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Archive for Dezember 2014

Die Revolution des gemeinen Mannes

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Bewegungslehre (8)

„In Deutschland führten die Verhältnisse erst dann zu einer großen Empörung der Bauernschaft, als deren Lage sich erheblich verschlechtert hatte.“

Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus

Was bisher geschah: In einem unerwarteten Schwenk hat sich der Autor des Blogs entschieden, das Verhältnis von Bewegungen und Medien ausgerechnet an einer Bewegung zu studieren, von der er keine Ahnung hat: Dem sogenannten Bauernkrieg von 1525.

Der deutsche Bauernkrieg war weder das eine noch das andere noch das dritte: Er war nicht deutsch, die Aufständischen waren nicht (ausschließlich) Bauern und es handelte sich nicht um einen Krieg. Deutsch war er nicht, weil die Erhebungen des Jahres 1525 sich nicht nur innerhalb der Grenzen dessen, was wir heute Deutschland nennen, abspielten, sondern auch auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs, der Schweiz und in Österreich. Die Vereinnahmung des Bauernkrieges als eines „deutschen“ ist der Nationalgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts zu verdanken, entspricht aber nicht den realen örtlichen Gegebenheiten.

Auch die Etikettierung der Auseinandersetzungen als „Bauernkrieg“ entstammt dieser späteren Zeit:

„Die Verfestigung des Begriffs Bauernkrieg im geschichtlichen Bewußtsein der Deutschen muß man als historiographische Hervorbringung des 19. und 20. Jahrhunderts werten. […] Die Zeitgenossen, genaue Beobachter, die sie waren, haben […] einen anderen Begriff verwendet. Der Gemeine Mann tritt in den geschichtlichen Quellen an die Stelle des Bauern in der geschichtswissenschaftlichen Literatur.“ ([1], S. 41f)

Neben den Bauern sind es eben auch Bürger und Bergleute, ja sogar Adlige, die an den Aufständen des Jahres 1525 beteiligt waren. Von einer klassenmäßigen Homogenität kann also mitnichten die Rede sein. Und das ist, wenn es sich um eine echte Bewegung handelt, keineswegs untypisch: Bewegungen zeichnen sich – zumindest während ihres Aufstiegs – gerade dadurch aus, daß sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Anhängern bewußt ignorieren. Dies ist eine Erbschaft der Bewegung, die sie ihrem Ursprung aus der Masse verdankt:

Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit. daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm, auf Unterschiede kommt es dabei nicht an. Um dieser Gleichheit willen wird man zur Masse.“ ([2], S. 26)

Es sind also weder Deutsche, die da aufbegehren, noch sind es einfach Bauern. Und zum Krieg wurden die Insurrektionen des Jahres 1525 erst dadurch, daß die Herrschenden Armeen aufstellten, um die Aufständischen militärisch niederzuschlagen. Tatsächlich hat sich, zumindest in der Forschung, heute eher der Terminus der „Revolution des Gemeinen Mannes“ gegen die Rede vom „Deutschen Bauernkrieg“ durchgesetzt.

Wie entzündete sich nun diese Revolution des Gemeinen Mannes? Die vulgärmarxistische Begründung wäre die, daß es die Unterdrückung der Bauern war, die irgendwann einmal so schlimm wurde, daß der Aufstand dagegen unvermeidlich wurde. Doch eine solche vulgärmarxistische Begründung des Aufstandes ist mehr als nur verkürzt. Schon der junge Engels argumentierte 1850 wesentlich differenzierter.

Natürlich war die Unterdrückung der Bauern eine notwendige Bedingung des Aufstandes. Wo jemand mit der Art und Weise, wie die Gesellschaft eingerichtet ist, zufrieden ist, wird er nicht rebellieren. Insofern erklärte auch Engels in seiner Schrift Der Deutsche Bauernkrieg:

„Auf dem Bauer lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger. Ob er der Angehörige eines Fürsten, eines Reichsfreiherrn, eines Bischofs, eines Klosters, einer Stadt war, überall wurde er wie eine Sache, wie ein Lasttier behandelt, und schlimmer.“ ([3], S. 339)

Doch Engels war kein so lausiger Marxist, daß ihm die bloße Tatsache der Unterdrückung als Begründung für einen revolutionären Aufstand gereicht hätte. Damit man sich gemeinsam mit anderen zur Wehr setzt, reicht es nicht aus, sich in einer elenden gesellschaftlichen Lage zu befinden:

„Die Bauern, knirschend unter dem furchtbaren Druck, waren dennoch schwer zum Aufstand zu bringen. Ihre Zersplitterung erschwerte jede gemeinsame Übereinkunft im höchsten Grade.“ ([3], S. 340)

Das gemeinsame Klasseninteresse alleine führt nicht dazu, daß eine allgemeine Bewegung in Gang kommt. Das reicht vielleicht, um hier und da sporadische Protestaktionen hervorzurufen, doch für eine große, dezentrale Bewegung, wie es die Revolution des Gemeinen Mannes war, ist die Tatsache der klassenmäßigen Unterdrückung keine hinreichende Begründung. Engels bemerkt deswegen zurecht:

„Wir finden daher im Mittelalter Lokalinsurrektionen der Bauern in Menge, aber – wenigstens in Deutschland – vor dem Bauernkrieg keinen einzigen allgemeinen, nationalen Bauernaufstand.“ ([3], S. 340)

Die Bauern mußten also nicht einfach „objektiv“ unterdrückt sein, sondern sie brauchten ein gemeinsames Bewußtsein einer anderen, gerechteren Ordnung um die lokale Zersplitterung zu überwinden. Zudem kam noch ein anderes Problem hinzu. Es mußte nicht nur die Zersplitterung innerhalb der eigenen Klasse überwunden werden:

„Nur durch eine Allianz mit andern Ständen konnten sie eine Chance des Sieges bekommen; aber wie sollten sie sich mit andern Ständen verbinden, da sie von allen gleichmäßig ausgebeutet wurden?“ ([3], S. 340)

In der Tat eine mehr als berechtigte Frage. Und eine Vereinigung mit anderen gesellschaftlichen Klassen und Ständen zu ermöglichen, brauchte es mehr als nur das Pochen auf den eigenen, unmittelbaren Interessen. Was Not tat war ein alternativer Entwurf zur bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Und da sich die bestehende Ordnung weitgehend theologisch begründete, mußten auch die Gegenentwürfe der Aufständischen sich in diesem intellektuellen Kontext bewegen. Engels erklärte deshalb, nachdem er die theologische Durchdringung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens geschildet hatte:

„Es ist klar, daß hiermit alle allgemein ausgesprochenen Angriffe auf den Feudalismus, vor allem Angriffe auf die Kirche, alle revolutionären, gesellschaftlichen und politischen Doktrinen zugleich und vorwiegend theologische Ketzereien sein mußten.“ ([3], S. 344)

Der sogenannte „Überbau“ ist also keineswegs eine zu vernachlässigende Größe, wenn es darum geht, die Entstehung einer Massenbewegung zu verstehen. Die „ökonomische Basis“ macht keine Aufstände, es sind Menschen, die das tun. Und diese Menschen haben bestimmte Vorstellungen von der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Sie werden in diese Ordnung hineingeboren und empfinden diese erst einmal als „natürlich“. Selbst wenn sie auf einer der unteren Sprosse der gesellschaftlichen Leiter stehen, werden sie auch diese Position als mehr oder minder „natürlich“ empfinden. Das heißt nicht, daß sie mit dieser Position zufrieden sein müssen – man kann auch, wenn man die bestehende Ordnung prinzipiell akzeptiert, über „die da oben“ fluchen und sich wünschen, eine andere gesellschaftliche Stellung einzunehmen. Aber das hat nichts mit einer Infragestellung der bestehenden Ordnung zu tun. Eine Ordnung muß nicht als gerecht empfunden werden, um als Ordnung anerkannt und akzeptiert zu werden.

Deshalb ist es viel schwieriger, einen von einer Masse akzeptierten Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung zu entwerfen, als sich dies die marxistische Orthodoxie immer dachte. Und das schließt dann auch Engels mit ein. Bei Engels entspringen die theologischen Ketzereien, die die Grundlage für die Ideologie der Revolutionäre von 1525 bilden, dann doch ziemlich direkt ihrer Klassenlage. Sie sind zwar zeittypisch in ein theologisches Gewand gekleidet, doch im Prinzip drücken sich darin unmittelbar materielle Interessen aus. Diese soll man einfach dechiffrieren können, indem man sie ihres theologischen Gewandes entkleidet und ihren materiellen Kern herausschält.

Doch so einfach ist es nicht. Die Konstitution von Gegenentwürfen zur bestehenden Ordnung vollzieht sich anhand deutlich komplexerer Mechanismen, als sich dies Engels (und mit ihm fast der gesamte Marxismus) vorstellte.

Und deshalb begeben wir uns nächste Woche in äußerst trübes Gewässer, nämlich die Interpretation eines Nazi-Historikers, der aber eine ziemlich interessante Hypothese formulierte:

„Die Fürsten hatten das begreifliche Ziel, aus ihren zufällig zusammengeerbten und zusammeneroberten Gebieten einen einheitlichen Staat aufzubauen, in dem das gleiche Recht an allen Orten galt. […] Den Bauern aber war dies neue Recht nicht nur ein Fremdrecht, das in einer fremden Sprache geschrieben war, die sie nicht verstanden, es war für sie letzthin Nichtrecht, Unrecht. Wenn sie sich gegen das Römische Recht, gegen den modernen Territorialstaat erhoben, um ihr altes Recht und Herkommen zu verteidigen, um für ihre altüberkommene Selbstverwaltung zu kämpfen, dann fühlten sie sich nicht als Empörer, sondern als Kämpfer für das Recht. Revolutionär, Rechtsbrecher war der Staat, nicht sie.“ ([4], S. 2f)

Nachweise

[1] Blickle, P., Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes., München 2012 (4. Aufl.).

[2] Canetti, E., Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980.

[3] Engels, F.: „Der deutsche Bauernkrieg“, in: Marx, K. & Engels, F., Werke Bd. 7, Berlin 1956ff, S. 327 – 413.

[4] Franz, G., Der Deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 1962 (6. Aufl.).

Written by alterbolschewik

26. Dezember 2014 at 20:55

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Historisierung

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Bewegungslehre (7)

„Die affektiven Hauptformen der Masse […] treten sehr früh auf, ihre Geschichte ist so alt wie die der Menschheit selbst und zwei dieser Formen noch älter.“

Elias Canetti

Was bisher geschah: Im letzten Beitrag haben wir gesehen, daß es bei Bewegungen darum geht, sich einer bestimmten Vorstellung, wie die gesellschaftliche Ordnung sein solle, zu versichern. Und, wenn diese Ordnungsvorstellungen mit den Realitäten nicht übereinstimmen, zu versuchen, eine solche Übereinstimmung herzustellen.

In diesem Beitrag (und wohl auch den nächsten) wird es darum gehen, wie denn solche alternativen Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung entstehen, wie sie sich verbreiten und konsolidieren. Denn erst die Verbreitung alternativer gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen über das unmittelbare initiierende Ereignis hinaus führt dazu, daß weitreichende gesellschaftliche Veränderungen möglich sind – im Guten wie im Schlechten. Und wenn wir darüber reden, wie bestimmte Weltbilder in Umlauf gesetzt werden, dann müssen wir über die Kanäle reden, die zur Verbreitung von Ideen benutzt werden. Mit anderen Worten: Es geht um die Medien.

Damit machen wir einen gewaltigen Sprung in unserer Untersuchung. Die bisherigen Überlegungen bewegten sich in einer anthropologischen Sphäre, in der Geschichte wenig Platz hatte. Wenn ich vom Ereignis als Schock, der Masse als Selbstvergewisserung und so weiter geschrieben habe, dann fehlte dem immer die präzise historische Verortung. Wo ich Beispiele brachte – wie etwa die Spiegel-Affäre – dienten diese Beispiele der Illustration von Invarianten, nicht der Analyse von etwas völlig Neuem. Der manifeste Inhalt eines Massenphänomens mochte noch so historisch bestimmt sein, seine Form fand und findet sich in den unterschiedlichsten Massenphänomenen wieder. Insofern suggeriert meine bisherige Darstellung, daß die wesentlichen Bestimmungen, die Massen und Bewegungen auszeichnen, einer mehr oder minder konstant angenommenen Natur des Menschen entspringen. Schuld daran ist sicherlich der ständige Bezug auf Elias Canettis Masse und Macht.

Canetti betrachtet Massenphänomene weitgehend als anthropologische Konstanten – ob er deren Mechanismen an australischen Aborigines oder aber an einem modernen Konzertpublikum studiert, ist ihm völlig egal. Das ist auch der Grund, warum ich, als ich vor rund zwanzig Jahren zum ersten Mal Masse und Macht las, das Buch nicht wirklich ernst nahm. Als guter Marxist hielt ich die gesellschaftliche Überformung der menschlichen Natur für viel wesentlicher als irgendwelche angeblichen anthropologischen Konstanten.

Im Großen und Ganzen halte ich das auch heute immer noch für richtig. Die menschliche Natur zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß sie hochgradig flexibel ist und sich sowohl an sehr unterschiedliche Naturbedingungen wie auch an mannigfaltige gesellschaftliche Ordnungsstrukturen anpassen kann. Während immer dann, wenn von angeblichen anthropologischen Konstanten die Rede ist, dabei Blödsinn herauskommt wie der, daß Männer angeblich nicht zuhören und Frauen nicht einparken könnten. Kurz und gut: Das Wissen um die historische Variabilität der menschlichen Natur erzeugte in mir ein gesundes Mißtrauen gegenüber Canettis Thesen.

Doch der eigentliche Witz an Canettis Thesen, wie ich sie heute sehe, ist genau dies, daß in Massenphänomenen die gesellschaftliche Überformung der menschlichen Natur aufgebrochen wird. Am deutlichsten wird das zweifellos am Phänomen Massenpanik, wenn eine existierende Masse aus irgendeinem Grund rapide zerfällt. Vermutlich reagieren heute die Menschen beim Brand in einem Kino genau so wie ihre Ahnen vor Jahrzehntausenden bei einem Buschfeuer. Canetti verfolgt dieses Verhalten sogar zurück bis zu Tierhorden.

So wie ich Canetti inzwischen interpretiere heißt das aber nicht, daß er an die Stelle historisch-gesellschaftlicher Erklärungen für Massenphänomene einfach ahistorisch-anthropologische Erklärungen setzt. Aus meiner heutigen Sicht sind das nicht zwei Alternativen, die sich gegenseitig ausschließen. Es geht vielmehr darum, daß in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situationen die bestehende Ordnung aufbricht (in verkürzter Marxscher Terminologie: Die Entwicklung der Produktivkräfte führt dazu, daß der gesellschaftliche Überbau den entwickelteren Produktionsverhältnissen nicht mehr entspricht). Und dieser Zerfall der bestehenden Ordnung führt dazu, daß archaische Handlungsmuster wieder reaktiviert werden; allerdings zu einem ganz bestimmten Zweck, nämlich dem, wieder eine neue Ordnung herzustellen. Massenphänomene und die daraus resultierenden Bewegungen sind somit Rückfälle in archaische Verhaltensmuster, dabei aber auch gleichzeitig Versuche zur Herstellung einer neuen Ordnung. Oder noch einmal anders formuliert: Die neue Ordnung muß, um sich durchzusetzen, gerade diese Archaismen reaktivieren, die sie dann wieder verdrängen wird, wenn sie sich einmal etabliert hat.

Wenn man diese Doppelnatur begriffen hat, werden etwa Diskussionen wie die, ob der Nationalsozialismus ein archaischer Rückfall oder aber eine perverse Modernisierungsbewegung war, obsolet: Er war beides zur gleichen Zeit. Er war eine Bewegung, die eine gesellschaftliche Modernisierung durchzusetzen versuchte, indem er ein durch und durch archaisches Potential reaktivierte. Gerade deshalb sollte uns der Nationalsozialismus immer als Warnung dienen. In allen Bewegungen, egal ob man sie nun reaktionär oder progressiv nennt, ist ein solches archaisch-regressives Potential enthalten – da sollte man sich keine Illusionen machen.

Und weil Massenbewegungen immer ein solches Potential reaktivieren, gibt es die nachvollziehbare, aber dennoch falsche Meinung, daß sie grundsätzlich abzulehnen und dort, wo sie auftreten, zu bekämpfen seien. Doch diese Möglichkeit gibt es überhaupt nicht. In dem Maße, in dem sich die Gesellschaft fortentwickelt, werden gesellschaftliche Widersprüche auftreten, die gelöst werden müssen. Und es wird Institutionen geben, die nicht in der Lage sind, auf derartige Widersprüche zu reagieren. Deshalb ist es äußerst unwahrscheinlich, daß man der Problematik der Massenbewegungen irgendwie entkommen könnte.

Natürlich gab und gibt es Ansätze, dieses Problem zu lösen. Das parlamentarische Modell ist ein ziemlich weit entwickelter Versuch, um gesellschaftliche Widersprüche rechtzeitig zu entschärfen, bevor sich daraus Bewegungen entwickeln. Doch wenn man sich die noch nicht sehr alte Geschichte des Parlamentarismus anschaut, dann sieht man, daß das selbst einem so flexiblen System wie dem Parlamentarismus nur sehr unzureichend gelingt. Grundlegende notwendige Modernisierungen wurden selbst in parlamentarischen Demokratien in der Regel immer von Bewegungen durchgesetzt. Das heißt, selbst ein parlamentarisch moderierter Erneuerungsprozeß der Gesellschaft stößt immer wieder an seine Grenzen und provoziert außerparlamentarische Bewegungen, die einen gesellschaftlichen Wandel einfordern.

Die westlichen parlamentarischen Demokratien haben deswegen einigermaßen gelernt, wie man mit den unvermeidlich entstehenden Bewegungen umgehen muß, damit diese nicht zu einem grundsätzlichen Umsturz der Ordnung führen. Doch die Zeichen mehren sich, daß sich gerade innerhalb dieser parlamentarischen Demokratien Bewegungen herausbilden, deren parlamentarische Entschärfung schwierig werden dürfte. Ich meine damit natürlich die europafeindlichen, antiislamistischen und homophoben Bewegungen, die in ganz Europa Zulauf erhalten. Das Problem an diesen ist, daß sie die Vorstellung von einer neuen Ordnung bereits ziemlich komplett ausgebildet haben – auch wenn diese Vorstellung für Außenstehende komplett wahnwitzig erscheint.

Angesichts dieser Bewegungen stellt sich die Frage, wie sich denn solche Weltbilder entwickeln und ausbreiten, welche Kanäle es gibt und welche Rolle diese spielen. Und diese Frage läßt sich nun überhaupt nicht mehr ahistorisch-anthropologisch beantworten. In spezifischen historischen Situationen sind es ganz unterschiedliche Medien, die die Verbreitung von Gedanken bestimmen. Und deren Art und Weise der Verbreitung ist gegenüber dem Inhalt nicht neutral, sondern bestimmt diesen mit. Die Reformation wäre ohne den Buchdruck nicht möglich gewesen; die bürgerlichen Revolutionen ebenso wie die Arbeiterbewegung wurden ganz wesentlich durch die Zeitungen geprägt; Hitler brauchte den Volksempfänger, um an der Macht zu bleiben; die anti-autoritären Bewegungen wurden vom Fernsehen beeinflußt; und die Irren von Pegida scheinen den schlimmsten Befürchtungen von Internetkritikern recht zu geben.

Das heißt nicht, daß Medien Bewegungen machen. Aber die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Medien beeinflussen die Art und Weise, wie gesellschaftliche Widersprüche in alternative Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Ordnung gegossen werden. Und es hängt auch von den entsprechenden Medien ab, wie realitätsgerecht diese Weltbilder auf die gesellschaftlichen Widersprüche reagieren – oder auch nicht.

Ab nächste Woche sollen diese grundsätzlichen Überlegungen dann wieder am historischen Beispiel entwickelt werden. Und wir werden uns einer Bewegung zuwenden, die wohl als erste durch ein modernes Medium geprägt wurde: Dem deutschen Bauernkrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Freuen Sie sich also darauf, daß Friedrich Engels erklärt:

„Um dieselbe Zeit, wo im Schwarzwald die vierte Bundschuhverschwörung unterdrückt wurde, gab Luther in Wittenberg das Signal zu der Bewegung, die alle Stände mit in den Strudel reißen und das ganze Reich erschüttern sollte. Die Thesen des thüringer Augustiners zündeten wie ein Blitz in ein Pulverfaß.“ ([1], S. 372)

Nachweise

[1] Engels, F.: „Der deutsche Bauernkrieg“, in: Marx, K. & Engels, F., Werke Bd. 7, Berlin 1956ff, S. 327 – 413.

Written by alterbolschewik

19. Dezember 2014 at 16:10

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Von der Masse zur Bewegung

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Bewegungslehre (6)

„Es hat hier gegen ein vollkommen bekanntes deutsches Magazin eine offensichtlich generalstabsmäßig vorbereitete, polizeiliche große Nacht-und-Nebel-Operation stattgefunden, ohne daß dem deutschen Publikum je erklärt worden wäre, warum diese Art von Aktion in diesem Fall notwendig war“

Sebastian Haffner in Panorama, 4. November 1962

Was bisher geschah: Wir haben gesehen, daß es nicht ausreicht, daß ein Ereignis stattfindet, sondern daß es in der Regel auch sogenannte „Massenkristalle“ braucht, damit sich eine Masse bildet. Diese können einfach einzelne engagierte Personen sein, es sind in der Regel aber irgendwelche bestehenden Organisationen, die zum Kristallisationspunkt werden. Dabei muß Ziel und Zweck der Masse durchaus nicht mit den Intentionen der Organisationen übereinstimmen.

Heute soll es darum gehen, den Übergang von einer bloßen Masse zu einer Bewegung genauer zu untersuchen. Dabei geht es um Ordnungen; oder genauer: um die spezifische Wahrnehmung von Ordnungen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß wir die Welt im Normalfall als eine in sich mehr oder weniger stimmige, kohärente Ordnung erfahren. Darin gibt es gute Dinge und es gibt schlechte Dinge, Dinge, die einem passen und Dinge, die einem nicht passen. Aber alles hat seinen Platz, ist nachvollziehbar, kurz: Es ist eben geordnet. Wir leben immer im Bewußtsein einer solchen Ordnung – ohne eine solches Bewußtsein würden wir über kurz oder lang verrückt werden.

Das Ereignis nun, das zur Mobilisierung von Massen führt, hatte ich schon vor einiger Zeit als Störung der bestehenden Ordnung interpretiert. Als Beispiel hatte ich damals ein schockierendes Verbrechen genannt – ein solches Verbrechen mobilisiert Menschen, die am Ort des Geschehens Kerzen anzünden oder Plüschtiere ablegen. Und ich hatte dieses Verhalten so interpretiert, daß es den Mobilisierten nicht einfach nur um einen Ausdruck von Trauer angesichts einer Tragödie gehe, sondern auch darum, sich zu versichern, daß die Störung der Ordnung, als die das traumatische Ereignis empfunden wird, eine schreckliche Ausnahme ist. Man schließt sich zu einer Masse zusammen, um sich unter Gleichgesinnten zu bestätigen, daß die eigene Sicht auf die Welt und ihre Ordnung weiterhin in sich stimmig ist.

Mit anderen Worten: Massen dienen dazu, daß sich die Mobilisierten in ihrer Weltanschauung bestärkt sehen. Und je größer und eindrucksvoller die Massen sind, um so sicherer fühlt man sich in seiner Weltanschauung. Wie aber wird aus solchen Massen eine Bewegung? Anhand der Spiegel-Affäre läßt sich der Unterschied zu einfachen Massenereignissen gut darstellen.

Dazu müssen wir erst einmal die Ordnung genauer bestimmen, die durch das Ereignis massivst gestört wurde. Diese beruhte darauf, daß die Mehrheit der Bürger der Meinung war, die politischen Strukturen seien so eingerichtet, daß sich so etwas wie die Schrecken des Nationalsozialismus nie mehr wiederholen könnten. Am linken wie am rechten politischen Rand wurde das etwas anders gesehen, doch die gesellschaftliche Mehrheit ging von genau dieser Annahme aus.

Diese einheitliche Sicht der Dinge hatte aber eine Sollbruchstelle, die in der Spiegel-Affäre zum Vorschein kam. Denn es gab zwei sehr verschiedene Interpretationen dessen, was den Kern der bundesrepublikanischen Ordnung ausmache, nämlich eine konservativ-autoritäre und eine progressiv-liberale.

Die konservativ-autoritäre Position ging davon aus, daß der Nationalsozialismus nur aus einem Mangel an Respekt vor den traditionellen gesellschaftlichen und moralischen Werten an die Macht kommen konnte. Die vehement ausgetragenen politischen Kontroversen der Weimarer Republik und die kulturellen Angriff auf als heilig erachtete Werte und Hierarchien, das alles habe dem Umkippen der Republik in ein totalitäres Regime Vorschub geleistet. Und dementsprechend sah der konservativ-autoritäre Teil der gesellschaftlichen Mehrheit in politischer Zurückhaltung und dem Respekt traditioneller Werte und Hierarchien den Kern dessen, was die Ordnung der BRD ausmachen sollte.

Anders die progressiv-liberale Sichtweise: Diese sah die Gefahr des Totalitarismus gerade durch eine zu große politische Passivität und die unhinterfragte Akzeptanz überkommener Wertemuster drohen. Für diesen Teil der Gesellschaft war also der politische Meinungsstreit und die kritische Infragestellung von Autoritäten eine wesentliche Bedingung dafür, daß die zweite deutsche Republik als ein wirklich demokratisches Gemeinwesen gelingen konnte.

Es gab also sehr unterschiedliche Interpretationen dessen, was den eigentlichen Kern der bundesrepublikanischen Ordnung ausmache, doch diese unterschiedlichen Interpretationen stellten den Grundkonsens der Demokraten nicht nachhaltig in Frage. Man war sich durchaus der unterschiedlichen Ansichten zwischen CDU/CSU-Wählern auf der einen Seite und denen, die FDP oder SPD wählten, bewußt; oder der konfessionelle Spaltung zwischen denen mit katholischem und denen mit protestantischem Hintergrund; oder der sehr unterschiedlichen Erfahrungen der der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration. Aber das hatte alles seinen Platz innerhalb der einen Ordnungsvorstellung.

Das Ereignis aber, in diesem Fall die Spiegel-Affäre, ändert diese Situation schlagartig. Der von Regierungsseite ausgehende Übergriff auf die Spiegel-Redaktion erhellte die Szenerie wie ein Blitzlicht, das harte Schlagschatten warf. In der Spiegel-Affäre hatte die Regierung den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen auch ihre konservativ-autoritäre Position ihren Platz gehabt hatte, verlassen. Bislang hatten beide Seiten für sich reklamierten, daß es ihnen darum ginge, die Bundesrepublik vor der Gefahr des Totalitarismus zu schützen. Während die Regierung mit Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister auf „taktische“ Atomwaffen setzte, optierte die liberal-progressive Seite für eine demilitarisierte Bundesrepublik. Das war ein Streit, der innerhalb des herrschenden Konsenses ausgetragen werden konnte.

Das Ereignis aber zerstörte diesen Konsens – und zwar indem es deutlich machte, daß die Bundesregierung sich eigentlich außerhalb dieses Konsenses befand. Der eigentliche Witz dabei ist, daß die wesentliche symbolische Komponente des Ganzen, die zum Zeichen dieser Aufkündigung des Konsenses wurde, eigentlich etwas sehr Nebensächliches war. Es handelte sich dabei um die Tageszeit, in der die Bundesanwaltschaft die Spiegel-Büros in Hamburg besetzen und die Wohnungen der Verdächtigen durchsuchen ließ.

Eigentlich war die ganze Aktion gar nicht für den Abend geplant gewesen. Das Problem war nur, daß ein übereifriger Schlapphut einen Angestellten des Bonner Spiegel-Büros fälschlicherweise als Rudolf Augstein identifiziert hatte. Dieser falsche Augstein wurde verhaftet, mußte dann aber, nachdem die Verwechslung aufgeklärt war, natürlich wieder freigelassen werden. Aus Angst, der Freigelassene könnte den richtigen Augstein warnen, wurde dann die Aktion zu abendlicher Stunde in Gang gesetzt. Damit lieferte man den Medien eine Steilvorlage, die nun von einer „Nacht und Nebel“-Aktion berichten konnte, was ungute Assoziationen weckte:

„Das brachte, mehr als jede andere Eigentümlichkeit des bizarren Vorgehens, schauerliche Erinnerungen an Gestapo-Zeiten zurück.“ ([2], S. 102)

Schon in einer der ersten publizistischen Reaktionen auf die Aktion faßte Karl-Hermann Flach unter eben dem Titel Bei Nacht und Nebel die entsprechenden Befürchtungen in Worte:

„Wenn es also morgens in aller Frühe bei uns klingelt, können wir uns nicht weiterhin in dem beruhigenden Gefühl strecken, daß es nur der Milchmann oder der Junge mit den Brötchen sein kann; wenn um Mitternacht jemand an unsere Türe schlägt, wissen wir nicht mehr genau, daß es sich schlimmstenfalls um einen Telegrammboten oder einen betrunkenen Weggenossen handeln kann, der sich in der Türe geirrt hat. Wir müssen damit rechnen, daß es die politische Polizei ist, die bei Nacht und Nebel nach Landesverrätern sucht. Wenn wir hören, daß Kinder weinen, weil zu später Stunde ihre Zimmer nach Belastungsmaterial gegen ihre Eltern durchstöbert wurden […], dann dürfen wir nicht mehr sicher sein, daß es sich um eine Geschichte aus Moskau, Prag oder Leipzig oder aber aus dem Berlin des Jahres 1944 handelt.“ ([1], S. 423)

Es kann gut sein, daß es nie eine Spiegel-Affäre gegeben hätte, wenn die Beamten höflich am Montagmorgen um 9.00h geklopft hätten. Diese symbolische Katastrophe wurde durch eine zweite, nun nicht mehr so zufällige ergänzt. Es handelt sich dabei um die nach internationalem Recht illegale Verhaftung von Conrad Ahlers in Spanien, die auf direktes Betreiben von Franz Josef Strauß durchgeführt wurde. Hätte die Bundesanwaltschaft Ahlers mitgeteilt, er möge doch nach Deutschland zur Aufklärung des Sachverhaltes zurückkommen, dann wäre das unproblematisch gewesen. Man hätte im einen wie im anderen Fall das selbe Ergebnis erhalten – aber die Bundesregierung hätte sich nicht außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses gestellt. Indem das Ereignis aber als Anwendung von Gestapo-Methoden verstanden werden konnte, provozierte es eine tiefgreifenden Verstörung, eine fundamentale Beschädigung dessen, wie die etablierte Ordnung wahrgenommen wurde.

Was also die Demonstranten auf die Straße und die schockierten Bürger in die überall stattfindenden Diskussionsveranstaltungen trieb, war durchaus das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, der Wunsch nach Herstellung einer kohärenten Ordnung. Aber anders als im Beispiel des schockierenden Verbrechens, wird hier nicht mehr davon ausgegangen, daß die Verhältnisse vor dem Ereignis in bester Ordnung waren. Im Gegenteil, das Ereignis enthüllt denen, die darauf reagieren, daß die Ordnung schon vorher beschädigt war. Dabei handelt es sich um eine doppelte Bewegung: Nicht nur enthüllt sich die bestehende Ordnung als faktische Unordnung. In unserem Beispiel entpuppte sich die konservativ-autoritäre Interpretation der bundesrepublikanischen Verfassung als Angriff auf diese. Gleichzeitig setzte sich die progressiv-liberale Interpretation im Bewußtsein der Mehrheit als die alleinige Form durch, in der es wieder zu einer akzeptablen Ordnung kommen konnte. Es kommt aber noch ein weiteres hinzu: Die neue Ordnungsvorstellung wird als nicht-seiend gesetzt, obwohl die Massenmobilisierung genau diese Weltsicht als die richtige bestätigt. Im Beispiel heißt das, daß die Bundesregierung der progressiv-liberale Ordnungsvorstellung die Existenz entzogen hatte. Was aber zu dem Paradox führte, daß sie nicht mehr nur als eine mögliche Interpretation des Grundkonsenses dastand, sondern als die einzig richtige. Die aber keineswegs der Wirklichkeit entsprach.

Aus dieser Diskrepanz ergibt sich dann der Übergang von der bloßen Zusammenballung einer Masse hin zu einer Bewegung: Anders als bei einfachen Massenereignissen genügt hier die gegenseitige Versicherung, daß die eigene Weltsicht ein stimmiges Ganzes ergibt, nicht, denn es existiert eben dieser Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Aus dieser Differenz ergibt sich deshalb eine Aufgabe, nämlich die Aufgabe, die Realität so zu verändern, daß sie der zunächst kontra-faktischen Weltsicht der Masse nicht mehr widerspricht.

Dadurch kommt Dynamik ins Geschehen: Die Masse zerstreut sich nicht mehr einfach, nachdem sie sich ihrer eigenen Sicht der Dinge versichert hat, sondern es werden Verabredungen getroffen, wie es weitergehen soll. Vielleicht nicht von allen, aber doch von einigen. Im einfachsten Fall spricht man sich ab, wann man sich wieder trifft. Wenn es schon etwas weitergeht, bestimmt man ein Vorbereitungskomitee für dieses nächste Zusammentreffen. Oder man gibt bekannt, wo sich die besonders Engagierten auch außerhalb der öffentlichen Massenzusammenkünfte treffen können – hier spielen die Massenkristalle wieder eine wichtige Rolle, weil sie über eine gewisse Infrastruktur verfügen. Und so entsteht aus dem Versuch, eine neue, in sich stimmige Ordnung zu erzeugen, eine Bewegung. Das Ziel von Bewegungen ist es also, in einer Situation, in der das Ereignis einen fundamentaler Defekt der bestehenden Ordnung enthüllt, eine neue, wieder in sich stimmige Ordnung zu hervorzubringen.

Und da ich noch nicht weiß, wie es nächste Woche weitergeht, kann ich Ihnen, werte Leserin, werter Leser, leider nicht mit einem schönen Zitat auf den nächsten Beitrag einstimmen. Ich wünsche Ihnen dennoch eine angenehme Woche und verbleibe bis nächsten Freitag

Ihr Alter Bolschewik

Nachweise

[1] Flach, K.-H.: „Bei Nacht und Nebel (Frankfurter Rundschau, 29. Oktober 1962)“, in: Ellwein, T.; Liebel, M. & Negt, I., Die Spiegel-Affäre II – Die Reaktion der Öffentlichkeit, Olten 1966, S. 422 – 424.

[2] Kirchheimer, O. & Menges, C.: „A Free Press in a Democratic State?: The Spiegel Case“, in: Carter, G. M. & Westin, A. F. (Hg.), Politics in Europe, New York, Chicago, Burlingame 1965, S. 87 – 138.

Written by alterbolschewik

12. Dezember 2014 at 16:45

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Massenkristalle

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Bewegungslehre (5)

„Wer sich heute nicht setzt, kann morgen schon sitzen!“

Sitzstreikparole, Frankfurt 1962

Was bisher geschah: Am Abend des 26. Oktober 1962, einem Freitag, wurde in Hamburg die Spiegel-Redaktion von den Ermittlungsbehörden besetzt. Grund dieser „Nacht-und-Nebel“-Aktion: Verdacht auf Landesverrat. Am Samstagmittag stellte sich Rudolf Augstein der Polizei. Und schon am Sonntag fand die erste spontane Protestdemonstration in Stuttgart statt.

Ich hatte letzte Woche bereits darauf hingewiesen, daß die Demonstration in Stuttgart nicht von politisch völlig unerfahrenen und unorganisierten Leuten initiiert wurde. Vielmehr wurde die Demonstration ziemlich symbolträchtig aufgezogen. Die AktivistInnen vom Verband der Kriegsdienstgegner hatten sich die Münder mit Heftpflaster verschlossen, hielten Ausgaben des Spiegel in der Hand, bekannten sich mit handgeschriebenen Plakaten mit der Zeitschrift solidarisch. Außerdem hatten sie eine Presseerklärung geschrieben, die sie der Deutschen Presseagentur telefonisch durchgaben. Und sie standen direkt vor der Redaktion der Stuttgarter Nachrichten, so daß die lokale Presse den Protest nicht ignorieren konnte. Dabei hätten sie sich keine Sorgen machen müssen:

„Als die Reihe stand, brauchte ich gar nicht mehr ins Verlagsgebäude zu gehen. Ein Lokalreporter kam mit einer Sofortbildkamera, fragte wer wir seien und nahm meine Presseerklärung entgegen.“ ([3], S. 19)

Nach Beendigung der Aktion überlegten sich die Protestierenden, ob sie noch etwas trinken gehen sollten, entschieden sich dann aber dafür, sich vorher noch die Tagesschau anzusehen, ob es neue Entwicklungen in der Spiegel-Affäre gebe:

„Das war eine glückliche Entscheidung, denn es gab eine Überraschung. Der Reporter der Stuttgarter Nachrichten war fix gewesen. Unser Bild kam in der Tagesschau. Bürgerprotest zugunsten der Spiegel-Redakteure! Das erste Zeichen, dass der Mann auf der Straße sich von Adenauers Rede, dass hier »ein Abgrund von Landesverrat« klaffe, nicht einschüchtern ließ.
Auch der Ticker von dpa tat sein Werk. Wir hatten die Nachricht produziert, auf welche die Presse gewartet hatte. Die Stuttgarter Nachrichten – und sogar die Konkurrenz, die Stuttgarter Zeitung – berichteten am Montag über unsere Aktion, die eine mit Bild, die andere ohne. Mich freute, dass meine Presseerklärung vollständig zitiert wurde.“ ([3], S. 19)

Das macht deutlich, daß es noch einen weiteren wichtigen Akteur gibt, den wir bei unserem Versuch, die Natur von Protestbewegungen zu verstehen, mit in den Blick nehmen müssen: Die Medien. Doch dazu in einem späteren Beitrag mehr. Hier interessiert uns zunächst etwas anderes, nämlich die Natur der Spontaneität. Läßt sich, angesichts dieses professionellen Herangehens tatsächlich von spontanem Protest reden? Ist das nicht vielmehr genau die Art von organisierter Demonstration, die ich im vorletzten Beitrag etwas abfällig als „synthetische Bewegung“ bezeichnet hatte?

Keineswegs. Denn der Ursprung des Ganzen liegt im Ereignis – dem staatliche Angriff auf den Spiegel – zu finden, es war diese Aktion der Staatsmacht, die die Proteste auslöste. Die Demonstration entsprang keinen strategischen oder auch nur taktischen Planungszielen der Organisation. Die Verteidigung der Pressefreiheit war kein primäres Interesse des Verbandes der Kriegsdienstgegner (VK). Dessen Mitglieder reagierten nur sensibler und damit schneller als der Rest der Öffentlichkeit.

Im Gegensatz zum Großteil der Öffentlichkeit kannten sie den inkriminierten Artikel ziemlich genau, weil dieser tatsächlich in das Interessensgebiet ihrer Organisation fiel. Schließlich lag die Veröffentlichung bereits zwei Wochen zurück, doch den Kriegsdienstgegner war er ziemlich präsent, weil er ihre Kritik am Adenauerschen Militarismus und dessen potentiell katastrophalen Konsequenzen auch durch die gegnerische Seite beglaubigte:

„Dieser Bericht bestätigte quasi NATO-offiziell die schlimmsten Befürchtungen unserer Gruppe.“ ([3], S. 17)

Gegenstand des Protestes war aber nicht der Artikel selbst, sondern der offenkundige Versuch der Regierung, die kritische Berichterstattung zu einem der umstrittensten Politikfelder der Adenauer-Regierung zu unterdrücken. Es ging also um die Rolle der Presse in einer funktionierenden Demokratie, und das war nun gerade nicht ein zentraler programmatischer Bestandteil der VK. Konsequenterweise beschloß die Gruppe, ausdrücklich nicht als Stuttgarter Ortsgruppe der VK aufzutreten:

„Möglichst viele sollten sich mit unserem Protest identifizieren. War es da nicht besser, wenn wir uns heute nicht als Randgruppe der Gesellschaft zu erkennen gaben, also weder von Kriegsdienstverweigerung, noch von unserer Teilnahme an den Ostermärschen, noch gar von unserem Plan des Aufbaus einer Gewaltfreien Zivilarmee sprachen. »Wir tun so, als ob wir uns sonntagmorgens regelmäßig zu einer Art politischem Stammtisch treffen und uns nun spontan zu diesem Zeichen der Ermunterung für die inhaftierten Spiegel-Redakteure entschlossen haben.« Das sagte ich Günter am Telefon. Auch mit Artur Epp verständigte ich mich noch. Sie waren einverstanden: »Ja, um der Sache willen, ist heute Zurückhaltung geboten. Flagge zeigen, könnten wir ein andermal.«“ ([3], S. 18f)

Dieser Ablauf ist keineswegs untypisch. Am Anfang, bei der Initiierung einer Bewegung, sind es häufig Organisationen – oder besser: Menschen, die schon Organisationserfahrung haben – von denen die erste Aktivitäten ausgehen. Das heißt nicht, daß die Organisation die Bewegungen hervorbringen. Sie sind eher als Katalysatoren oder Kristallisationspunkte anzusehen, die den Prozeß zwar in Gang setzten, worauf dieser dann aber eine Eigendynamik gewinnt, die sich von den Initiatoren emanzipiert. Canetti spricht in diesem Zusammenhang von „Massenkristallen“ ([1], S. 79ff). Allerdings bleibt, da er nicht zwischen Massen und Bewegungen unterscheidet, seine Bestimmung dessen, was Massenkristalle überhaupt sind, seltsam unscharf. Dennoch hat er eine der wesentlichen Eigenschaften dieser Massenkristalle herausgearbeitet. Es ist die Eigenschaft, daß Massenkristalle deutlich langlebiger sind als Massen (und Bewegungen):

„Zwar bilden sich immer neue Formen aus, aber die alten in ihrem Eigensinn bleiben daneben bestehen. Sie mögen zeitweilig in den Hintergrund treten und an Schärfe und Unentbehrlichkeit verlieren. Die Massen, die zu ihnen gehörten, sind vielleicht abgestorben oder man hat sie ganz unterdrückt. Als harmlose Gruppen, ohne irgend etwas nach außen zu bewirken, leben die Kristalle dann für sich weiter. […] Der Augenblick, da sie gebraucht werden, kommt so sicher wieder, wie es neuartige Massen gibt, zu deren Erregung und Auslösung sie sich eignen mögen.“ ([1], S. 80f)

Gerade an der Spiegel-Affäre läßt sich sehr schön die Katalysatorfunktion der Massenkristalle aufzeigen, denn in unterschiedlichen Städten waren es sehr unterschiedliche Organisationen, die zu öffentlichem Protest aufriefen, die dann aber schnell weitere, bislang unorganisierte Menschen mobilisieren konnten:

„Insgesamt kam es in den ersten vier Wochen der Spiegel-Affäre zu mindestens 23 Demonstrationen in 17 Städten der Bundesrepublik, meist mit Sitz einer Universität oder Hochschule. Am häufigsten ging die Initiative von politischen Studentenverbänden, wie dem Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD), dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) oder gewerkschaftlichen Studentengruppen aus. Doch die Mehrzahl der Demonstranten bestand aus Studenten, die sonst nicht in politischen Studentenverbänden mitarbeiteten.“ ([4], S. 161)

Das heißt, es ist relativ egal, welche Organisation als Katalysator dient, es braucht nur einen Kristallisationspunkt, um den herum sich die Masse gruppieren kann. Im Extremfall kann das auch eine einzige Person sein. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich bereits einen Tag nach der Stuttgarter Aktion in Düsseldorf. Dort stellte sich eine Einzelperson, der 30-jährige Werbegraphiker Günter W., mit einem selbstgemalten Plakat auf die Königsallee. Im Polizeibericht hieß es dazu:

„Das Plakat ist wie folgt bemalt: »Warte, warte noch ein Weilchen, bald kommt Josef auch zu Dir, mit dem großen Hackebeilchen und macht Büchsenfleisch aus Dir!« Weiter sind auf dem Plakat einige Büchsen mit den Aufschriften »Der Spiegel«, »Demokrat«, »…albohm«, »Takt und Anstand« und weiter eine feiste männliche Person mit einem Beil aufgemalt; vom Beil tropft rote Farbe.“ (zit. nach [4], S. 162)

Um diesen singulären Massenkristall sammelten sich dann in kürzester Zeit rund 200 Menschen ([2]) – bis Günter W. dann einfach von der Polizei festgenommen wurde. Mit anderen Worten: Wenn das Ereignis eintritt, muß jemand die Initiative ergreifen. Das können einzelne, bislang in der Öffentlichkeit unbekannte Personen sein, doch mit größerer Wahrscheinlichkeit sind es bereits bestehende Organisationen, die als Massenkristalle fungieren.

Unglücklicherweise leiden politische Organisationen notorisch an der Illusion, sie würden die Bewegungen hervorbringen, für die sie eigentlich nur als Katalysatoren dienen. Es ist nicht ihre geduldige politische Wühlarbeit, die irgendwann umschlägt in eine Bewegung. Sondern die Bewegung ist das Resultat eines unerwarteten, aber symbolischen Ereignisses, in dessen Folge dann Organisationen als Katalysatoren wirken können.

Nächste Woche schauen wir uns näher an, was das Ereignis, wenn es denn ein Symbol ist, überhaupt symbolisiert. Freuen Sie sich also darauf, wenn Harry Pross zur Spiegel-Affäre meint, sie habe geholfen,

„im Volk zwei Parteien quer durch alle Schichten zu bilden: die Landesverratspartei und die Anti-Willkür-Partei.“ (zit. nach [4], S. 215)

Nachweise

[1] Canetti, E., Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980.

[2] clj & BeK: „Protest: Die Zivilgesellschaft geht auf die Strasse“, URL: http://www.anstageslicht.de/themen/themenkategorien/geschichtenansicht/berichtansicht/kat/history/story/die-spiegel-affaere-1962-und-danach/kapitel/landkarte-des-protests-demonstrationen-und-diskussionen/report/158.html, abgerufen am 26. November 2014.

[3] Ebert, T.: „Auf der Suche nach einer gewaltfreien Alternative zur Bundeswehr – Erfahrungsbericht eines Friedensforschers“, URL: http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Ebert_Nuernberg_2_11_05.pdf, abgerufen am 28. November 2014.

[4] Liebel, M.: „Die öffentlichen Reaktionen in der Bundesrepublik“, in: Ellwein, T.; Liebel, M. & Negt, I., Die Spiegel-Affäre II – Die Reaktion der Öffentlichkeit, Olten 1966, S. 37 – 240.

Written by alterbolschewik

5. Dezember 2014 at 14:56