchst. Sowas wie tinder zu nutzen widerstrebt dir, weil es einer kapitalistischen, neoliberalen Logik gehorcht. Du strebst jedoch Sex außerhalb dieser Logik an. Das ist schwierig geworden. Jetzt hat der Kapitalismus auch den unverbindlichen Sex erobert, so ne Scheiße!
      Polemik-Modus aus.

      Ich verfolge gerade einen Strang des Feminismus, der sich weniger an Queer und Gender orientiert, sondern an Luce Irigaray. Hier wird den Gender Theoretikern vorgeworfen, dass sich die multiplen Identitäten wunderbar in den Neoliberalismus einfügen lassen. Das ist die oben erwähnte Parallele. Du teilst mit den von dir kritisierten Privilegiencheckern die Annahme, dass es gilt, gegen gesellschaftliche Normen anzugehen. Die Genderaktivisten eher mit Butler, die performative Verschiebungen als Mittel der Wahl ansieht, Normen zu erschüttern. Du anscheinend eher mit Wilhelm Reich oder Marcuse.

      Und in meinen Recherchen in Sachen Lacan bin ich eben auf den Lacanschen „Diskurs der Universität“ gestoßen, nachdem mittlerweile das Über-Ich nicht mehr die ödipale Struktur hat sondern von einem Expertenwissen (Stichwort: Biopolitik) bestimmt wird mit einem Imperativ des Genießens als andere Seite der Medaille. Mit Zizek würde ich daher sagen, der „Feind“ ist heute nicht mehr unbedingt die autoritäre Instanz, die dir verbietet, im Park zu vögeln.

      futuretwin

      3. September 2015 at 15:14

  9. Gehemmt, verklemmt, traumatisiert ist doch jeder. Funny turn.
    Fantasiereiches, sexuelles Verlangen hab ich genug, aber das Bedürfnis nach viel unverbindlichen Sex oder Gruppensex ist mir fremd.

    lacommune

    30. September 2015 at 23:07

  10. Naja, was heißt Bedürfnis? Die Vorstellung find ich schon ganz antörnend, befürchte aber, dass es eher nur in der Fantasie funktioniert. Das muss ja getrennt werden. Das gilt zB auch für das Verhältnis BDSM – Rape Culture.

    futuretwin

    1. Oktober 2015 at 12:16

  11. Und was Traumata angeht: klar hat da jeder sein Päckchen. Muss auch wieder getrennt werden von richtig krassen beeinträchtigenden Traumata. Aber ich find es naiv, sich einzubilden, das überwunden zu haben.

    futuretwin

    1. Oktober 2015 at 12:29

  12. Die Trennung von traumatisierten Menschlein und gesunden Menschlein ist einfach irre. Wenn ich das nicht mache, kehre ich Härtefälle nicht zwangsläufig unter die Decke.
    Wie krank alle sind, sieht man jeden Tag.

    Ich sag mal so, viel Sex habe ich gerne, aber ich sehe nicht die Utopie in einer Gesellschaft, mit ständig unverbindlichen Sex. Die könnte übrigens ebenso lustfeindlich sein.

    Vielleicht interessiert dich das – https://soundcloud.com/roter-salon/warum-sich-gesellschaftliche

    lacommune

    1. Oktober 2015 at 16:37

    • Mit Video- und Audiobeiträgen ist schwierig bei mir. Ich mach das hier meistens auf der Arbeit und da gehts noch nicht mal technisch, abgesehen davon, dass es strategisch nicht geschickt wäre.
      Zuhause bin ich dann oft nicht mehr so aktiv, was damit zusammen hängt, dass ich halbzeitalleinerziehender Vater mit Pendeljob und Fernbeziehung bin. 😉

      Ich glaube bei den Traumata sind wir grundsätzlich beieinander. Wobei, eine Sache hab ich mal dazu gelesen, die war ganz spannend: Da hat mal jemand ganz vorsichtig den Begriff der Triggerwarnung kritisiert. Für ihn sei ein Trigger etwas, dass ihn u U für Tage aus dem Spiel nimmt, richtig krasser Rückfall und so. Insofern ist es vielleicht nicht so ganz vergleichbar. Aber was bei so Diskussionen raus kommt ist ja schlimmstenfalls opression olympics. 😉

      Unverbindlicher Sex. Mhm. Ich finde es grundsätzlich nicht verkehrt, wenn Sex und Liebe entkoppelt werden. Ich kann auch RZB-Kritik durchaus Positives abgewinnen. Is halt schwierig. Ich hab sowohl das Scheitern einer Langzeitbeziehung mit Kind erlebt, als auch das Scheitern von unverbindlichen Arrangements.

      futuretwin

      2. Oktober 2015 at 8:07

  13. Hm Entkoppelung von Liebe und Sex ist nicht gleich dem Klischee von freier Liebe, unverbindlichen Sex? Interessante Frage, wie viel von der „heutigen Liebe“ übrig bleibt, wenn die Verfügungsgewalt über den Körper des Partners verschwindet und in wie weit das heute in eine Rationalisierungs- und Selbstoptimierungslogik eingebunden ist.

    lacommune

    4. Oktober 2015 at 17:34

  14. Erstmal nochmal vielen Dank für den Link!

    Tove Soiland ist genau die Autorin, die ich meinte. Geht manchmal ein bisschen in Richtung Hauptwiederspruch, aber ich finde sie sehr spannend und versuche mich gerade durch die 480 Seiten von „Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz – Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten“ zu fräsen. 😉

    Zu unverbindlichen Sex: Zunächstmal funktioniert er für mich. Allerdings nicht unbedingt lange. Eine rein sexuelle Affäre dauert imho nie lange, weil entweder ein Partner irgendwann mehr will oder wo anders einfach mehr bekommt und deshalb die Affäre auslaufen lässt.

    Prinzipell finde ich es denkbar, dass mit vernünftigen Kommunikationsregeln Sex ausserhalb der Beziehung diese durchaus befruchten kann oder zumindest nicht immer grundsätzlich beeinträchtigen muss.

    Das ist aber etwas, was alles weniger mit linken Zusammenhängen zu tun hat, bzw. ausserhalb dieser stattfindet und auch 1A zu Lebensläufen passt, wie sie der Neoliberalismus hervorbringt. Ein revolutionäres Potential wohnt solchen Entgrenzungen nicht inne. Und es ist naiv, dass von ihnen zu erwarten.

    Mit „freier Liebe“ verbinde ich eher sowas wo 68er mit Ideen von Marcuse und Reich die theoretische Grundlagen fürs Hippietum beisteuerten. Am Besten mit so Ansagen wie „Niemand darf einem anderen Menschen den Sex verwehren“.

    Insofern ist unverbindlicher Sex für mich kein linkes Projekt. Das kann es höchstens da werden, wo das klassische Beziehungsmodell komplett in Frage gestellt wird, weil, bei Licht betrachtet, doch einigermaßen überfrachtet. Vielleicht gibts die sexuelle Erfüllung, den besten Freund, scharfzüngigsten Diskussionsgegenpart und fetzigste Partysau nicht immer so in einer Person und da können ja durchaus mal polyamouröse Entwürfe durchgespielt werden. Solange es nur darum geht möglichst viel zu vögeln, braucht es da heute keine linke Debatte mehr, dafür gibts Tinder.

    futuretwin

    5. Oktober 2015 at 10:55

  15. What the fucking hell is Tinder? Kenne nur Timber („I´m a Lumberjack and I´m OK“) 😉

    che2001

    9. Oktober 2015 at 11:26

  16. Nochmal was zu Traumata und vor allem meinen eigenen Überlegungen sehr ähnelnd. Bei mir ist nur mehr Marx und seit Neuerem mehr Lacan und weniger Trauma drin:

    https://andreaskemper.wordpress.com/sozialphilosophie/
    https://andreaskemper2.wordpress.com/article/virtualitat-8bgikaqot3ts-119/

    futuretwin

    9. Oktober 2015 at 11:40

  17. @“Polemik-Modus an.
    Was soll das denn bringen? Hatten wir das nicht schon mal, freie Liebe und so? Hat aber gar nicht zur Revolution geführt, doof. Ich habe so ein wenig das Gefühl, dass du dir selbst mehr Sex wünschst und das in der linken Szene vergeblich suchst. Sowas wie tinder zu nutzen widerstrebt dir, weil es einer kapitalistischen, neoliberalen Logik gehorcht. Du strebst jedoch Sex außerhalb dieser Logik an. Das ist schwierig geworden. Jetzt hat der Kapitalismus auch den unverbindlichen Sex erobert, so ne Scheiße!
    Polemik-Modus aus.“ ——- Ich suche den nicht in der linken Szene vergeblich sondern erinnere mich daran, dass relativ leicht zu habender, schneller und guter Sex mal in der linken Szene sozusagen Standardprogramm war, bis das allmählich in no way at all umkippte und Diskussionen über Sexualität in der linken Szene nur noch stattfanden wenn es um sexualisierte Gewalt ging. Gut, und ansonsten bin ich mit 45 + jemand, der noch immer mit dem Lebensgefühl eines Partytwens durch das Leben läuft, oder vielleicht hat die Midlifecrisis bei mir auch schon mit 28 angefangen;-)

    Tinder würde ich allein deswegen ablehnen weil intime Daten von mir in öffentlichen Netzen nichts zu suchen haben. Ich hatte es einige Jahre mit Portalen wie Parship und dergleichen versucht, mit unterschiedlichem Erfolg. Es ist höchstens 10 Jahre her, da galt es noch als hochgradig peinlich, wenn jemand zugab, im Internet auf Kontaktsuche zu sein. Das war so etwas wie am Quasimodo-look-alike-Contest teilzunehmen.

    Und in den frühen 70ern gab es als besondere Attraktion Matching-Computer, die in der Fußgängerzone standen (so groß wie ein VW Bulli) und Partnerparameter für Laufkundschaft ausrechneten, meine Schwester hatte damals einen „Computerfreund“, wie das genannt wurde.

    che2001

    13. Oktober 2015 at 16:39

    • Ja, wie das so ist mit der Coolness, vor 20 Jahren waren Handys ja auch noch peinlich. 😉

      Aber vielleicht ist das so ein isschen gegenläufig: Mittlerweile ist der schnelle Sex halt massiv in der bürgerlichen Welt angekommen, wenn du die ganzen Portalwerbungen siehst. Und in der Szene dafür marginalisiert. Wobei das vermutlich zu einfach ist. Aber wenn ich oben schrieb, dass der Feind nicht der ist, der Orgien untersagt, ist das natürlich auch zu einseitig.
      Ich bezog mich auf eine Aussage von Zizek.
      Der sagte mal in der Kritik an Butler, dass festgeschriebene (sexuelle) Identitäten mittlerweile weniger gängig sind, wobei das so auch nicht ganz stimmt. Es gibt halt sowohl die klassischen Konservativen, die ihre hergebrachten Identitäten von der „Schwulenehe“ etwa bedroht sehen und Familienwerte hochhalten Andererseits fordert der Turbokapitalismus massiv Flexibilität ein, wobei das Familienmodell eher störend ist und wo wechselnde Partnerschaften, wechselnde Identitäten etc. ideal rein passe. Vielleicht ist in dieser komplizierten Gemengelage auch die Konfliklinie um das „sich neu erfinden“ zu suchen, die es ja hier in diesem Blog bzw. auf deinem auch mal gab.

      futuretwin

      13. Oktober 2015 at 18:52

  18. Ja, wobei sicher auch die Tatsache eine Rolle spielt, die Netbitch betont das ja zu Recht, dass die ganze poststruktivistische Gesellschaftskritik, insbesondere die von Foucault, in den 1960ern bis frühen 80ern formuliert wurde und sich auf die damaligen Verhältnisse bezieht, spätere Diskurse von Butler bis MäMa die aber mit den Ist-Voraussetzungen von damals auf spätere bzw. heutige Verhältnisse anwenden.

    che2001

    14. Oktober 2015 at 10:58

  19. Das ist die Frage, inwieweit die Voraussetzungen 1990, als „Das Unbehagen in den Geschlechtern“ geschrieben wurde schon sooo anders waren. Mittlerweile sind sie es. Aber die MäMa und die ganze deutsche Gender-Theorie beruht ja auch z.T. auf einem eingeschränkten Verständnis, wenn mensch Soiland folgt.
    Das Dilemma ist halt, dass Butler dem Differenzfeminismus was entgegen gesetzt hat, was ja auch netbitch positiv anmerkt. Soiland geht ein Stück weit zum Differenzfeminismus zurück, wenngleich immer noch poststrukturalistisch. Die Gefahr ist halt queere Kämpfe dabei aus dem Blick zu verlieren. Und die Chance ist, den Klassenwiderspruch (wieder) mit dem Femminismus zu verkoppeln.

    futuretwin

    22. Oktober 2015 at 19:56

    • „eingeschränktem Verständnis von Butler“ muss es heißen

      futuretwin

      22. Oktober 2015 at 19:57

  20. Mit zeitlichem Abstand von einem Jahr stelle ich mal fest, was für eine klasse Diskussion das war, gerade wenn ich mir anschaue was im Augenblick so durch Kleinbloggersdorf rauscht.

    che2001

    16. November 2016 at 17:16


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