shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Archive for Januar 2013

Ästhetische Theorie (3)

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„Entscheidend war das Scheitern der deutschen Revolution, das meine Freunde und ich eigentlich schon 1921, wenn nicht sogar noch früher, mit der Ermordung von Karl und Rosa erlebt haben.“

Herbert Marcuse im Gespräch mit Jürgen Habermas, 1977

Nachdem der letztwöchige Beitrag einiges an (schriftlichen und mündlichen) Kommentaren nach sich zog, ändere ich jetzt den ursprünglichen Plan, um einige Erläuterungen zu letzter Woche nachzuschicken. Eigentlich wollte ich mit dem erwähnten Text nur die Auseinandersetzungen vorbereiten, die um 1968 herum unter der Parole einer „engagierten“ oder „politischen“ Kunst geführt wurden. In diesen Auseinandersetzungen wurden Positionen eingenommen, die eigentlich schon deutlich älter waren und bis in die ästhetischen Auseinandersetzungen aus der ersten Jahrhunderthälfte zurückreichten. Doch bevor ich auf diese Tradition eingehe, zunächst ein paar grundsätzliche Bemerkungen.

Es ist mir bewußt, daß dieses Blog teilweise daran krankt, daß es ein work in progress ist, von dem ich selbst nicht unbedingt weiß, wo es hinführen wird. Meiner Untersuchung dessen, was die antiautoritären Bewegungen der 60er und 70er Jahre waren, liegen einige Hypothesen zugrunde, die ich im empirischen Material wiederfinden zu hoffe. Und während ich das Material für die Texte hier sichte, ändern sich natürlich auch die Ausgangshypothesen selbst wieder. Das ist leider unvermeidbar, denn ein Blog ist nun einmal kein vollständig durchgearbeitete Werk. Vermeidbar ist allerdings, daß diese Hypothesenbildung und -umbildung nur in meinem Kopf stattfindet, und nicht explizit in den Texten, in denen ich bestenfalls einige Andeutungen fallen lasse. Das macht die Lektüre manchmal nicht unbedingt verständlich. Ich will deshalb zumindest eine der Hypothesen, die sich für mich beim Schreiben herausgebildet und verdichtet haben, explizit machen.

Ich glaube, daß die Bewegungen, als sie Ende der 50er Jahre entstanden, nach Modellen suchten, wie sie ihren Protest in mehr oder minder stringenter Weise artikulieren konnten. Zu diesem Zweck griffen sie auf Theorien zurück, die im wesentlichen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entstanden. Mit anderen Worten: Die Nachkriegsgeneration holte sich wesentliche Inspirationen von der Zwischenkriegsgeneration. Und so wurden Theoretiker wie Henri Lefebvre oder Herbert Marcuse in doch recht fortgeschrittenem Alter auf einmal in politische Bewegungen verwickelt, deren unklarem Suchen nach Perspektiven sie wenigstens zeitweise Richtung und Ziel weisen konnten.

Dabei muß man sich allerdings darüber im klaren sein (und die Bewegungen waren sich das damals nicht), daß die Bedingungen, unter denen die Theorien entstanden, die sie nun aufzugreifen versuchten, ziemlich andere waren als die, unter denen sie ihren eigenen Aufstand probten. Das führte zu einer Verzerrung dieser aufgegriffenen Theorien, die teilweise bis in die Absurdität führten, gerade weil die historische Fundierung der Theorieversatzstücke, die in den 60er Jahren aufgegriffen wurden, schlicht ignoriert wurde.

Insofern bin ich letzte Woche zu kurz gesprungen: Um die Debatten über die „Politisierung“ der Kunst zu verstehen, wie sie ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre geführt wurden, muß man nicht nur verstehen, auf welche Debatten in den 20er und 30er Jahren diese zurückgriffen. Das habe ich letzte Woche versucht darzustellen. Wichtig ist allerdings auch, in welchem Kontext diese Debatten zwischen den beiden Weltkriege standen. Nur so, denke ich, läßt sich verstehen, warum die Wiederaufnahme dieser Debatten in den 60er und 70er Jahren äußerst skurrile Blüten treiben konnte.

Ich will deshalb in dieser Folge noch einmal in die Zwischenkriegszeit zurückkehren, um die Situation zu skizzieren, in der die unterschiedlichen Versuche, die Rolle der Kunst für die Revolution zu bestimmen, aufkamen.

Für die Zwischenkriegsgeneration war eine Erfahrung ganz entscheidend: Der Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts in den Materialschlachten des 1. Weltkriegs. Und für eine Minderheit dieser Generation kam noch eine zweite wesentliche Erfahrung hinzu. Diejenigen, die der Ansicht waren, daß das Grauen des imperialistischen Weltkriegs die siegreiche sozialistische Revolution nach sich ziehen müßte, wurden bitter enttäuscht. Warum, zur Hölle, blieb die Revolution in Rußland isoliert? Warum wurden nicht überall die morschen Trümmer der Vergangenheit weggeräumt und auf einer derartigen tabula rasa eine grundlegend neue Ordnung errichtet? Irgendetwas an den Marxschen Prognosen mußte grundlegend falsch oder zumindest unzureichend gewesen sein.

Offensichtlich dachte die Arbeiterklasse nicht im mindesten daran, in den Zentren der kapitalistischen Entwicklung die ihr prognostizierte Aufgabe wahrzunehmen. Doch warum? Die einfachste, von Lenin 1916 vorgetragene Erklärung war: Bestechung. Imperialistische Extraprofite dienten dazu, eine Arbeiteraristokratie mit guten Löhnen an das bestehende System zu binden. Das war natürlich eine äußerst grobschlächtige These, doch zumindest eines erkannte Lenin richtig, als er meinte, diese Arbeiteraristokratie sei

„in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert.“ ([3], S. 198)

Zur gleichen Zeit als die Arbeiterklasse, der angebliche Garant der revolutionären Umwälzung, verspießerte und sich einem bürgerlichen Lebensstil anzunähern versuchte, vollzog sich gerade in der bürgerlichen Kultur ein grundlegender Wandel. Während die politische Revolution ausblieb, fand sie in Kunst und Kultur statt: Abstrakte Malerei, atonale Musik, DADA – das frühe 20. Jahrhundert war ein künstlerisches Experimentiertfeld, wie es das in der Geschichte der Kunst vorher nie gegeben hatte. Offenbar war der „Überbau“ der „Basis“ einige Schritte voraus. Die Kunst wandte sich gegen die Klasse, die sie hervorgebracht hatte. Insofern ist es kein Wunder, daß die radikalen Intellektuellen einiges an Hoffnung in die Kunst setzten, um das spießige Kulturideal der Arbeiterklasse aufzubrechen und sie auf den rechten revolutionären Pfad zurückzuführen.

Zeitgleich mit diesen Veränderungen in der „Hochkultur“ vollzog sich unaufhaltsam die Entstehung einer populären, ihrer Tendenz nach die Klassengrenzen überschreitenden Massenkultur. Mit Kino, Schallplatte und Radio standen zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig neue Technologien zur Verfügung, um kulturelle Inhalte an ein Massenpublikum zu vermitteln. Daß diese neuen Technologien und die damit entstehende Massenkultur einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung dessen, was traditionell als Kunst galt, ausüben würde, war unstrittig. Schon die Entstehung der Photographie im 19. Jahrhundert hatte im Gegenzug weitreichende Veränderungen in der Malerei nach sich gezogen.

Zwischen der Massenkultur auf der einen Seite und avantgardistischen künstlerischen Innovationen auf der anderen Seite entstand ein Spannungsfeld, in dem sich die ästhetische Theorie grundsätzlich neu positionieren mußte. Von beiden Polen dieses Spannungsfeldes läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß sie die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren, entscheidend verändert haben. Auch wenn das heute zu einer Leerfloskel verkommen ist, mit der sich belanglose Kunst zu legitimieren versucht: Damals rüttelte die künstlerische Avantgarde tatsächlich an unseren Wahrnehmungsgewohnheiten. Und auf der anderen Seite erlaubte es die Massenkultur, völlig neuartige Methoden zu entwickeln, mit denen die Massen aufgeklärt oder aber auch manipuliert werden konnten. Wenn die Situation für die Revolution also reif war, es aber an revolutionärem Bewußtsein mangelte, dann war es kein Wunder, daß Kunst und Kultur auch politisch zu heiß umkämpften Feldern wurden.

Dabei wurden, selbst innerhalb der radikalen Linken, die unterschiedlichsten Positionen eingenommen. Waren die neuen Massenmedien effektive Propagandainstrumente, um das verkümmerte Klassenbewußtsein der Arbeitermassen neu zu beleben? Oder handelte es sich dabei, um „Aufklärung als Massenbetrug“, wie später das Kapitel über Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung ([2]) im Untertitel behaupteten sollte? Und was war mit der künstlerischen Avantgarde – war das nur ein Ausdruck bürgerlicher Dekadenz, wie die Stalinisten höhnten? Oder war gerade sie es, die durch ihre Schockwirkungen die einzige Chance auf die Durchbrechung des kapitalistischen Verblendungszusammenhangs bot?

Fragen über Fragen. Nächste Woche werde ich versuchen, diese Polarisierungen anhand von Walter Benjamins Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit etwas zu präzisieren. Freuen Sie sich also darauf, daß Benjamin meint:

„Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Standard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrensweisen eroberte.“ ([1], S. 475)

Nachweise

[1] Benjamin, W.: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung)“, in: Benjamin, W., Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1980, S. 471 – 508.

[2] Horkheimer, M. & Adorno, T. W.: „Dialektik der Aufklärung“, in: Horkheimer, M., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt 1985ff, S. 11 – 290.

[3] Lenin, W. I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: Lenin, W. I., Werke Bd. 22, Berlin 1955ff, S. 189 – 309.

Written by alterbolschewik

25. Januar 2013 at 15:35

Veröffentlicht in Ästhetik

Ästhetische Theorie (2)

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„Form ist die wie immer auch antagonistische und durchbrochene Stimmigkeit der Artefakte, durch die ein jedes, das gelang, vom bloß Seienden sich scheidet.“

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie

Die Moskauer „Säuberungen“ in den 30er Jahren, bei denen mit Terror und Schauprozessen die Diktatur Stalins zementiert wurde, dienten nicht nur dazu, die ganze alte Garde der Bolschewiki zu liquidieren. Parallel dazu wurde auch eine Ästhetik verdammt, die sich nicht unmittelbar in den verordneten Optimismus des angeblichen sozialistischen Aufbaus einfügte. Unter dem Etikett des „Formalismus“ wurden künstlerische Verfahrensweisen diskreditiert, die seit der Jahrhundertwende versuchten, der affirmativen Kultur des 19. Jahrhunderts etwas entgegenzusetzen.

Die Kampagne gegen den „Formalismus“ in der sowjetischen Kultur begann am 28. Januar 1936, als der Komponist Dimitri Schostakowitsch wegen seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk in der Prawda angegriffen wurde:

„Diese absichtlich »verdrehte« Musik ist so beschaffen, daß in ihr nichts mehr an die klassische Opernmusik erinnert und sie mit symphonischen Klängen, mit der einfachen, allgemeinverständlichen Sprache der Musik nichts mehr gemein hat. Das ist eine Musik, die nach dem gleichen Prinzip der Negierung der Oper aufgebaut ist, nach dem die »linke« Kunst überhaupt im Theater die Einfachheit, den Realismus, die Verständlichkeit der Gestalt, den natürlichen Klang des Wortes negiert. […] Der Komponist hat sich offensichtlich nicht die Aufgabe gestellt, dem Gehör zu schenken, was die sowjetischen Opernbesucher von der Musik erwarten und in ihr suchen. Als hätte er bewußt seine Musik chiffriert, alle Töne in ihr so durcheinandergebracht, daß sie nur für Ästheten und Formalisten, die ihren gesunden Geschmack verloren haben, genießbar bleibt. Er ignoriert die Forderung der sowjetischen Kultur, Grobheit und Primitivität aus allen Bereichen des sowjetischen Lebens zu verbannen.“ ([1], S.61)

Totalitäre Systeme haben ein ganz grundsätzliches Problem damit, wenn sie sich mit Kunst konfrontiert sehen, die nicht von vornherein den Erwartungshaltungen des Publikums entspricht. Was die Nazis als „entartet“ brandmarkten, bekam in der Sowjetunion das Label „kleinbürgerlich-formalistisch“ aufgeprägt. Gemeint war in beiden Fällen das selbe: Was sich nicht in den ausgetretenen Bahnen bekannter künstlerischer Verfahrensweisen bewegt, nicht den Erbauungs- oder Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums entgegenkommt, muß in der totalitären Logik als gemeinschaftsschädlich ausgemerzt werden.

Für kritische Marxisten war die ästhetische Barbarei, die im Namen eines sozialistischen Realismus gegen den Formalismus avantgardistischer Kunst hetzte, natürlich ein Graus. Schon bei Henri Lefebvre konnte man sehen, daß der Bruch mit der kommunistischen Partei sich an seiner Schrift über Ästhetik entzündete. Auch die Theoretiker des Instituts für Sozialforschung versuchten, eine marxistische Ästhetik zu entwickeln, die der Doktrin des sozialistischen Realismus diametral entgegegengesetzt war. Bei Adorno etwa ist gerade die Schwerverständlichkeit moderner Kunst ein Zeichen dafür, daß sie sich den totalitären Anforderungen entzieht. Sie bleibt individualistisch, folgt mit uneinsichtiger Hartnäckigkeit ihrer eigenen Logik und läßt sich von nichts und niemandem in ihren Dienst nehmen. Damit widersteht sie nicht nur den Imperativen totalitärer Systeme, sondern auch dem Totalitarismus der Kulturindustrie.

Marcuse geht in eine ähnliche Richtung, unterscheidet sich dann aber doch, wie in der Einschätzung der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, in wesentlichen Nuancen von Adorno. Gemeinsam ist ihnen beiden, daß sie, in Auseinandersetzung mit dem Formalismus-Vorwurf einer sich marxistisch dünkenden Ästhetik, gerade die Form als zentrale ästhetische Kategorie begreifen. Für Adorno ist

„Form die objektive Organisation eines jeglichen innerhalb eines Kunstwerks Erscheinenden zum stimmig Beredten. Sie ist die gewaltlose Synthesis des Zerstreuten, die es doch bewahrt als das, was es ist, in seiner Divergenz und seinen Widersprüchen, und darum tatsächlich eine Entfaltung der Wahrheit.“ ([2], S. 216)

Die Form ist das, was das Kunstwerk überhaupt zum Kunstwerk macht, auch für Marcuse, der bereits 1945 schreibt:

„Die oppositionelle, die negierende Kraft der Kunst wird in der Form erscheinen, im künstlerischen Apriori, das den Inhalt gestaltet.“ ([4], S. 52)

Und er präzisiert:

„Die künstlerische Form, im Sinne des künstlerischen Apriori, ist mehr als die »technische« Ausführung und Ordnung des Kunstwerks: Sie ist der »Stil«, der den Inhalt auswählt und im Werk vorherrscht, indem er den zentralen Punkt angibt, der die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen, das Vokabular, den Rhythmus und die Struktur jedes Satzes bestimmt.“ ([4], S. 52)

Das ist natürlich das genaue Gegenteil einer Ästhetik, die dem Kunstwerk nur dann zugesteht, „progressiv“ zu sein, wenn es inhaltlich um den heroischen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus oder ähnlichen Nonsens geht. Für die marxistischen Kritiker des Stalinismus wurde deshalb die Frage nach der Form des Kunstwerks, die von der Marxorthodoxie als nebensächlich abgetan wurde, zum Dreh- und Angelpunkt ihrer ästhetischen Überlegungen, ihr Gegenentwurf zum „Formalismus“-Vorwurf der Orthodoxie.

Für Marcuse ist es die Verfremdung des Inhalts durch die künstlerische Form, die dem Kunstwerk seine politisch-progressive Kraft verleiht. Er versucht dies in seinem Aufsatz von 1945 anhand der Literatur der französischen Résistance zu verdeutlichen. Ziel politischer Dichtung im Kampf gegen den Faschismus kann es, Marcuse zufolge, nicht sein, die politische-militärischen Auseinandersetzung als Heldenepos zu gestalten. Es geht darum, das in eine künstlerische Form zu bringen, weswegen dieser Kampf überhaupt geführt wird: Das Glück der Individuen. Und die Unmöglichkeit, dieses Glücksversprechen, die »promesse de bonheur«, unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen zu verwirklichen.

Hinterhältigerweise wählt Marcuse ausgerechnet den Roman eines überzeugten Kommunisten, um dies zu verdeutlichen: Aurélien von Louis Aragon. Der Roman aus dem Jahr 1944, geschrieben während sein Autor in der Résistence aktiv war, ist eine Liebesgeschichte, in der Politik praktisch keine Rolle spielt. Erst im Epilog des Romans, der achtzehn Jahre nach dem Scheitern der Liebe zwischen Aurélien und Bérénice spielt, bricht, mit der deutschen Besatzung, die Politik in die Handlung ein:

„Bérénice ist für die Linke aktiv geworden […]. Ist sie mit Aurélien allein, steht die Politik zwischen ihnen. Sie sprechen nicht mehr die gleiche Sprache, oder die Sprache der Politik bringt die Sprache ihrer toten Liebe, die sie noch zu sprechen versuchen, zum Schweigen. […] Ihre Liebe, die zuvor zerstört worden ist, stirbt in der Politik. Nicht von außen her: Sie ist tot, als Bérénice die Sprache der Politik spricht, die Aurélien nicht versteht. Offensichtlich kann nichts der »promesse de bonheur« fremder, feindlicher sein als diese Sprache und die Tätigkeit, die sie bedeutet.“ ([4], S. 61f)

Allerdings sieht Marcuse, daß diese Art und Weise, den Widerspruch zwischen politischer Notwendigkeit und Glücksversprechen zu gestalten, durchaus problematisch ist:

„Kunst kann wohl versuchen, ihre politische Funktion durch Negierung ihres politischen Inhalts zu bewahren, aber sie kann nicht das versöhnende Element, das in dieser Negation enthalten ist, auslöschen.“ ([4], S. 63)

Mit anderen Worten: Sie läuft Gefahr, durch ihr Kunst-Sein selbst affirmativ zu werden. Indem sie ein Reich jenseits der politischen Wirklichkeit hervorbringt, läßt sie diese außerkünstlerische Wirklichkeit unangetastet:

„Indem das Kunstwerk dem Inhalt eine künstlerische Form gibt, isoliert es diesen Inhalt von der negativen Totalität, die die historische Welt ist, unterbricht den schrecklichen Strom, erzeugt künstlichen Raum und künstliche Zeit. Im Medium der künstlerischen Form werden Dinge zu ihrem eigenen Leben befreit – ohne in Wirklichkeit befreit zu werden. Kunst erzeugt ihre eigene Verdinglichung.“ ([4], S. 64)

Doch gerade darin, so Marcuse dann in einer gewagten dialektischen Volte, kann aber auch die Macht der Kunst liegen:

„Die Unvereinbarkeit der künstlerischen Form mit der wirklichen Form des Lebens kann als Hebel verwendet werden, um auf die Wirklichkeit das Licht zu werfen, das jene nicht absorbieren kann, das Licht, das eventuell diese Wirklichkeit auflösen kann (obwohl solche Auflösung nicht mehr die Aufgabe der Kunst ist).“ ([4], S. 65)

Wenn Kunst also eine politische Funktion hat, dann nicht dadurch, daß sie sich selbst in das Getümmel der politischen Auseinandersetzungen wirft, sondern indem sie durch Distanz dazu die Erinnerung bewahrt, worum es in diesen Auseinandersetzungen letztendlich gehen sollte.

Diese Abgrenzung der Marcuseschen Ästhetik von der Doktrin des Sozialistischen Realismus sollte dann in den 60er Jahren, als sich auch die Kunst im sogenannten „freien Westen“ auf brachiale Weise politisierte, zu Konflikten zwischen Marcuse und Teilen der antiautoritären Bewegungen führen. Freuen Sie sich also nächste Woche darauf, wenn Marcuse schreibt:

„Kunst bleibt der revolutionären Praxis fremd kraft der Verpflichtung des Künstlers zur Form: Form als die eigene Realität der Kunst, als »die Sache selbst«.“ ([3], S. 274)

Nachweise

[1] [Iwan Martynow]: „Chaos statt Musik“, in: Feuchner, B., »Und Kunst geknebelt von der groben Macht« – Dimitri Schostakowitsch, Frankfurt a. M. 1936, S. 60 -62.

[2] Adorno, T. W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1974.

[3] Marcuse, H.: „Versuch über die Befreiung“, in: Marcuse, H., Gesammelte Schriften Bd. 8, Springe 2004, S. 237 – 317.

[4] Marcuse, H.: „Kunst und Politik im totalitären Zeitalter“, in: Marcuse, H., Nachgelassene Schriften Bd. 2, Springe 1999ff, S. 47 – 69.

Written by alterbolschewik

18. Januar 2013 at 15:49

Veröffentlicht in Herbert Marcuse

Ästhetische Theorie (1)

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„Das revolutionäre Kunstwerk wird zugleich das esoterischste, das am meisten antikollektivistische sein, weil das Ziel der Revolution das freie Individuum ist.“

Herbert Marcuse, Kunst und Politik im totalitären Zeitalter, 1945

Marcuse als Ästhetiker? Diese Facette ist in der Rezeption seines Werkes merkwürdig unterbelichtet geblieben. Ähnlich wie die kompromißlose Verteidigung der Privatheit paßten seine Vorstellungen davon, was ein wirkliches Kunstwerk ausmache, überhaupt nicht in die Vorstellungswelt der antiautoritären Bewegungen. Und weil sie nicht ins Konzept paßten, wurden sie ausgeblendet, bis hin zu der Sottise von Slavoj Žižek, Marcuse habe insgeheim die Studentenbewegung verachtet, nur weil er Rockmusik verabscheute ([7]). Wir werden sehen, daß Marcuse dafür gute Gründe anzugeben wußte – auch wenn man diese nicht unbedingt akzeptieren muß.

Konträr zum gängigen Bild Marcuses bildeten ästhetische Fragestellungen eine Konstante in seinem Denken. Das beginnt bereits mit der Dissertation. Promoviert wurde er keineswegs, wie man vielleicht vermuten könnte, im Fach Philosophie. Philosophie und Nationalökonomie waren nur seine Nebenfächer, sein Hauptfach war hingegen Germanistik. Und das Thema seiner Dissertation von 1922 war Der Deutsche Künstlerroman ([4]). Am Anfang seiner Karriere stand also die Auseinandersetzung mit einem ästhetischen Thema.

Auch wenn dann in den 30er Jahren hauptsächlich die Frage nach einer marxistischen Ontologie oder Anthropologie dominierte, wurden Kunst und Kultur keineswegs völlig vernachlässigt. Unter den Arbeiten, die er als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung für dessen Zeitschrift verfaßte, ragt die Arbeit Über den affirmativen Charakter der Kultur von 1937 hervor ([3]). Dieser Artikel gehört – zusammen mit Adornos ein Jahr später erschienenem Aufsatz über den Fetischcharakter in der Musik ([1]) – zum Besten, was die frühe kritische Theorie an kunstkritischen Schriften hervorbrachte.

Selbst während der schwierigen Zeit in den 40er Jahren, als Marcuse für das US-amerikanische State Department arbeitete, ließen ihn ästhetische Fragen nicht los. Der erst nach seinem Tod aus dem Nachlaß publizierte Aufsatz Kunst und Politik im totalitären Zeitalter ([5]), der 1945 entstand, dokumentiert das ungebrochene Interesse an ästhetischen Fragestellungen. Als dann in den 60er Jahren aus der Dynamik der antiautoritären Bewegungen heraus neue künstlerische Strategien entwickelt wurden, die sich selbst als „revolutionär“ verstanden, entpuppte sich Marcuse – sehr zur Verblüffung vieler selbsternannter „Revolutionäre“ – als ein vehementer Kritiker jeglicher Art von „engagierter“ Kunst. Seine letzte Schrift aus dem Jahr 1977 – Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik ([6]) – kann als Summe dieser Auseinandersetzungen gelesen werden. Mit ihr schließt sich ein Kreis ästhetischer Fragestellungen, der 55 Jahre zuvor mit der Dissertation über den Deutschen Künstlerroman begonnen hatte.

Es lohnt sich deshalb, nicht nur auf die Diskussionen der 60er und 70er Jahre einzugehen, sondern etwas weiter auszuholen, um Marcuses Kunst- und Kulturkritik auf einen soliden Boden zu stellen. Beginnen wir deshalb mit dem Aufsatz aus dem Jahr 1937, seiner Kritik am affirmativen Charakter der Kultur.

In diesem Aufsatz findet sich die später auch von Adorno vertretene These, daß die bürgerliche Kunst des 19. Jahrhunderts, alle ihre Errungenschaften, von den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt würden:

„Die totale Mobilmachung der monopolkapitalistischen Epoche ist mit jenen um die Idee der Persönlichkeit zentrierten, fortschrittlichen Momenten der Kultur nicht mehr zu vereinen. Die Selbstaufhebung der affirmativen Kultur beginnt.“ ([3], S. 219)

Allerdings springt Marcuse selbst deutlich kritischer mit der Kultur des Bürgertums um als etwa Adorno. Nicht umsonst spricht er, wenn er von der bürgerlichen Kultur redet, zugleich von deren affirmativen Charakter. Zwar leugnet er keineswegs deren utopisches Potential:

„Es ist ein Stück irdischer Seligkeit in den Werken der großen bürgerlichen Kunst, auch wenn sie den Himmel malen.“ ([3], S. 215)

Dennoch ist ihr „affirmativer“ Charakter unabweisbar. Sie versöhnt mit dem schlechten Alltag unter Verweis auf „höhere“ Werte, die in einem Reich jenseits und unberührt von diesem Alltag angesiedelt sind:

„Die klassische bürgerliche Kunst hat ihre Idealgestalten so weit von dem alltäglichen Geschehen entfernt, daß die in diesem Alltag leidenden und hoffenden Menschen sich nur durch den Sprung in eine total andere Welt wiederfinden können. So hat die Kunst den Glauben genährt, daß die ganze bisherige Geschichte zu dem kommenden Dasein nur die dunkle und tragische Vorgeschichte ist.“ ([3], S. 196)

In grotesker Verkennung der eigenen geschichtlichen Situation versteht sich diese affirmative Kultur als der Höhepunkt der menschlichen Entwicklung. In Kritik an dieser Auffassung verweist Marcuse (anders als Adorno) auf eine frühere gesellschaftliche Epoche, in der diese Trennung von Kunst und Alltag so nicht gegeben war, nämlich die Antike:

„Die Welt des Schönen jenseits des Notwendigen war für die Antike wesentlich eine Welt des Glücks, des Genusses. Die antike Theorie hatte noch nicht bezweifelt, daß es den Menschen auf dieser Welt zuletzt um ihre irdische Befriedigung, um ihr Glück geht.“ ([3], S 193)

Diese der antiken Kultur wesentliche hedonistische Befriedigung, die Marcuse an der affirmativen bürgerlichen Kultur vermißt, war jedoch teuer erkauft. Die Welt des Schönen war nur die Welt einer kleinen Gruppe Privilegierter, deren Welt auf einem barbarischen Fundament ruhte: Die notwendige Arbeit wurde den Sklaven zugewiesen, die von der Welt der Schönheit völlig ausgeschlossen waren. Erst die bürgerliche Epoche schuf die Voraussetzungen, die eine Verallgemeinerung des hedonistischen Glücks, das in der Antike den wenigen vorbehalten blieb, ermöglichen könnte.

Ein Grund dafür liegt in der bürgerlichen Idee der Gleichheit. Mag diese auch noch so sehr von der Gleichheit der Marktteilnehmer abstrahiert sein, so ist sie doch ein progressiver Bestandteil der bürgerlichen Ideologie. Es ist diese formale Gleichheit der Marktteilnehmer, aus der der Anspruch abgeleitet wurde, daß jedes Individuum einen Anspruch darauf habe, sein persönliches Glück zu verfolgen. Da das der tatsächlichen Situation der Mehrheit der Bevölkerung aber keineswegs entsprach, mußte das Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft vom Alltagsleben abgekoppelt und in die Schönheit der Kunst abgeschoben werden. Hier sollte sich, unberührt von äußeren Umständen, das Glück der Schönheit verwirklichen:

„Die Schönheit der Kultur ist vor allem eine innere Schönheit und kann auch dem Äußeren nur von innen her zukommen. Ihr Reich ist wesentlich ein Reich der Seele.“ ([3], S. 200)

Es ist der innere Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft selbst, der hier zum Ausdruck kommt. Auf der einen Seite haben wir die formale Gleichheit der Individuen auf dem Markt und vor dem Gesetz; auf der anderen die bitteren gesellschaftlichen Unterschiede, die Viele von der Möglichkeit ausschließen, das in der formalen Gleichheit wurzelnde Glücksversprechen tatsächlich einzulösen. Der Begriff der „Seele“ ist der ideologische Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen.

„Mit der Seele protestiert die affirmative Kultur gegen die Verdinglichung, um ihr dann doch zu verfallen. […] Die Freiheit der Seele wurde dazu benutzt, um Elend, Martyrium und Knechtschaft des Leibes zu entschuldigen. Sie diente der ideologischen Auslieferung des Daseins an die Ökonomie des Kapitalismus.“ ([3], S. 204f)

Dennoch oder gerade deswegen hält die affirmative Kultur trotz allem die Idee des freien Individuums, wenn auch in ideologisch verbogener Form, aufrecht. Im zwanzigsten Jahrhundert jedoch droht die Gefahr, daß die Kunst auch noch diese minimale kritische Einspruchsfähigkeit verliert. Was ist von künstlerischen Strategien des 20. Jahrhunderts zu halten, die dieser Tendenz mit einer Politisierung der Kunst begegnen wollen?

Freuen Sie sich auf nächste Woche, wenn Herbert Marcuse meint:

„Duchamps Urinoir bleibt auch im Museum ein Urinoir; seine Funktion ist lediglich außer Kraft gesetzt; es bleibt, was es ist: ein Pißbecken. Umgekehrt ist ein Gemälde von Cézanne auch auf dem Klosett ein Gemälde von Cézanne.“ ([2], S. 127)

Nachweise

[1] Adorno, T. W., „Über den Fetischcharakter in der Musik“, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg.7 (1938 [Reprint München 1980]), Nr.3, S.321 – 356.

[2] Marcuse, H.: „Zur Kritik an der Politisierung der Kunst. Briefe an die Gruppe der »Chicago Surrealists«“, in: Marcuse, H., Nachgelassene Schriften Bd. 2, Springe 1999ff, S. 109 – 128.

[3] Marcuse, H.: „Über den affirmativen Character der Kultur“, in: Marcuse, H., Gesammelte Schriften Bd. 3, Springe 2004, S. 186 – 226.

[4] Marcuse, H.: „Der Deutsche Künstlerroman“, in: Marcuse, H., Gesammelte Schriften Bd. 1, Springe 2004, S. 7 – 344.

[5] Marcuse, H.: „Kunst und Politik im totalitären Zeitalter“, in: Marcuse, H., Nachgelassene Schriften Bd. 2, Springe 1999ff, S. 47 – 69.

[6] Marcuse, H.: „Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik“, in: Marcuse, H., Gesammelte Schriften Bd. 9, Springe 2004, S. 191 – 241.

[7] Rasmussen, E. D. & Žižek, S.: „Liberation Hurts: An Interview with Slavoj Žižek“, URL: http://www.electronicbookreview.com/thread/endconstruction/desublimation, abgerufen am 14. Dezember 2012.

Written by alterbolschewik

11. Januar 2013 at 15:27

Veröffentlicht in Herbert Marcuse

Kritik des Leistungsprinzips

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„Nirgends zeigt sich Eros mehr als der Todfeind des Bestehenden als in dem unzerstörbaren Wunsch nach der Ewigkeit der Lust: der Kampf um die freie Zeit ist in der Tat der Kampf ums Ganze.“

Herbert Marcuse, Jenseits des Realitätsprinzips

Zu Beginn des neuen Jahres will ich noch einmal auf Marcuses Thesen, die er in Eros and Civilization entwickelt hat, zurückkommen. Auch wenn ich mich diesem Buch schon einmal kurz gewidmet habe: Eine Auseinandersetzung mit den wesentlichen Kategorien dieses Werkes scheint mir, nicht nur für das Verständnis von Marcuse, sondern für das Verständnis der antiautoritären Bewegungen allgemein, von zentraler Bedeutung zu sein.

Beginnen wir mit der Kategorie des Fortschritts. Ähnlich wie bei Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung war bei Marcuse der Fortschritt eine äußerst ambivalente Kategorie. Einig waren sich die kritischen Theoretiker darin, daß der Fortschritt der Produktivkräfte, der doch die zunehmende Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erst erlauben sollte, zugleich mit einem Anwachsen von Herrschaft erkauft wird – eine zeitgemäße Interpretation der Marx/Engelschen Formulierung von der Geschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen.

In der Marxschen Theorie wird der Fortschritt der Produktivkräfte dadurch in Gang gesetzt, daß die herrschenden Klassen ein Mehrprodukt aus den Beherrschten herauspressen. Wie das geschieht, unterscheidet die ökonomischen Gesellschaftsformationen. Ist es einmal unmittelbarer Zwang, wie etwa in antiken Sklavenhaltergesellschaften, so sind es in der Neuzeit die Gesetze des Marktes, die die Kapitaleigentümer gegenüber den abhängig Beschäftigten privilegieren. Wenn man aber, so die optimistische These von Marx, der kapitalistischen Produktionsweise ihre spezifisch kapitalistische Hülle abstreifen würde, dann würde der materielle Fortschritt in den Dienst der Allgemeinheit gestellt werden können.

Die kritischen Theoretiker erkannten, daß es so einfach nicht sein konnte, daß dem Fortschritt, den die gesellschaftliche Arbeit unter dem Zwang der Klassenverhältnisse gemacht hat, diese Verschwisterung mit der Herrschaft nicht äußerlich ist. Fortschritt und Herrschaft bilden eine dialektische Einheit, bei der die Marxsche Metaphorik von Hülle und Kern nicht wirklich greift. Der Fortschritt selbst, nicht nur seine Monopolisierung durch herrschende Klassen, wurde ihnen zum Gegenstand der Kritik. Sowohl bei Horkheimer/Adorno wie bei Marcuse geht es um eine Dekonstruktion des nicht nur von bürgerlichen Apologeten vertretenen, sondern auch in der Arbeiterbewegung weit verbreiteten Fortschrittsglaubens. Unterschiede gab es jedoch in der Herangehensweise. Horkheimer und Adorno entfalten ihre Kritik spekulativ, indem sie von der bestimmten Form der Rationalität ausgehen, die dem rein technischen Fortschritt zu Grunde liege. Es ist – ganz verkürzt – das bereits in dieser Rationalität liegende Herrschaftsverhältnis gegenüber der Natur selbst, das sich auch in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen niederschlägt.

Bei Marcuse hingegen spielt dieses Vernunftverhältnis zur äußeren Natur, die Rationalität naturwissenschaftlicher Kategorienbildung, keine entscheidende Rolle. Er bezieht sich eher auf das ältere, Marxsche Konzept des notwendigen äußeren Zwangs, das er allerdings mit den kulturkritischen Spekulationen des späten Freud kombiniert. Mit Freud geht Marcuse davon aus, daß es zwei zentrale Triebe gibt, die das menschliche Verhalten steuern: Den erotischen Trieb und den Todestrieb. Der erotische Trieb – der Marcuse zufolge nicht mit dem Sexualtrieb verwechselt werden darf – zielt vor allem auf unmittelbare Lustgewinnung. Der Todestrieb – oder besser: Nirvanatrieb – strebt hingegen einen spannungslosen Zustand an, wie ihn das Kind ursprünglich im Mutterleib erlebt hatte. Diese beiden Triebe, darin ist sich Marcuse mit Freud einig, sind dem Fortschritt grundsätzlich feindlich gesonnen, denn dieser zielt eben nicht auf Triebbefriedigung, sondern fordert Triebaufschub.

Von Freud wird die Genese dieses Triebaufschubes in einen Mythos verpackt, den von der Brüderhorde, die den tyrannischen Vater erschlägt. Dies sei der historisch/mythische Punkt, von dem aus die Internalisierung der Macht, ihr Einwandern in die Psyche der Menschen, ihren Weg genommen habe:

„Sie haßten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch. Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mußten sich die dabei überwältigten zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. Es geschah in der Form der Reue, es entstand ein Schuldbewußtsein, welches hier mit der gemeinsam empfundenen Reue zusammenfällt. Der Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war.“ ([1], S. 197)

Die Macht, die zum Triebverzicht zwingt, ist nicht mehr nur eine äußere – der tyrannische Vater –, sondern eine innere, die sich in Form von Tabuvorschriften manifestiert, die sich aus der Sühne für den Mord ergeben. Von nun an muß sich der zivilisatorische Fortschritt nicht mehr allein auf Gewalt stützen, sondern hat, in Form des Über-Ichs, einen mächtigen Verbündeten in der Psyche des Menschen selbst. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, daß sich ein sogenanntes Realitätsprinzip gegen das Lust- und das Nirvanaprinzip durchsetzen kann.

Doch die libidinöse Energie, die nun von Tabuvorschriften gehemmt wird, verschwindet nicht einfach. Sie muß anderweitig kanalisiert werden. Und eine Weise, wie die gehemmte Triebenergie in neue Bahnen gelenkt werden kann, ist die Arbeit. Die erotische Energie wird auf die genitale Sexualität im Dienste der Fortpflanzung eingeschränkt, der energetische Überschuß, der darin nicht aufgeht, soll hingegen in der Arbeit abgebaut werden. Erst diese Triebbändigung erlaut es, gesellschaftlichen Reichtum jenseits der unmittelbaren Bedürfnisse anzuhäufen. Einerseits wird der Drang zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung gehemmt, andererseits sorgt der Abfluß libidinöser Energien in die Arbeit dafür, daß die Produktivität steigt. Heute würde man das eine win-win-Situation nennen.

Im Laufe der menschlichen Entwicklung (Marcuse ist da nicht sehr präzise) entwickelt sich daraus das, was Marcuse das „Leistungsprinzip“ nennt. Dieses verinnerlichte Leistungsprinzip führt dazu,

„daß das Leben als Arbeit erlebt und gelebt, daß die Arbeit selbst Lebensinhalt wird. Arbeit wird als gesellschaftlich nützliche, notwendige, aber nicht unbedingt individuell befriedigende, individuell notwendige Arbeit begriffen. Das gesellschaftliche Bedürfnis und das individuelle Bedürfnis treten auseinander, und dies wahrscheinlich um so mehr, je mehr die Industriegesellschaft unter dem Fortschrittsprinzip sich entwickelt. Mit anderen Worten: die Arbeit, die zum eigentlichen Leben wird, ist entfremdete Arbeit. Sie wäre zu definieren als eine, die den Individuen ihre menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu erfüllen verweigert und die eine Befriedigung, wenn überhaupt, immer nur beiläufig oder nach der Arbeit gewährt.“ ([4], S. 427)

Wir haben hier eine Dialektik, die der von Horkheimer und Adorno beschriebenen ähnelt. Diese hatten in der Dialektik der Aufklärung zu zeigen versucht, wie technische Rationalität in ihr Gegenteil umschlägt, in barbarische Irrationalität: „die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ ([2], S. 25) Marcuse sieht eine ähnliche, aber doch davon deutlich unterschiedene Dialektik am Werk: Dasjenige, was überhaupt erst wirklich menschlichen, nicht nur animalischen Genuß ermöglicht, die Steigerung der Produktivität, zerstört durch die notwendige Triebunterdrückung die Fähigkeit, den ganzen geschaffenen Reichtum tatsächlich zu genießen. Es werden unermessliche Produktivkräfte angehäuft, aber in diesem Prozeß verlieren die Menschen das Vermögen, diesen Reichtum sinnvoll nutzen zu können. Leistung und Wachstum werden selbst zu Fetischen, statt daß sie bestenfalls als bloße Mittel erkannt werden.

Mit dieser Kritik am Leistungsprinzip rannte Marcuse, angesichts einer Gesellschaft des Überflusses, in den 60er Jahren bei der Nachkriegsgeneration offene Türen ein. Eine Gesellschaft, in der die Belohnung für sinnlose Leistung ein ebenso sinnloser Konsum sein sollte, erschien ihnen, die in der Zeit des Wirtschaftswunders aufgewachsen waren, selbst sinnlos. Beatniks, Gammler, Hippies, Provos: Das waren die ersten Symptome dafür, daß die Geltung des Leistungsprinzips nicht absolut sein konnte. Und so begann eine Suche nach Alternativen, die man aus heutiger Sicht belächeln mag. Vom Zen-Buddismus bis zur Landkommune wurden Lebensentwürfe entwickelt, die sich jenseits des Leistungsprinzips verorten wollten.

Davon ist nicht viel übrig geblieben – was möglicherweise ein Grund dafür ist, daß Marcuse in aktuellen politischen Diskussionen überhaupt keine Rolle mehr spielt. Im Gegenteil: Das Leistungsprinzip wird an Orten mit Zähnen und Klauen verteidigt, wo man solches nicht erwartet hätte. Ausgerechnet im Blog von Don Alphonso, der ja immer als personifizierte Verweigerung des Leistungsprinzip auftritt, wurde jüngst das hohe Lied der Leistung gesungen. Anlaß dafür war der Text einer Berliner Bloggerin, die in einem mild ironischen Blogbeitrag nach einer Festanstellung suchte (nachdem sie wohl die Möglichkeit, in der FAZ ein bezahltes Profiblog zu führen, grandios versemmelt hat). Ich kenne diese Bloggerin nicht, und was ich inzwischen über sie weiß, würde mich auch nicht dazu animieren, mit ihr ein Bier trinken zu wollen. Aber die Kübel an Gülle, die Don Alphonso und seine Kommentatoren über sie ausschütteten, sind – vorsichtig ausgedrückt – erstaunlich. Der Don selbst gab die Marschrichtung vor:

„Anstrengen gehört am Anfang mit dazu, und wer gut ist, hört nicht einfach auf – das ist etwas, das man sich in kreativen Berufen wirklich nicht leisten kann, nirgendwo.“

und die Hetzmeute in der Kommentarsektion folgte ihm, und zwar bis in Abgründe, die an Widerlichkeit kaum zu überbieten sind:

„Ich glaube sogar, die betreffende Dame würde hier in München fündig werden. In Unterföhring [Münchner Straßenstrich, AB] suchen sie doch genau solche Gestalten…“

Je weniger das Leistungsprinzip tatsächlich darüber entscheidet, ob jemand einen guten Job hat und sich die eine oder andere Annehmlichkeit leisten kann, die der Kapitalismus für treue Arbeitssklaven bereithält, umso mehr ist offensichtlich das Bedürfnis vorhanden, dieses Leistungsprinzip mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Diejenigen, die der Meinung sind, es „geschafft“ zu haben, versuchen sich mit solchen Angriffen einzureden, daß es ausschließlich ihre eigenen Leistungen gewesen seien, der sie ihre gesellschaftliche Position verdanken. Die eigene Krupperei wird als Talisman geschwenkt, der einen vor den Unwägbarkeiten kapitalistischer Ökonomie schützen soll. Auf mich wirkt das wie ein Abwehrzauber, der die Bestätigung dafür liefern soll, daß man, wenn man sich nur immer brav an die Spielregeln hält und die geforderte Leistung bringt, davor gefeit sei, sich irgendwann einmal auf Hartz IV-Niveau wiederzufinden. Und das ist mindestens so naiv wie die angefeindete Suche nach einer Festanstellung und würde den selben Spott verdienen.

Doch genug mit derart unangenehmen Zumutungen der Gegenwart. Nächste Woche gehen wir wieder zurück in die 60er Jahre und schauen uns die falsche Aufhebung des Leistungsprinzips, die repressive Entsublimierung an. Freuen Sie sich also darauf, wenn Marcuse schreibt:

„Die Revolution der Liebe, die gewaltlose Revolution, stellt keine ernsthafte Bedrohung dar; die herrschenden Mächte sind mit den Kräften der Liebe stets gut fertig geworden.“ ([3], S. 111)

Nachweise

[1] Freud, S., Totem und Tabu, Frankfurt a.M. 1991.

[2] Horkheimer, M. & Adorno, T. W.: „Dialektik der Aufklärung“, in: Horkheimer, M., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt 1985ff, S. 11 – 290.

[3] Marcuse, H.: „Konterrevolution und Revolte“, in: Marcuse, H., Gesammelte Schriften Bd. 9, Springe 2004, S. 7 – 128.

[4] Marcuse, H.: „Die Idee des Fortschritts im Lichte der Psychoanalyse“, in: Adorno, T. W. & Dirks, W. (Hg.), Freud in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1957, S. 425 – 441.

Written by alterbolschewik

4. Januar 2013 at 16:57