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Archive for the ‘Philosophie’ Category

Methodisches

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„Die Abgehobenheit der Sprache von der Sache, die Sie in den sogenannten positiven Wissenschaften vorfinden, gilt nicht in derselben Weise für die Philosophie.“

Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie

Was bisher geschah: Der alte Bolschewik hatte sich für zwei Monate eine Auszeit genommen, um ein Projekt fertigzustellen, das etwas höhere Priorität hat als dieses Blog.

Natürlich hat das nicht geklappt – das genannte Projekt ist immer noch nicht fertiggestellt, aber da ich versprochen habe, mich am 1. Mai zurückzumelden, mache ich das auch. Allerdings geht es nicht ganz nahtlos dort weiter, wo ich vor zwei Monaten aufgehört habe. Zwei Monate Zeit zum Nachdenken lassen mich es notwendig erscheinen, ein paar grundsätzliche Fragen zu beantworten, die sich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht schon länger gestellt haben. Zu allererst einmal die ganz grundsätzliche Frage: Was soll das hier eigentlich?

Als ich vor vier Jahren begann, regelmäßig Texte ins Netz zustellen, hatte ich als vages Programm angekündigt, den Zusammenhang zwischen sozialen Bewegungen auf der einen Seite und Philosophie auf der anderen Seite in unsystematischer Weise auszuloten. Mehr oder minder wurde dieses Programm auch eingelöst. Auf der philosophischen Seite spielte natürlich immer wieder die Kritische Theorie eine Rolle, nicht nur die Leitfiguren Adorno oder Horkheimer, sondern auch der heute sträflich vernachlässigte Herbert Marcuse. Doch die Recherche blieb nicht im deutschen Sprachraum stehen. Gleich zu Beginn dieses Blogs richtete sich der Blick auf die jugoslawischen Philosophen und Philosophinnen um die Zeitschrift Praxis; später bildeten dann die Theorien des französischen Marxisten Henri Lefebvre einen Schwerpunkt. Flankiert wurden diese philosophischen Exkurse durch Untersuchungen zur Geschichte antiautoritärer Bewegungen. Dabei spielten naturgemäß die 60er und 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Immer wieder tauchen die Situationisten auf, es gab eine ausführliche Beschäftigung mit den niederländischen Provos, die Anfänge der zweiten Frauenbewegung in der BRD wurden gegen den Strich gebürstet… Allerdings wurden nicht nur sympathische Bewegungen angesprochen: Immer wieder wurden auch die die terroristischen Verirrungen der 70er Jahre thematisiert. Wir sind also ganz schön herumgekommen in den letzten vier Jahren.

Doch warum eigentlich diese Verknüpfung von Philosophie und antiautoritären Bewegungen? Das ergab sich daraus, daß ich mich von den in der akademischen Welt üblichen Beschäftigungen mit sozialen Bewegungen abgrenzen wollte. Dort gibt es im wesentlichen zwei Strömungen, die sich der Erforschung sozialer Bewegungen widmen. Es handelt sich dabei einerseits um die bloß historischen Beschäftigung mit Bewegungen, und andererseits um die soziologische Forschung. Doch warum eine solche Abgrenzung?

Die rein historischen Betrachtungsweise klebt mir in letzter Instanz zu sehr an der geschichtlichen Faktizität. Dagegen ist zwar prinzipiell nichts einzuwenden, vor allem, wenn ordentlich quellenorientiert gearbeitet wird. Es gibt hier wirklich ganz ausgezeichnete Arbeiten – ein Beispiel dafür ist etwa Detlef Siegfrieds Time is on my side. Doch der bloße Blick zurück ist mir zu wenig. Mich interessieren vor allem zukünftige Bewegungen: Wie und warum entstehen Bewegungen? Unter welchen Umständen machen sich Menschen auf, die Verhältnisse, in denen sie leben, grundlegend zu verändern? Lassen sich aus der historischen Erfahrung Vermutungen über die Zukunft anstellen?

Man sollte nun meinen, daß die Soziologen genau diese Fragen beantworten würden. Doch leider ist dem nicht so. In der soziologischen Bewegungsforschung wimmelt es nur so von schlechten Verallgemeinerungen und unzulässigen Abstraktionen. Für eine Erklärung dessen, wie Bewegungen entstehen und was sie tatsächlich sind, trägt das herzlich wenig bei – tatsächlich kann man bei den Historikern bessere Einsichten finden als bei den Soziologen. Letztere abstrahieren unsinnige Raster aus den Fakten; anschließend pressen sie dann die Bewegungen in diese Raster, um in ein Triumphgeheul auszubrechen, wenn das Raster mehr schlecht als recht auf die Empirie paßt, aus der sie das Raster abstrahierten. Mein Blutdruck steigt immer in ungesunde Bereiche, wenn ich Texte von Dieter Rucht oder einem seiner Schüler lesen muß.

Es ist nicht mit Abstraktionen getan, wenn man verstehen will, welche gesellschaftlichen Mechanismen bei der Entstehung gesellschaftsverändernder Bewegungen am Werk sind. Ihre Dynamik erschließt sich erst, wenn man nicht nur empirisch konstatierbare Merkmale aufzählt, sondern wenn man versucht, Begriffe zu entfalten. Was ich damit meine, läßt sich vielleicht an zwei unterschiedlichen Termini veranschaulichen, die eigentlich den selben Sachverhalt beschreiben.

In der soziologischen Bewegungsforschung wird beispielsweise der Terminus der „Mikromobilisierung“ gebraucht (vgl. etwa [1], S. 42). Gemeint ist damit einfach, daß einer kleinen Gruppe von Menschen ein gesellschaftliches Problem sauer aufstößt, worauf sie sich erst einmal im kleinen Kreis zusammenschließen, sich über die Problematik verständigen und unterhalb des Radars einer allgemeinen Öffentlichkeit im Kleinen mit der Mobilisierung anfangen. Mit anderen Worten: Der Terminus „Mikromobilisierung“ ist identisch mit dem, was er beschreibt, er fügt dem Phänomen, das er beschreibt, keinerlei Erkenntnis hinzu. Man wird bei vielen, aber keineswegs allen Bewegungen finden, daß in deren Vorfeld eine „Mikromobilisierung“ stattgefunden hat. Wenn man dann, ex post, eine Bewegung untersucht, kann man oft genug kleine Gruppen entdecken, die der eigentlichen Bewegung vorausgegangen sind. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Unzahl von Grüppchen, die auch eine „Mikromobilisierung“ betreiben, aus denen aber nie eine Bewegung entsteht. Für das Verständnis von Bewegungen liefert die Benutzung des Terminus „Mikromobilisierung“ keinerlei Erkenntnisfortschritt. Er beschreibt einfach nur etwas, das man bei einigen Bewegungen im Vorfeld findet, bei anderen nicht.

Um das selbe Phänomen zu beschreiben, habe ich den von Elias Canetti geprägten Begriff des „Massenkristalls“ verwendet. Dieser Begriff unterscheidet sich vom Terminus der „Mikromobilisierung“ schon dadurch, daß er nicht rein deskriptiv ist, sondern eine metaphorische Bedeutung besitzt. Die „Kristall“-Metaphorik verweist auf das bekannte physikalische Phänomen , daß man eine übersättigte Lösung schlagartig auskristallisieren kann (und dabei Kristallisationswärme freisetzt), indem man ein winziges „Impfkristall“ in die Lösung hineinwirft.

Außerhalb einer übersättigten Lösung ist das Kristall bedeutungslos, in den richtigen Kontext gebracht, entfaltet es eine ungeheure Wirkung. Das Kristall ist aber nicht die Ursache der Kristallbildung, auch kein Vorläufer, sondern ein mehr oder minder zufälliges Ding, das zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Der eigentliche Grund für die vehemente Reaktion ist die Übersättigung der Lösung selbst. Und der Auslöser muß noch nicht einmal ein Kristall vom selben Typ sein – oft genug reicht irgendein Staubkorn aus. Und manchmal – um die Metaphorik auf die Spitze zu treiben – braucht es noch nicht einmal ein Impfkristall: Schon eine plötzlich, heftige Erschütterung des Gefäßes kann den Kristallisationsprozeß auslösen.

Natürlich ist das alles Metaphorik – der Begriff arbeitet mit Analogien und Assoziationen, die bei seiner Benutzung mitschwingen. Der Begriff ist eben nicht deskriptiv, sondern er deutet sofort den Sachverhalt, der damit beschrieben werden soll. Wer eine Gruppe von Menschen als „Massenkristall“ bezeichnet, verweist damit auf die Plötzlichkeit, mit der Bewegungen auf einmal auf den Plan treten, die oft verblüffende Nichtigkeit des Anlasses, die Energie, die dabei freigesetzt wird. Das sind alles Verweise, die dem soziologischen Terminus der „Mikromobilisierung“ völlig abgehen.

Natürlich ist so etwas nicht „wissenschaftlich“ – zumindest dann, wenn man sich auf einen den Naturwissenschaften abgeschauten Erkenntnisbegriff zurückzieht. In einem solchen szientifischen Kontext, der seine Termini gerne schön eingehegt hat, damit sie genau den gewünschten Sachverhalt beschreiben und sonst nichts, sind schillernde Begriffe wie der des „Massenkristalls“ ein Ärgernis. Philosophische Begriffe versuchen gerade nicht deskriptiv zu sein. Es ist gar nicht ihre Absicht, einfach einen Sachverhalt abbilden. Sondern sie fügen dem Sachverhalt etwas hinzu, nämlich eine bestimmte Deutung. Mit anderen Worten: Der philosophische Begriff ist eben nicht mit dem identisch, was er unter sich begreift. Und gerade durch diese Nichtidentität des Begriffs mit dem von ihm gedeuteten Sachverhalt eröffnet überhaupt erst der Prozeß wirklicher Erkenntnis. Denn der Begriff, der nicht mit seinem Gegenstand identisch ist, sondern über diesen hinausweist, setzt einen notwendigen Explikationsprozeß in Gang, an dessen Ende mehr steht als eine einfache Beschreibung des in Frage stehenden Phänomens. Vielmehr entwickelt sich in der Auseinanderlegung des Verhältnisses von Begriff und Sache überhaupt erst ein wirkliches Verständnis des in Frage stehenden Gegenstandes.

Und darum wird es in den nächsten Folgen gehen: Einige Begriffe, die ich in den letzten Monaten einfach gebraucht habe, um damit bestimmte gesellschaftliche Phänomene zu beschreiben, zu präzisieren. Freuen Sie sich also auf nächste Woche, wenn der Zusammenhang zwischen Ereignis, Masse und Bewegung endlich etwas genauer beleuchtet wird.

Nachweise

[1] Schulz, K., Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968–1976, Frankfurt a.M. / New York 2002 (http://www.hist.unibe.ch/unibe/philhist/hist/content/e267/e6141/e8165/datei/datei/schulz_provokation_ger.pdf).

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1. Mai 2015 at 13:08

Veröffentlicht in Philosophie

Marxismus vs. Positivismus

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„Damit etwas anders sein kann, als es ist, bedarf es der Voraussetzung der Freiheit; die geschichtliche Praxis ermöglicht die Freiheit, ja sie ist die Freiheit selbst.“

Milan Kangrga

Die Philosophen der jugoslawische Praxis-Gruppe verstanden sich, daran besteht kein Zweifel, als Marxisten. Allerdings unterschied sich ihre Auffassung der Marxschen Theorie ziemlich von der, wie sie ursprünglich in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung üblich war. Man kann diese Tradition des Arbeiterbewegungsmarxismus recht gut als „positivistisch“ beschreiben. Im Zentrum ihrer Argumentation stand die Auffassung, daß es sich beim Marxismus um einen „wissenschaftlichen Sozialismus“ handle. Mit „wissenschaftlich“ meinte man damals, ganz im Sinne des im 19. Jahrhunderts gängigen Wissenschaftsbegriffs, daß es sich um eine objektiv nachprüfbare Theorie handle, deren Wahrheit unabhängig von den erkennenden Subjekten einfach gegeben sei. Marx, so war in etwa die Vorstellung, habe die Entwicklung der Gesellschaft ebenso gesetzmäßig beschrieben wie die newtonsche Physik das Verhalten der Körper im Raum. Der Sieg der Arbeiterbewegung über den Kapitalismus, so die allgemeine verbreitete Vorstellung, würde mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes früher oder später eintreten. Es gab dann zwar Streitereien, ob das durch eine gewaltsame Revolution geschehen müsse, oder ob die Eroberung der Macht auch auf friedlich-parlamentarischem Wege vonstatten gehen könne, doch die Naturgesetzlichkeit des Vorgangs wurde nicht in Frage gestellt.

Letztlich blieb diese positivistische Sicht, daß gesellschaftliche Entwicklungen quasi naturgesetzlich ablaufen würden, auch nach der Spaltung der Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen, sich an der Sowjetunion orientierenden Flügel, in beiden Fraktionen erhalten. Nur in einer kurzen Zwischenphase, im Anschluß an den ersten Weltkrieg und die russische Revolution, gab es innerhalb der kommunistischen Bewegung einige wenige Denker, die einen dezidiert anti-positivistischen Standpunkt vertraten (zu nennen wären hier etwa Georg Lukács mit Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) und Karl Korsch mit Marxismus und Philosophie (ebenfalls 1923)). Doch in dem Maße, in dem sich die kommunistische Bewegung den außenpolitischen Bedürfnissen der Sowjetunion unterordnete, fiel der stalinistische „dialektische und historische Materialismus“ wieder zurück in einen dogmatischen Positivismus (zumindest was die behauptete „Wissenschaftlichkeit“ betrifft; parallel dazu herrschte aber gleichzeitig ein völliger Voluntarismus, demzufolge immer gerade das als Wahrheit zu gelten hatte, was der Parteiführung und letztlich Stalin einfiel als solche zu dekretieren).

„Der Stalinismus war, unter anderem, eine seltsame Kombination einer extrem dogmatischen und einer extrem nihilistischen Haltung gegenüber dem philosophischen Erbe des Marxismus.“ ([5], S.56)

Doch für die Praxis-Philosophen war ihr Hauptfeind, der Stalinismus, nur eine unter vielen Varianten des Positivismus. In anti-positivistischem Furor zählt etwa Milan Kangrga außer dem dialektischen und historischen Materialismus folgende Varianten des Positivismus auf:

„Historismus, Relativismus, Ökonomismus, Technokratismus, Politizismus, Bürokratismus, Scientismus (= reine Wissenschaftlichkeit), Strukturalismus, Organismus, Biologismus, Neopositivismus, Semantik, Phänomenologie, Axiologie, normative Ethik mathematische oder symbolische Logik, alle Arten des Ontologismus, Soziologismus, Anthropologismus, Moralismus, Metaphysik, Empirismus, Gnoseologismus, Pragmatismus, Praxeologie, (dialektische) Bedeutungslehre, Gesellschaftstheorie usw.“ ([1], S.439)

Gegen alle diese Spielarten des Positivismus – sowohl des bürgerlichen wie des stalinistischen – setzten die Praxis-Philosophen einen lebendigen Marxismus:

„In diesem Sinne kann in unserer Zeit in Bezug auf Marx nur eine wesentliche gedankliche und existentielle Alternative gestellt werden: Marxismus oder Positivismus.“ ([1], ebd.).

Und Milan Kangrga erläutert dann auch sofort, was er unter dieser Alternative versteht:

„Ausgangspunkt, Grundlage, Perspektive und Horizont des ersteren liegen in der Möglichkeit, anders zu sein, als es ist und als es war, also in der dialektischen Negation des Bestehenden als des Endlichen und wesentlich Prozessualen; die Perspektive des anderen liegt in dem Verharren im Rahmen und auf den wesentlichen Voraussetzungen des Gegebenen, Bestehende, Faktischen, tatsächlichen Zustandes, sowohl des Gewesenen als auch des Heutigen, also auf der Bestätigung dessen, was ist, als des an sich Wahren und Möglichen.“ ([1], ebd.)

Der methodische Referenzpunkt für diese Auffassung des Marximus als einer im Kern vor allem anti-positivistischen Philosophie, machen die Praxis-Philosophen an einem bestimmten Marxschen Text fest, den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, die Marx im Frühjahr und Sommer 1844 im Pariser Exil verfaßt hatte. Hier faßt Marx den Menschen als ein praktisches Wesen:

„In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter eine species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.“ ([4], S.516)

Der anti-positivistische Charakter dieser Marxschen Frühschrift beruht nun darauf, daß er diesen „Gattungcharakter des Menschen“ der aktuellen menschlichen Realität gegenüberstellt. Denn in der historisch gegebenen Wirklichkeit ist es keineswegs so, daß der Mensch sich und seine Welt in freier und bewußter Tätigkeit schafft; vielmehr ist die Arbeit, die real geleistet wird, entfremdete Arbeit. Und diese Art der Arbeit „entfremdet dem Menschen seinen eigenen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.“ ([4], S.517)

Indem Marx so die Realität dem Wesen entgegensetzt, geht er über den status quo hinaus, die empirische Wirklichkeit ist nicht mehr der Maßstab aller Dinge; die Realität ist nun nicht mehr allein Gegenwart, sondern erhält eine zusätzliche Dimension.

Ich hatte bereits in einem früheren Text gezeigt, daß Marx diese Konzeption eines menschlichen Wesens, das dem historischen Hier und Jetzt entgegengesetzt wird, unter dem Einfluß der Stirnerschen Kritik an Feuerbach verworfen hat und in der Folge eine rein immanente Revolutionstheorie entwickelte. Die Praxis-Gruppe aber kehrte zu dieser frühen, von Marx selbst als untauglich verworfenen Konstruktion einer ihres eigenen Wesens entfremdeten Menschheit zurück.

Allerdings wird die frühe Marxsche Konstruktion in einem entscheidenden Punkt korrigiert: Das Wesen des Menschen wird nun nicht mehr als ein überhistorisch Gegebenes postuliert, sondern als etwas, das noch nicht ist:

„Der Mensch entfremdet sich selbst seiner menschlichen Natur (und ist dann nur Naturwüchsigkeit), er entfremdet sich von diesem »Noch-nicht-er-selbst«, wenn er aufhört das sein zu wollen, was er noch nicht ist […]. Das ist aber nirgends gegeben, und das kann ihm von niemandem und von nichts gegeben werden […], das muß der Mensch selbst erkämpfen, erzeugen und schaffen für sich als Menschen, und dann auch für andere Menschen, um überhaupt als Mensch im menschlichen, geschichtlichen Medium, das er um sich herum und in sich geschaffen hat, existieren zu können.“ ([2], S.22)

Das Wesen des Menschen ist nicht ein einmal festgelegtes Sein, sondern es ist Prozeß. Der Mensch ist das, was er sein wird, wenn er sich praktisch daran macht, gerade das zu werden. Für Kangrga und die Gruppe der Praxis-Philosophen ergibt sich daraus dann eine Forderung, die unmittelbar von den antiautoritären Bewegungen aufgegriffen werden konnte:

„Man muß nämlich wagen, sein eigenes, authentisches Leben zu leben, damit dieses Schicksal wirklich das unsere werde, das heißt, damit es aufhöre ein bloßes Fatum zu sein, das uns unter den verschiedensten Formen und mit allen möglichen Mitteln tagtäglich von außen her bezwingt, schlägt, verstümmelt, vereitelt und vernichtet. Dazu reicht das wissenschaftliche Wissen nicht aus, ob und wie etwas einfach als bloße Tatsache ist, dazu bedarf es des Mutes, die Frage nach dem Sinn einer bestehenden Tatsache zu stellen.“ ([1], S.448f)

Um zu erfahren, was es mit diesem authentischen Leben auf sich hat, lesen Sie deshalb auch nächste Woche weiter, wenn D. Tralić erklärt:

„Ich halte Bob Dylan für einen Revolutionär, mehr als unsere Väter, die über ihr bequemes bürgerliches Leben sehr glücklich und stolz sind.“ ([3], S.95)

Literaturverzeichnis

[1] Kangrga, M., „Der Sinn der Marxschen Philosophie“, in: Praxis, Jg.3 (1967), Nr.3: 436 – 452.

[2] Kangrga, M., „Das Problem der Entfremdung in Marx‘ Werk“, in: Praxis, Jg.3 (1967), Nr.1: 13 – 30.

[3] Kanzleiter, B., Die »Rote Universität«. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964-1975, Hamburg 2011.

[4] Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: MEW 40, Berlin 1985.

[5] Petrović, G., „Marxism versus Stalinism“, in: Praxis, Jg.3 (1967), Nr.1: 55 – 69.

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12. August 2011 at 15:50

Veröffentlicht in Jugoslawien, Marx, Philosophie

Vom Ende des Kunstwerks

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„Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben: ihr Tod heute, wie er droht, wäre einzig der Triumph des bloßen Daseins über den Blick des Bewußtseins, der ihm standzuhalten sich vermißt.“

Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik

Dieser Beitrag tanzt etwas aus der Reihe: Es geht in ihm nicht – zumindest nicht direkt – um die sechziger Jahre und die antiautoritären Bewegungen, sondern um ein ganz spezielles Thema: Das mögliche Ende der Kunst. Anlaß dazu sind die Auseinandersetzungen auf dem Blog von Bersarin, wo ich mich bereits mehrfach mit dem Nörgler über dieses Thema gekabbelt habe. Als ich vor ein paar Wochen dabei war, eine Antwort auf eine Attacke des Nörglers zu formulieren, habe ich diese mitten im Schreiben abgebrochen, weil ich gemerkt habe, daß das, worum es mir geht, letztlich nicht im Dialog (soweit man Auseinandersetzungen mit dem Nörgler überhaupt als Dialog bezeichnen kann) entfalten werden kann. Deshalb gibt es diesen gesonderten, etwas aus der Reihe fallenden Beitrag zum Theorem vom „Ende der Kunst“, der aber, wie man sehen wird, trotzdem in das Herz dieses Blogs führt.

Wenn wir vom „Ende der Kunst“ reden wollen, dann müssen wir natürlich die Frage stellen, was denn Kunst überhaupt sei. Denn auf den ersten Blick scheint die Behauptung eines „Endes der Kunst“ hochgradig verpeilt: Es wird ohne jeden Zweifel tagtäglich musiziert, gemalt, geschrieben, photographiert, Menschen führen Theaterstücke auf oder drehen Filme, kurz: Es herrscht kein Mangel an künstlerischen Aktivitäten. Was also ist damit gemeint, wenn nun jemand wie der Nörgler behauptet, die Kunst habe ein Ende erreicht? Bringen diese Aktivitäten, die man naiverweise als „künstlerisch“ bezeichnen würde, keine Kunstwerke hervor? Da der Nörgler kein Idiot ist, muß diese Frage ernstgenommen werden.

Sie muß, angesichts der Apodiktik der Nörglerschen Aussagen, sogar noch verschärft werden: Es geht, zumindest wenn wir den Nörgler so ernst nehmen, wie er es verdient, nicht einfach darum, daß das, was heutige künstlerische Produktion hervorbringt, einfach schlechte Kunstwerke wären. Es sind überhaupt keine Kunstwerke. Der Nörgler betont nachdrücklich, „dass die avanciertesten Werke der Musik 80 und die der Literatur 60 Jahre alt sind“ (27.5.2011). Das danach produzierte Zeug ist entweder „Kunsthandwerk“ (12.5.2011) oder, noch schlimmer, „kulturindustrieller Scheiß“ (30.6.2011).

Es handelt sich also nicht um eine bloß quantitative Differenz, gute Kunst vs. nicht so gute Kunst, sondern um eine qualitative Differenz: Kunstwerke und kulturindustrieller Scheiß stehen keineswegs so zueinander, daß es sich dabei um ein „höheres“ und ein „niederes“ Niveau handelt, sondern so, daß die beiden sich ganz grundlegend, man könnte fast sagen: „ontologisch“ unterscheiden.

Was aber macht das authentische Kunstwerk aus, das es so grundlegende vom kulturindustriellen Scheiß unterscheidet? Hierzu müssen wir, glaube ich, vom Nörgler weg zum Original gehen, zu Adorno: Das Telos authentischer Werke ist nicht einfach Schönheit oder sinnliches Vergnügen, sondern Wahrheit (darauf zielt auch, wenn ich das richtig interpretiere, der etwas kryptische Satz des Nörglers:.„Die Kunst vermag nicht, das Kapital auf den Begriff zu bringen. Darum endet sie.“ (22.5.2011)). Was aber meint Wahrheit im Zusammenhang mit Kunst? Es kann sich hier ja nicht einfach um aussagenlogische Richtigkeit handeln. Wahrheit meint hier, zumindest wenn wir Adorno folgen, die gelingende Einheit von Allgemeinheit und Individualität, oder konkreter: die Einheit von Form und Ausdruck. Konkret heißt das, daß im gelingenden Kunstwerk die Form dem individuellen Detail nicht äußerlich bleibt, sondern das Werk vielmehr den ästhetischen Schein produziert, die Form ginge scheinbar zwanglos und doch notwendig aus den Details hervor.

Genau darin unterscheiden sich Kunstwerke vom kulturindustriellen Scheiß ganz fundamental: Auch bei den Produkten der Kulturinstrie haben wir Allgemeines und Individuelles, doch beide bleiben unverbunden. Nicht mehr Form als das Allgemeine und Ausdruck als das Individuelle treffen aufeinander, sondern das bewährte Schema trifft auf den bloßen Effekt. In Adornos Worten: „Das Ganze tritt unerbittlich und beziehungslos den Details gegenüber […]. Gegensatzlos und unverbunden tragen Ganzes und Einzelheit die gleichen Züge. Ihre vorweg garantierte Harmonie verhöhnt die errungene des großen bürgerlichen Kunstwerks.“ ([3], S.150)

Das Kunstwerk hebt sich vom kulturindustriellen Scheiß ab, indem es individuellen Ausdruck mit der allgemeinen Form vermittelt, so daß die Form, das Allgemeine, als mit dem Detail versöhnt erscheint, und steht damit diametral dem kulturindustriellen Verfahren entgegen, bei deren Artefakten Ausdruck und Form beziehungslos nebeneinanderstehen.

Doch das große bürgerliche Kunstwerk, das so als Gegenbild zum kulturindustriellen Scheiß entworfen wird, zerfällt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, der erste Weltkrieg macht ihm schließlich den Garaus. Der Imperialismus und dann die barbarischen Schlächtereien in den Schützengräben unterminierten auch die Möglichkeit der gelungenen Versöhnung, und sei sie auch nur die im Kunstwerk antizipierte. Adorno konstatiert dies selbst mit unerbittlicher Genauigkeit:

„Die einzigen Werke heute, die zählen, sind die, welche keine Werke mehr sind.“ ([1], S.37)

Für Adorno versöhnen sie nicht mehr Individuelles und Allgemeines, sondern gestalten den Widerspruch: Individuelles und Allgemeines bleiben weiterhin aufeinander bezogen, aber nun nicht mehr im Sinne von Versöhnung, sondern in der Form des gestalteten Antagonismus.

Der Nörgler, um wieder zur Ausgangsfrage zurückzukehren, verneint nun auch die Möglichkeit dieser gebrochenen Werke – womit er Adorno nur konsequent weiterdenkt. Ich will mich hier gar nicht in die Gründe vertiefen, warum das durchaus plausibel und in der Dialektik des avancierten Werkes selbst liegt. Denn mit dem Nörgler bin ich durchaus einer Meinung, daß das Werk, beim Nörgler wie bei Adorno ästhetischer Dreh- und Angelpunkt, seine historische Daseinsberechtigung verloren hat. Damien Hirst oder Jeff Koons produzieren genausowenig „Werke“ wie die Kastelruther Spatzen.

Doch markiert das Ende des Werkes auch das Ende der Kunst? Letztendlich ist der Werkbegriff, wie ihn der Nörgler oder Adorno vertreten, mitten im 19. Jahrhundert angesiedelt. Bürgerliche Individualität und ihre Apotheose, der genialische Künstler, gelten als letztlich unhinterfragbare höchste Form menschlicher Emanzipation, das Kunstwerk als Manifestation dieser Individualität.

Hier können wir tatsächlich einen kleinen Schwenk zur Thematik der letzten Wochen machen. 1967 stand die Korčula-Sommerschule unter dem Thema „Schöpfertum und Verdinglichung“; und dort hielt Danko Grlić (den wir schon aus einem früheren Beitrag kennen) einen Vortrag mit dem Titel „Kreation und Aktion“. Grlić konstatiert darin folgendes Paradoxon:

„jede Kreation ist das Werk einer Persönlichkeit, das Werk eines Einsamen und keine kollektive Tat, aber alle Versuche, das Recht auf Kreativität, auf Selbstheit zu sichern, schlagen zwangsläufig in eine Aktion um, die als Aktion immer bestimmte Elemente einer sozialen und geistigen Gemeinsamkeit in sich enthält.“ ([2], S.22)

Politische Aktion ist für Grlić immer nur denkbar als Unterordnung des Individuums unter eine politische Führung. In der politischen Aktion werden für ihn

„die individuellen Affinitäten, die Innigkeit der persönlichen Gefühle und die Kühnheit der eigenen Gedanken unterdrückt, es bildet sich ein äußerer, dünner Firnis der Gleichschaltung, unter dem die nichtprinzipiellen Kompromisse sichtbar werden, in einer Atmosphäre, in der alles, sogar die eigene Denktätigkeit, Mut und Gefühle dem allgemeinen Fluß der Dinge überlassen und an die Aktion, die Bewegung verschenkt werden.“ ([2], S.26)

Ganz unverständlich ist Grlićs Position natürlich nicht, wenn man sich klarmacht, daß er selbst in der jugoslawischen Resistance aktiv gegen die Nazis und ihre Kollaborateure gekämpft hatte. In solch einer historischen Situation war organisatorische Disziplin und damit auch Unterdrückung der eigenen Individualität zweifellos eine existentielle Notwendigkeit. Sit-ins oder Menschenketten waren damals keine wirklich probaten Aktionsformen.

Doch dies gilt nicht in jeder Situation. Gerade in den 60er Jahren, als Grlić seinen Vortrag hält, bilden sich Aktionsformen heraus, die sich dieser Unterordnung der Individualität in der politischen Aktion nicht nur verweigern, sondern vielmehr gerade die Individualitäten der verschiedenen Akteure zu ihrer Stärke machen (oder dies zumindest versuchen). Und damit sind wir eigentlich doch beim Kernthema dieses Blogs gelandet: Den antiautoritären Bewegungen.

Das heißt, bereits die eine Seite der Grlićschen Ungleichung ist falsch bestimmt: Die politische Aktion muß nicht die Indiviudalitäten abschneiden, sondern kann daraus ihre Stärke beziehen, so wie auch umgekehrt die Aktion die Individualität der Teilnehmenden stärken kann.

Das selbe gilt aber auch für die andere Seite der Ungleichung: Kreativität muß sich nicht zwangsläufig darin äußern, daß sich ein isoliertes Individuum am Material abarbeitet, sie kann sich auch im Kollektiv entfalten und das Kollektiv kann die individuellen kreativen Impulse durch einen Rückkopplungsprozeß verstärken.

Gehen wir noch einmal zurück zur Krise des Werkes um die Zeit des ersten Weltkriegs. Ein künstlerischer Ausweg aus dieser Krise war zweifellos der dialektische Umschlag im Werk selbst, das nun nicht mehr Werk im Sinne des 19. Jahrhunderts sein konnte, sondern zum Dokument der Unmöglichkeit des Werkes selbst mutierte, in dem es die Einsamkeit und das Leiden des Künstlers protokollierte. Es gab aber auch eine andere künstlerische Reaktionsweise auf diese Krise des Werkes: DADA.

DADA produzierte keine Werke mehr. DADA war vielmehr kollektive künstlerische Aktion. Kunst kristallisiert sich hier nicht mehr im Werk,sondern die Kunst existiert nur noch als Prozeß, in der Interaktion sowohl innerhalb des Kollektivs als auch mit einer – als feindlich identifizierten – Außenwelt. Die Artefakte, die diese Art von Kunst produziert, sind keine Kunstwerke mehr. Was heute in den Museen als „dadaistische Kunst“ hängt, ist keine Kunst. Es sind – und daraus beziehen sie eine gewisse Aura, die sie Kunstwerken ähnlich macht – nicht mehr als die Erinnerungsspuren an den ursprünglichen Prozeß, der an die spezifische Situation gebunden war und so nicht wiederholbar ist.

Doch DADA war nur der Beginn.

Lesen Sie deshalb auch nächsten Freitag weiter, wenn Richard Hell meint:

„There was just so much more excitement in rock & roll than sitting at home writing poetry.“ ([4] S.163)

Literaturverzeichnis

[1] Adorno, T. W.: Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, Band 12, Frankfurt a. M. 1975.

[2] Grlić, D.: „Kreation und Aktion“, in: Praxis, Jg.4 (1968), Nr.1/2: 22 – 36.

[3] Horkheimer, M. & Adorno, T. W.: Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt 1987.

[4] McNeil, L. & McCain, G. (Ed.): Please Kill Me. The Uncensored Oral History of Punk, New York 1996.

Written by alterbolschewik

22. Juli 2011 at 15:29

Philosophie und Revolution (1)

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„Ich bin 1962 zusammen mit Gajo Petrović zu der Erkenntnis gekommen: Wir brauchen eine eminent philosophische Zeitschrift, um nicht von anderen, literarischen Kreisen abhängig zu sein.“

Milan Kangrga im Interview mit Krunoslav Stojaković (2007)

Die heutige und die nächste Folge dieses Blogs hat einen Gastautor, Gajo Petrović.

Petrović wurde 1927 in Karlovac geboren. Nach der jugoslawischen Befreiung studierte er Philosophie, nicht nur in Zagreb, sondern auch in Leningrad und Moskau, wo er die stalinistische Verballhornung der Philosophie aus unmittelbarer Anschauung kennenlernen konnte. 1950 erhielt er sein Diplom, 1956 wurde er mit einer Abeit über Plechanow promoviert. Er war einer der Gründer der Praxis und ihr Chefredakteur. Außerdem war er der führende Kopf der Korčula-Sommerschule. In der Folge der Studentenbewegung 1968 wurde er massiv angegriffen und aus dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens ausgeschlossen. Lesenswert in diesem Zusammenhang ist seine Reaktion auf die »Chronik der politischen Schlacht« vom 26. Juni 1968 (abgedruckt in [Kanzleiter & Stojaković 2008], S.262-266), in der er die Angriffe des kroatischen Nationalisten Marko Veselica pariert. Petrović verstarb 1993.

Für die Sommerschule von Korčula im Jahr 1968 verfaßte Petrović einen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal höchst interessanten Text zum Thema Philosophie und Revolution. Wegen der Masse an Vorträgen und Diskussionen, die im August 1968 auf Korčula stattfanden, wurde der Text damals nicht vorgetragen, er wurde aber 1969 in französischer Sprache publiziert ([Petrović 1969]) Ich dokumentiere ihn hier übersetzt in zwei Teilen.

Philosophie und Revolution

(Zwanzig Fragenbündel)

1.

Muß die Philosophie sich immer in der Form einer Abhandlung darstellen, in der alles systematisch erläutert, verargumentiert und illustriert wird? Ist es nicht inzwischen bereits so, daß die Philosophie ihre Formen dem Epos, dem Roman, der Erzählung, dem Drama, dem Prosagedicht, dem Dialog, der Briefliteratur oder der Reiseerzählung entlehnt? Konnte man nicht sehen, wie sich die Philosophie durch die These (Feuerbach, Marx) oder sogar durch die Predigt oder das Gebot (Nietzsche) ausdrückt? Und muß man nicht ebenfalls die Frage versuchen, unter Ausschluß jeder anderen Form? Ist nicht die Frage die Nahrung des Denkens? Sind die „Philosophie“ und die „Revolution“ nicht das, was alles in Frage stellt? Und müssen sie selbst nicht das Sezierende jeder Frage unterstützen?

2.

Ist die Philosophie das Denken des Seins beziehungsweise das Denken der Revolution? Wenn die Philosophie das Denken des Seins ist, ist sie das Denken, das das Sein denkt, oder das denkende Denken durch das das Sein denkt? Wenn die Philosophie Denken ist, das das Sein denkt, ist dieses Denken die Feststellung dessen was ist, die Suche nach dem, was sein könnte, oder die Vorschrift dessen, was erscheinen muß? Ist die Philosophie berufen, das Schädliche anzuprangern und das Nützliche zu rühmen, den Weg zum Wünschenswerten zu weisen, den Glauben an das Erreichbare zu stärken, die Hoffnung an das aufrechtzuerhalten, das noch nicht verloren ist, und angesichts der Gefahr anzuspornen? Was ist die Philosophie für das Sein: Ein Nachbar oder ein Fremder, ein Hirt oder ein Jäger, ein Sähmann oder ein Schnitter, ein Hüter oder ein Gendarm, ein Prophet oder eine Nonne? Ist sie ein wenig von alldem? Oder aber nichts, nichts als ein strenges, unerbittliches Denken, das, indem es das Sein in seinem Wesen denkt, all jene figurativen Beschreibungen ablegt wie so viele Kinderbekleidung, die nicht zu ihrer Ernsthaftigkeit paßt? Und das auf alle diese Fragen darüber, was es ist, selbstbewußt antwortet, das es es selbst ist, das Denken des Seins, es allein und ohne Zusätze?

3.

Wenn es das Sein ist, was das philosophische Denken denkt, „was“ ist es, dieses vom Denken gedachte Sein? Wenn es überhaupt nicht „was“ ist, wie ist es dann? Ist es, unabhängig davon, ob es einer denkt oder nicht? Ist es das, was es ist, wie auch immer darüber gedacht wird? Erfährt es dieses Denken wie ein Vergnügen, oder wie eine Beunruhigung, als eine Bereicherung oder eine Verarmung, erhebend oder niederschmetternd, wie eine Erfüllung oder wie eine Profanierung? Trotzt es ihm ein gleichgültiges Lächeln ab, dieses Denken, das sich aufgeregt um es bemüht, ohne sich darüber klarzuwerden, daß dieses Bemühen zum Scheitern verurteilt ist? Zumindest daß dies nicht das Sein selbst wäre, das sich nach dem Denken sehnt, da es das Gefühl hat, ohne es unvollständig und unzulänglich, ohne Namen und Stimme zu bleiben?

4.

Wenn die Philosophie Denken ist, das das Sein denkt, kann sie zugleich Denken, das vom Sein gedacht wird, sein? Der Mensch als Philosoph, ist dies nicht derjenige, der sich der Philosophie hingibt, über das Sein nachdenkt? Und ist der Mensch nicht ein partikulares Dasein, die Philosophie eine der am meisten spezialisierten seiner Aktivitäten? Zumindest daß der Mensch, indem er das Sein denkt, vielleicht nicht als partikulares Dasein denkt, das als eine der möglichen Weisen des Seins existiert, sondern als ein Dasein, das sich in einem besonderen Verhältnis zum Sein vorfindet und in sich alle Formen des Seins bündelt? Ist die Philosophie vielleicht nicht eine der vielen Formen des menschlichen Denkens, sondern das Denken, das er als Mensch denkt, das Denken, durch das das Sein mit ihm selbst spricht?

5.

Wenn die Philosophie das Denken des Seins ist, kann sie auch das Denken der Revolution sein? Ist die Revolution nicht ein besonderes gesellschaftliches Phänomen, die der Geschichtswissenschaft als Objekt dient, der Soziologie, den politischen Wissenschaften, aber keineswegs der Philosophie? Und fällt die Philosophie nicht in das Gebiet der Soziologie und der Politologie, ja in das Gebiet der Politik und der Politiker ein, wenn sie ebenfalls über die Revolution reden will? Ist es ein Zufall, wenn der Begriff der Revolution kein Bürgerrecht in den „seriösen“ enzyklopädischen philosophischen Wörterbüchern besitzt? Kann sich der Philosoph als Philosoph (und nicht zum Beispiel als Bürger) auf die eine oder andere Art für die Revolution interessieren? Oder ist vielleicht die Revolution ein besonderes Phänomen, das so wichtig ist, daß die Philosophie einen Teil ihrer Aufmerksamkeit dieser so gelobten und verschrienen, so bewegenden und erschreckenden „Sache“ widmen muß, wie sie es bei anderen interessanten und wichtigen gesellschaftlichen Phänomenen tut? Könnte man nicht sagen, daß die Revolution vielleicht gar keine „partikulare“ Sache ist, sondern eine Sache, um die sich der Philosoph gleichsam aus professioneller Verpflichtung sogar ein bißchen mehr kümmern muß? Doch was ist denn eigentlich die Revolution?

6.

Kann man jedem Putsch den Namen der Revolution geben, jedem Austausch von Individuen und Gruppen an der Macht, oder darf man nur den Übergang der Macht von eine Gesellschaftsklasse an eine andere Revolution nennen? Kann man andererseits jeden Sturz der sich an der Macht befindenden Klasse Revolution nennen, oder nur einen Umsturz, der vom Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung gefolgt ist? Und kann man jede Ersetzung einer Gesellschaftsordnung durch eine andere Revolution nennen, oder nur die Ersetzung einer „niedrigeren“ durch eine „höhere“ Ordnung? Kann man jede Ersetzung einer niedrigen Ordnung Revolution nennen, oder nur die Einrichtung einer radikal verschiedenen Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Klassen, eine wahrhaft humane Gesellschaft, in der man sieht, wie die Entfremdung des Menschen verschwindet und sich authentisch humane Beziehungen zwischen den Menschen herstellen?

7.

Ist die Revolution nur die Veränderung dieses oder jenes Aspekts der Gesellschaftsordnung, oder muß man diese Bezeichnung auf eine Veränderung der gesamten Gesellschaftsordnung unter allen ihren Blickwinkeln beschränken? Ist die Revolution nur die Veränderung der Gesellschaftsordnung oder auch die Veränderung des Menschen? Ist sie die Veränderung bestimmter Aktivitäten des Menschen oder die Veränderung des ganzen Menschen? Ist alle Veränderng des Menschen Revolution, oder kann man nur diese oder jene Veränderung Revolution nennen, die eine wesentliche Umkehrung des Menschen mit sich bringt? Ist die Revolution eine Veränderung im Menschen oder eine Veränderung des Kosmos, die Schöpfung einer Art des Seins, das wesentlich unterschieden ist, frei und schöpferisch, das all dem radikal opponiert, was unmenschlich und anti-human oder noch nicht völlig human ist?

8.

Ist die Revolution an den Menschen gebunden, oder kann man sich eine Revolution in der nicht menschlichen Natur vorstellen? Ist es nicht notwendig, den Namen der Revolution auch den großen und unvermittelten Veränderungen, die in der Natur vor sich gehen, zu geben? Würde das nicht den Revolutionen in der Geschichte „ein ontologisches Fundament geben“? Sind die Revolutionen in der Geschichte nicht unerklärlich, wenn man Revolutionen in der Natur anzweifelt? Oder zumindest andersherum, wird es nicht durch den Zweifel an den Revolutionen in der nicht menschlichen Natur möglich, die Revolutionen in der Geschichte und in der Natur im allgemeinen zu begreifen? Ist es nicht genau so, daß der Mensch, ein natürliches Sein, als Sein der Revolution gerade seine Naturhaftigkeit überschreitet? Und wären die Revolutionen in der Geschichte nicht gerade die einzigen „natürlichen“ Revolutionen?

9.

Aber hat es jemals wirklich Revolutionen in der Geschichte gegeben? Und ist die Revolution nicht der Übergang von einem geschichtlichen Zustand in einen anderen, der sich mit dem gleichen Recht wie alles andere in der Geschichte verankert, oder konstituiert sie nicht vielmehr einen Sprung aus der Geschichte heraus, einen Schritt in die Ewigkeit und Zeitlosigkeit? Können die „Lokomotiven der Geschichte“ ihre eigenen Wagons sein? Die Geburtshelfer der neuen Gesellschaft zu ihrer eigenen Geburt beitragen? Außerdem, ist die Revolution möglich ohne historische Voraussetzungen? Andererseits, ist die Revolution möglich ohne absolutes, ahistorisches Kriterium, ohne Negation dessen, was historisch vorgefunden wird? Und ist es möglich, die Ahistorizität der Revolution in die Geschichte einzufügen, wie eine absurde Partikularität, beziehungsweise konstituiert sie das Wesentliche, das Geschichte möglich macht?

Lesen Sie auch nächsten Freitag, wenn Gajo Petrović weiter fragt:

„Ist die Revolution ein Phänomen, das mit den Gesetzen übereinstimmt, oder ist sie ein Bruch der Gesetze?“

Literaturverzeichnis

Petrović, G. (1969): „Philosophie et revolution (Vingt faisceaux de question)“, in: Praxis, Jg.5 (1969), Nr.1/2: 90 – 96.

Kanzleiter, B. & Stojaković, K. (Ed.) 2008: 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975, Bonn 2008.

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8. Juli 2011 at 13:42

Veröffentlicht in Jugoslawien, Philosophie

Kunst im technischen Zeitalter (2)

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„Die Wahrheit der Kunst besteht genau darin, daß sie etwas in sich trägt, das über sie hinausweist, etwas Über-Künstlerisches“

Danielo Pejović, L’art et l’esthétique, 1966

Mit den Aufsätzen von Danilo Pejović [1966] und Milan Kangrga [1966] betreten wir nun interessanteres philosophisches Terrain. Hier finden wir nicht nur die Ablehnung des sozialistischen Realismus, die uns bereits bei Grlić [1966] und Focht [1966] begegnet ist, sondern eine weitergehende Auseinandersetzung über das Verhältnis von Philosophie und Kunst, die uns jetzt mitten in die Ontologie der Praxis-Gruppe hineinführt.

Ausgangspunkt für Pejović ist die Frage, ob es so etwas wie eine marxistische Ästhetik überhaupt geben kann. Schon seine einleitenden Bemerkungen verraten, daß er zumindest die bisherigen Versuche einer spezifisch marxistischen Ästhetik ablehnt. Er führt ein Zitat des ganz jungen Marx an, in dem dieser die Freiheit als Voraussetzung schriftstellerischen Schaffens postuliert. Philosophisches Nachdenken über Kunst ist aber Pejović zufolge den Kunstwerken nachgelagert; Versuche, wie etwa die von Lukács, der Kunst aus allgemeinen Prinzipien abgeleitete Regeln vorzuschreiben, bezeichnet er deshalb als „Naivität“: Ästhetik ist für ihn keine „normative Disziplin, die die Kunstwerke Anforderungen und Gesetzen unterwirft und es unternimmt, bestimmte Kriterien und bestimmte willkürliche Bedingungen aufzustellen, von denen es abhängt, ob ein Werk als Kunstwerk oder nicht qualifiziert werden kann.“ ([Pejović 1966], S.298)

Damit begründet Pejović seine Ablehnung des Sozialistischen Realismus und überhaupt einer politisch gegängelten Kulturproduktion. Ähnliches, wenn auch mit anderer Begründung, kennen wir bereits von Grlić und Focht. Doch Pejović geht darüber hinaus: Er stellt die Ästhetik als philosophische Disziplin selbst in Frage. Zurecht weist er darauf hin, daß der Begriff eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts ist und ein inferiores Erkenntnisvermögen, nämlich die sinnliche Erkenntnis bezeichnet. Von der Ästhetik zu unterscheiden ist die Philosophie oder Metaphysik der Kunst, deren Tradition bis Platon und Aristoteles zurückgeht.

Es scheint zunächst eine müßige terminologische Streiterei zu sein, ob man von Ästhetik oder Metaphysik der Kunst spricht, doch Pejović geht es um eine sachliche Differenz, nämlich die zwischen der Ästhetik als einer letztendlich erkenntnistheoretischen Disziplin und der ontologischen Herangehensweise bei Platon und Aristoteles, die nach der speziellen Seinsform der Kunst fragen. Diese Differenz zwischen Ästhetik als Erkenntnistheorie und Kunstmetaphysik als Ontologie sieht Pejović dann bei Hegel aufgehoben, der die Kunst als das sinnliche Scheinen der Idee auffaßt. Und genau in dieser Einheit von sinnlicher Erkenntnis und Ontologie gründet ja die hegelsche These von einem möglichen Ende der Kunst: Weil die sinnliche Erkenntnis ein inferiores Vermögen ist, büßt die Kunst ihre Relevanz ein, wenn es andere, höhere Formen der Erkenntnis gibt, in denen sich die absolute Idee offenbart.

Pejović versucht nun, diese Hegelsche These vom Ende der Kunst vom Kopf auf die Füße zu stellen. Er geht dabei von der Philosophie des jungen Marx aus und deren Anspruch, mehr als Philosophie sein zu wollen. Indem Marx die menschliche Schöpferkraft ins Zentrum seiner Aufhebung der Philosophie stellt, die Forderung aufstellt, sie müsse praktisch werden, macht er die Philosophie selbst zu einem kreativen Vermögen, sie wird Teil dessen, was sie beschreibt: Menschliche Praxis. Damit wird die Philosophie selbst zu einer künstlerischen Verfahrensweise, Philosophie und Kunst bewegen sich auf dem selben Terrain:

„Der Philosoph, der die Welt als menschliches Produkt begriffen hat, hat sich von der Metaphysik gelöst: Als hätte er der poiesis des Aristoteles, die praxis und theoria vereinigt, indem sie sie aufhebt, das Ohr geliehen, so hat Marx die einengenden Grenzen zwischen Philosophie und Kunst zerstört.“( [Pejović 1966], S.301)

Kunst ist sowenig ein Gegenstand wie Philosophie. Sie ist produktive Tätigkeit im Sinne der Ontologie des jungen Marx. Nur wenn sie in dieser Dynamik begriffen wird und nicht als gegebenes Objekt der ästhetischen Anschauung, wird man ihr gerecht. Und daraus abgeleitet besteht nun der eigentliche Witz seiner Argumentation gegen Hegel darin, daß er an die Stelle des Endes der Kunst das Ende der Ästhetik als einer bloß über Kunst reflektierenden Aktivität setzt:

„Wenn für uns die Ästhetik und die Metaphysik der Kunst Vergangenheit geworden sind, so wird die Kunst, im Gegensatz zu dem, was Hegel dachte, mehr und mehr zur Zukunft, von wo aus das Denken aufhört, ausschließlich Philosophie zu sein.“ ([Pejović 1966], S.301)

Einen ähnlichen Ansatz wählt auch Milan Kangrga, nur ist seine Argumentation philosophisch präziser – aber auch bedenklicher. Auch Kangrga kritisiert die philosophische Ästhetik, aber bei ihm wird diese Kritik mit einer Kritik der technisierten Welt verknüpft. Und diese Verknüpfung ist bei ihm nicht lose, wie bei den anderen drei Autoren des Heftes, bei denen die Notwendigkeit der Kunst als Gegengewicht zur Technik eine bloße Behauptung blieb.

Schon Kangrgas Ausgangsfrage ist deutlich radikaler als die seiner Kollegen. Er fragt, ob es überhaupt ein Verhältnis von Kunst und Philosophie geben kann, und falls ja, auf was diese Möglichkeit gründet. Zumindest die klassische Ästhetik verfehlt Kangrga zufolge jedenfalls dieses Verhältnis. Versteht man die Ästhetik als eine spezielle philosophische Disziplin, die einen speziellen Gegenstandsbereich abdeckt, eben die Kunst, dann hat man, so zumindest die Behauptung von Kangrga, von vornherein verloren. Die Ästhetik ist zuständig für das Schöne, so wie die Logik für das Wahre und die Ethik für das Gute. Damit hat die Kunst auf einmal keine Wahrheit mehr, sondern ist nur noch schön. Und diese Schönheit nimmt die Ästhetik selbst als gegeben an, weshalb sie zwar Erkenntniskriterien für die Schönheit des Kunstwerkes entwickeln, doch das Gegebensein der Schönheit nicht hinterfragen kann. Kangrga aber will die Möglichkeit des Kunstwerks und damit des Schönen selbst erörtern.

Es würde das Format eines Blogbeitrags sprengen, im Detail Kangrgas Auseinandersetzung mit Kant, die vor allem das Verhältnis des Naturschönen zum Kunstschönen thematisiert, nachzuzeichnen. Beschränken wir uns ganz unphilosophisch auf das Ergebnis dieser Auseinandersetzung: Kangrga zufolge erbt das Naturschöne seine Schönheit vom Kunstschönen. Die Bedingung der Möglichkeit des Kunstschönen selbst aber ist die menschliche Schöpferkraft, die durch keine nachträgliche Reflexion einzuholen ist. Und wenn man das einmal verstanden hat, versteht man auch die Natur, die ebenfalls nicht einfach ein Gegebenes ist, sondern das Resultat ursprünglicher menschlicher Praxis.

Dieses ursprünglich praktisch-schöpferische Welterverhältnis, das die menschliche Praxis auszeichnet und deren Resultat sowohl die Kunst wie auch die humanisierte Natur ist, wird durch die moderne Technik zerstört. Indem das durch keine Reflexion einzuholende schöpferische Tun unter das Diktat einer abstrakten Rationalität gestellt wird, nicht mehr seinen ursprüngliche Impulsen folgt, entfremdet es sich. Natur wird zum bloßen Material technischer Rationalität. Diese Entfremdung verdoppelt sich in der modernen Kunst, die gerade durch ihre Ästhetisierung den Zugang zu den ursprünglichen schöpferischen Quellen verloren hat. Indem die Ästhetik zum Regelwerk wird, zerstört sie die Spontaneität des künstlerischen Impulses. Kangrgas Kritik ist unmißverständlich:

„Die zeitgenössische Kunst produziert das und in dem, was für die Wissenschaft (in diesem Falle für die ästhetische Theorie) bereits als Gegebenes bekannt ist, so daß es sich nicht als etwas Ursprüngliches und in diesem Sinne als eine originelle Entdeckung der Wahrheit, als tätige Erschließung und Erweiterung der sinnhaltigen Welt ereignet, sondern die Kunst operiert bewußt und absichtlich innerhalb des Vergangenen, des in der Vergangenheit Erschlossenen und für das Zukünftige geschlossenen, fertigen Bereichs der Wahrheit, die dadurch zur Unwahrheit am Werk wird.“ ([Kangrga 1966], S.321)

Die falsch verstandene Ästhetik wird so zum Totengräber der Kunst. Das Verhältnis von Kunst und Philosophie muß aber völlig anders gedacht werden. Wenn die Philosophie nicht der Kunst die Regeln vorschreiben will, sondern sich von der Kunst leiten läßt, kommt sie zu einem anderen Verständnis der Natur selbst. Sie ist, richtig verstanden, ebenfalls ein nicht entfremdetes, produktives Verhalten. Das Verhältnis von Kunst und Philosophie ist somit nicht eines von Gegenstand und Erkenntnis, sondern das Verhältnis zweier gleichberechtigter Formen nicht-entfremdeter Praxis.

„Das Verhältnis von Philosophie und Kunst ereignet sich dann unter der Voraussetzung eines gegenseitigen schöpferischen Annäherns und Durchdringens als der geschichtlich-natürlichen Vermittlung und Sinnhaltigmachung, denn das Schöpferische wird nur durch die Schöpfung berührt, erfaßt und erkannt, so daß das Schöpferische das einzige wahre Medium und die Möglichkeit ihres Verhältnisses ist. Denn von Anfang an ereignet sich in ihrem gemeinsamen Grund die Tat als Möglichkeit, also als die geschichtliche Praxis, was das wahre Sein des Menschen und seiner Welt ausmacht und wodurch der Mensch ein Wesen der Praxis oder ein schöpferisches Wesen ist.“ ([Kangrga 1966], S.323)

Man liegt wohl nicht ganz falsch, daß hier weniger Marx als vielmehr Heidegger Pate gestanden hat (der auch mehrfach zitiert wird). Zwei Vorwürfe müssen deshalb gegen Kangrgas Ausführungen erhoben werden.

Zum einen geht es dabei um seine Behauptung, daß diese menschliche Schöpferkraft ein ursprüngliches Tun sei, das durch keine rationale Erörterung, noch nicht einmal nachträglich, einzuholen sei. Damit wird der irrationalen Tat, die sich vor keiner Form von Vernunft rechtfertigen muß, Tür und Tor geöffnet. Wir werden im weiteren Verlauf dieses Blogs diese irrationale Tat-Komponente sowohl in der Praxis-Philosophie wie auch der antiautoritären Bewegungen weiterverfolgen müssen.

Zum anderen steht natürlich die Frage im Raum, wie es denn zu dieser Technisierung der Welt gekommen ist, die an die Stelle der schöpferischer Tat eine abstrakte Rationalität gesetzt hat? In der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Natur, der Produktion, ließe sich dies noch durch die Entwicklung des Kapitalverhältnisses erklären. Aber warum sollten die Künstler ebenso seinsvergessen agieren? Nur weil sie einem ominösen Zeitgeist folgen? Auch dieses Problem, ob die Entfremdungstheorie nicht daran zerbricht, daß sie nicht erklären kann, warum die Menschheit sich ihrer eigenen Schöpferkraft entfremdet hat, wird weiterhin Thema sein.

Nächste Woche allerdings erholen wir uns von tiefgründigen Seins-Fragen bei Alltagsproblemen der jugoslawischen Jugend, die auch nicht einfach zu lösen sind:

„Bereits im ersten Semester habe ich mich verändert. Ich stellte fest, daß das Leben sehr kurz ist und begann nach den eigenen Vorstellungen zu leben […] Ich hörte auf, mir die Haare zu schneiden […]. Mein Vater versuchte es zunächst mit Gewalt. Das heißt, er versuchte mir die Haare abzuschneiden, während ich schlief, weshalb ich stets mit einem Kopftuch ins Bett gehe.“ ([Barber-Kersovan 2005], S.48)

Literaturverzeichnis

Barber-Kersovan, A. 2005: Vom „Punk-Frühling“ zum „Slowenischen Frühling“, Hamburg 2005.

Focht, I. (1966): „Kunst in der Welt der Technik“, in: Praxis, Jg.2 (1966), Nr.3: 280-295.

Grlić, D. (1966): „Wozu Kunst?“, in: Praxis, Jg.2 (1966), Nr.3: 267-279.

Kangrga, M. (1966): „Philosophie und Kunst“, in: Praxis, Jg.2 (1966), Nr.3: 308-324.

Pejović, D. (1966): „L’art et l’esthétique“, in: Praxis, Jg.2 (1966), Nr.3: 296-307.

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3. Juni 2011 at 15:19

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Kunst im technischen Zeitalter (1)

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„Die Künstler haben die Welt lange genug dargestellt,
jetzt geht es darum, eine neue Welt aufzubauen.“

Ivan Focht, Kunst in der Welt der Technik, 1966

Dieser erste Einstieg in die Philosophie der Praxis-Gruppe konzentriert sich auf das Heft 3/1966, das zum Thema Kunst in der Welt der Technik hatte. Es mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, daß für den Anfang ausgerechnet ein Heft zur Kunst gewählt wird. Schließlich sind die Praxis-Philosophen vor allem durch ihre kritische Wiederaufnahme der Themen des frühen Marx bekannt, und nicht so sehr durch ihre kunsttheoretischen oder ästhetischen Betrachtungen.

Es gibt drei Gründe, warum ich dennoch mit diesen vier Aufsätzen zur Kunst beginnen werde. Zum einen, weil es gerade gut zu der Diskussion bei Bersarin paßt: Bersarins aktuelle Reihe „Wozu Kunst?“ überschneidet sich mit unserem Thema: Nicht nur, daß der erste Aufsatz von Danko Grlić ebenfalls den Titel „Wozu Kunst?“ trägt. Ich hoffe außerdem, daß sich die beiden getrennten Diskussionen durchaus gegenseitig befruchten können. Der zweite Grund ist, daß die Philosophen, die sich in diesem Heft zum Thema Kunst äußern, nicht die üblichen Namen sind, die man hierzulande mit der Praxis-Gruppe verbindet: Es geht um Texte von den Zagreber Philosophen Danko Grlić, Danilo Pejović und Milan Kangrga und von Ivan Focht aus Sarajevo. In der Rezeption der Praxis-Gruppe außerhalb Jugoslawiens hat die eher aktivistische serbische Gruppe aus Belgrad deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren als die weniger aktivistischen, aber philosophisch interessanteren anderen Mitglieder der Gruppe – und das, obwohl die Praxis eine Zagreber Gründung war. Es geht mir auch darum zu zeigen, daß die philosophischen Einsichten der Praxis-Gruppe deutlich über die einer inzwischen ziemlich obsoleten Neu- (und Fehl-)Interpretation von Marx hinausgehen.

Der Hauptgrund aber, der mich dazu getrieben hat, diese Nummer der Praxis als Einstieg zu wählen, ist die diesem Blog zu Grunde liegende These, daß für die Entstehung und die Dynamik der antiautoritären Bewegungen die Kunst einen zentralen Stellenwert hatte, zumindest einen viel höheren als bei früheren politischen Bewegungen. In zurückliegenden Beiträgen bin ich bereits auf die Situationisten als wichtige Wegbereiter eingegangen. Und so lag es für mich nahe, jetzt beim Schwenk auf die jugoslawische Bewegung zu untersuchen, wie deren theoretische Stichwortgeber, die Praxis-Philosophen, das Verhältnis von politisch-gesellschaftlicher Bewegung und Kunst sahen.

Das Ergebnis war, um das gleich vorwegzunehmen, auf den ersten Blick enttäuschend. Die Kunst selbst war zum damaligen Zeitpunkt ihrer philosophischen Reflexion bereits deutlich vorausgeeilt, was ich im folgenden an den ersten beiden Aufsätzen von Grlić und Focht zeigen will (die anderen beiden werden dann nächste Woche zum Thema gemacht).

Beginnen wir jedoch mit etwas Positivem: Auch in der Diskussion über Kunst begeben sich die Praxis-Autoren in Opposition zum Stalinismus. Grlić lehnt jede Gängelung ab und propagiert eine Kunst „jenseits irgendwelcher Nachahmungen technischer, ideologischer oder sonstiger Forderungen, die wir mehr denn je alle – merklich oder unmerklich, in Form des direkten Terrors des Geldes oder der freundschaftlichen ideologischen Überredung – heute an die Kunst stellen, um sie zu erniedrigen, zu schmähen und zu verwerfen.“ (Danko Grlić, „Wozu Kunst?“, in: Praxis, 3/1966, S.279) Ivan Focht geht noch weiter uns spricht Klartext:

„Die Phase des sgn. kritischen Realismus ist vorbei, eine Tatsache, die einfach zugegeben werden muß. Heute sind schon – um mit Gehlen zu sprechen – »alle thematischen Möglichkeiten ausgeschöpft«, über die Ausbeutung der Arbeiterklasse ist alles gesagt.“ (Ivan Focht, „Kunst in der Welt der Technik“, in: Praxis 3/1966, S.295)

Damit setzen sich Grlić und Focht klar und unmißverständlich von der Doktrin des Sozialistischen Realismus ab und bekennen sich zur (westlichen) künstlerischen Moderne. Als exemplarische Künstler nennt Grlić beispielsweise Beckett und Ionescu (S.273), während Focht sich positiv auf Schönberg, Strawinsky, Webern und Bartok bezieht (S.287).

So weit, so gut und im jugoslawischen Kontext sicherlich auch ziemlich gewagt. Doch sie grenzen sich eben nicht nur vom Sozialistischen Realismus ab, sondern auch von wichtigen damals aktuellen Kunstrichtungen. So kritisiert Grlić neuere zeitgenössische Entwicklungen, indem er ihnen unterstellt, sie würden versuchen, dem außerhalb der Kunst herrschenden allgemeinen Diktat der Nützlichkeit nachzueifern:

„Im Kampf um irgendeine eigene Existenz suchte diese Kunst oder besser Pseudokunst manchmal in der Morbidität oder dem Schwank ihre Rettung, weil sie in der Illusion lebt, sie könnte zur Erheiterung, als eine gleißende Überraschung, als Schockmittel dienen. Auf diese Weise ist die Morbidität zur letzten Waffe der Kunst in ihrer fruchtlosen Bemühung um den Nachweis ihrer Nützlichkeit geworden, sei es auch nur, daß sie durch ihre Existenz einen Bonvivant amüsiert, einen Primitiven zum Lachen bringt, den Alltag ein wenig verschönt, daß sie den eingeschlummerten, desinteressierten Geschäftsmann überrascht und aufrüttelt und seinen grauen Alltag ein wenig verziert. Deshalb jault die Kunst, brüllt, duftet, läutet sie, scheidet irre Grimassen, zerhämmert Flügel, schießt aus Färbmaschinen, quietscht und stöhnt oder erheitert die Zuhörer im Konzertsaal durch totales Schweigen.“ (Grlić, ebd., S.277)

In ein ähnliches Horn stößt Focht, wenn er zeitgenössischen Produktionen vorwirft, sie stellten eine Form von Entfremdung dar, da in ihnen „Techniken in abstracto, isoliert von einem bestimmten künstlerischen Gehalt betrachtet, kombiniert und ausgedacht werden“ (Focht, ebd., S.283) Dem Ganzen legt er die merkwürdige These zu Grunde, daß es allein der geistige Gehalt sei, der das Kunstwerk ausmache; seine technische Realisierung „könnte als ein notwendiges Übel bezeichnet werden: man sollte mit ihr zufrieden sein, wenn sie nicht allzuviel verdirbt.“ (ebd.)

Damit verkennen sowohl Grlić wie auch Focht eine der wichtigsten Tendenzen der damaligen zeitgenössischen Kunst: Daß nicht mehr das Resultat des künstlerischen Produktionsprozesses, das Kunstwerk das Eigentliche darstellt, sondern der Prozeß selbst zum Thema der Kunst wird. Das Kunstwerk ist nicht länger ein quasi sakraler Gegenstand, der einfach gegeben ist, sondern es thematisiert sowohl seine Produktions- wie auch seine Rezeptionsbedingungen, es stellt sich nicht länger dar als Objekt, sondern als Prozeß.

Dementsprechend hat sich auch die Rolle des Künstlers geändert: Er ist nicht mehr das einsam schaffende Genie, das, womöglich verkannt, erst nach seinem Tod erkannt wird. Diesem romantischen Bild des einsamen Künstlers hängen aber sowohl Grlić wie auch Focht noch an. Grlić schreibt: „Der Künstler ist, sofern er in den Tiefen seines Wesens, in seiner Lebenshaltung und -deutung in der Kunst lebt (und nur dann ist er wirkich Künstler) immer vereinsamt.“ (Grlić, ebd., S.268). Und Focht dekretiert, der Geist „kann und muß sich in der Isolierung entwickeln – in der Einsamkeit.“ (Focht, ebd., S.292) Dem widersprach eklatant die künstlerische Praxis des 20. Jahrhunderts, die ganz entscheidend von Künstlergruppen geprägt wurde. Die Werke entstehen nicht mehr in Einsamkeit, sondern in der konstanten Auseinandersetzung. Nicht nur wird der Prozeß zentral, sondern dieser Prozeß ist auch kein individueller mehr, sondern er findet in konstanter Auseinandersetzung mit anderen statt.

Wenn Grlić fordert, man müsse zurückkehren „zu einer oft angefeindeten aber nie zerstörten menschlichen individuellen Intimität“ (S.278), und Focht den „Aufbau einer einheitlichen, menschenwürdigen, über den Klassen stehenden Welt […], in der geistige Werte über alle andere gestellt werden“ (S.295) einklagt, gehen sie meilenweit an dem vorbei, was in der künstlerischen Realität der 60er Jahre vor sich geht. Merkwürdig ist das schon in einer Zeitschrift, die sich Praxis nennt, aber offensichtlich an dieser Stelle die konkrete Praxis gar nicht richtig interpretieren kann.

Lesen Sie deshalb auch nächste Woche weiter, wenn wir mit Danilo Pejović und Milan Kangrga der Frage nachgehen, wie Kunst und Philosophie sich aufeinander beziehen und zu hören bekommen:

„Das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie zu durchdenken heißt zugleich seine Möglichkeit zu durchdenken.“ (Milan Kangrga, „Philosophie und Kunst“, in: Praxis, 3/1966, S.308)

Written by alterbolschewik

27. Mai 2011 at 15:17

Veröffentlicht in Jugoslawien, Philosophie

Wrestling Bash Praxis vs. DiaMat

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„Damals [1960, während der Diskussion in Bled] waren die Politiker
nicht in der Lage zu sehen, wie verhältnismäßig harmlos
der
abstrakte Humanismus war, und wie viel
mehr Ärger ihnen der Humanismus bescheren
würde, als er
konkret wurde.“

Mihailo Markovic, The Rise and Fall of Socialist Humanism, 1975

Die sogenannte jugoslawische „Praxis“-Gruppe war genauso wenig eine geschlossene Gruppe mit einheitlichen Ansichten wie die Frankfurter Schule eine einheitliche Lehrmeinung vertrat. Der Name rührt von der philosophischen Zeitschrift her, die von Mitte der 60er Jahre bis Mitte der 70er Jahre in Zagreb veröffentlicht wurde, und zwar in einer jugoslawischen und in einer internationalen Ausgabe. Natürlich gab es – wie bei der Frankfurter Schule – eine gewisse grundlegende Übereinstimmung im Denken der Gruppenmitglieder – weiter unten wird darauf noch einzugehen sein. Aber es gab kein einheitliches „Programm“, auf das sich die Praxis-Herausgeber festgelegt hätten.

Parallel zur Herausgabe der Praxis organisierte die Gruppe jedes Jahr auf der Adriainsel Korčula die sogenannte „Sommerschule“, eine Art großes Symposion, an dem nicht nur akademische Lehrer, sondern auch eine große Zahl von Studenten teilnahmen.

Weder die Zeitschrift noch die Sommerschule waren auf jugoslawische Teilnehmer beschränkt. Auf Korčula trafen sich international renommierte Philosophen, Soziologen, Historiker und andere Gesellschaftswissenschaftler, und zwar beileibe nicht nur marxistischer Provenienz. So beteiligt sich etwas – an diesem Beispiel kommt jetzt der Lokalpatriotismus des Alten Bolschewiken zum Vorschein – der Freiburger Phänomenologe Eugen Fink mehrfach an der Sommerschule mit Vorträgen, die dann auch in der Praxis veröffentlicht wurden.

Der selbe Internationalismus wurde auch in der Zeitschrift gepflegt. Im Beirat der Zeitschrift finden sich illustre Namen aus Ost und West, unter anderem neben dem bereits erwähnten Eugen Fink auch Ernst Bloch, Erich Fromm, Lezek Kolakowski, Georg Lukács, Herbert Marcuse und viele andere.

Doch 1974 war Schluß mit der Praxis und der Sommerschule auf Korčula. Die Stalinisten im Apparat hatten endgültig die Nase voll von einer Gruppe von Professoren, die eine pluralistische marxistische Diskussion nicht nur propagierten, sondern seit einem Jahrzehnt auch konsequent in die Praxis umsetzten. Das internationale Renommee, das Sommerschule und Praxis brachten, wog in den Augen des Apparats nicht mehr den echten oder vermeintlichen Ärger auf, den diese Leute verursachten. Die Praxis und die Sommerschule wurden auf die übliche jugoslawische Art verboten: Es wurden ihnen einfach der Geldhahn zugedreht. Außerdem sollten die Professoren aus den Universitäten ausgeschlossen werden. Den Anfang machte die serbische Gruppe: Acht Professorinnen und Professoren aus Belgrad wurden ihres Universitätspostens enthoben; und es waren wahrscheinlich nur die vehementen internationalen Proteste, die verhinderten, daß in Zagreb, Ljubljana oder Sarajevo ähnliches geschah.

Doch dies alles war nur der Endpunkt eines langen Kampfes, der bis in die 50er Jahre zurückverfolgt werden kann.

Anfang der fünfziger Jahre wurden in den verschiedenen jugoslawischen Teilrepubliken philosophische Gesellschaften gegründet, die sich 1958 zu einem Dachverband zusammenschlossen, der Jugoslawischen Philosophischen Gesellschaft. Offizielle philosophische Doktrin des kommunistischen Jugoslawiens war der historische und dialektische Materialismus, wie er im berüchtigten „Kurzen Lehrgang“, der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) von Stalin kanonisiert worden war.

Philosophisch war dieser „historische und dialektische Materialismus“ auf dem Stand der Materialisten des 18. Jahrhunderts zurückgefallen:

„Der marxistische philosophische Materialismus [geht] davon aus, daß die Materie, die Natur, das Sein die objektive Realität darstellen, die außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm existiert, daß die Materie das Primäre, das Ursprüngliche ist, das Bewußtsein aber das Sekundäre, das Abgeleitete ist, weil es ein Abbild der Materie, ein Abbild des Seins ist.“ (Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Stuttgart 1974, S.134f)

Als die Philosophische Gesellschaft im August 1960 eine Tagung zum Thema Probleme zwischen Objekt und Subjekt, Praxis und die Abbildtheorie, abhielt, kam es zum Eklat. Eine Gruppe junger Philosophen – die zumeist selbst in Titos Partisanenarmee gekämpft hatten – bewiesen gegenüber der stalinistischen Philosophie das selbe Selbstbewußtsein, wie es die Kommunistische Partei Jugoslawiens gegenüber der Kominform gezeigt hatte. Die Abbildtheorie wurde in Grund und Boden kritisiert. Drei Argumente gegen die Abbildtheorie wurden während der Diskussion in Bled der marxistischen Orthodoxie um die Ohren gehauen:

„Erstens, sie ignoriert die gesamte Erfahrung der klassischen deutschen Philosophie und fällt auf den Dualismus des 18. Jahrhunderts eines materiellen Objektes an sich und eines geistigen Subjekts zurück; zweitens ist die Ansicht, daß die entscheidende Eigenschaft des Bewußtseins die Widerspiegelung ist, implizit dogmatisch – wie soll man geistige Produkte kritisieren, wenn sie per definitionem Widerspiegelungen der Realität, d.h., wahr sind? Und drittens ist diese Theorie falsch, weil es faktisch so ist, daß das Bewußtsein, weit davon entfernt, passive materielle Prozesse zu begleiten und zu kopieren, sehr oft noch nicht existierende materielle Objekte antizipiert und entwirft.“ (Mihailo Marković, Yugoslavia. The Rise and Fall of Socialist Humanism, Nottingham  1975, S.22)

Die Vertreter des stalinistischen Diamat mußten eine vernichtende Niederlage einstecken und spielten in der philosophischen jugoslawischen Diskussion zukünftig keine Rolle mehr. Den gemeinsame Bezugspunkt der siegreichen Fraktion, die keineswegs homogen war, stellte die Ontologie des jungen Marx dar, wie sie in den Pariser Manuskripten von 1844 entworfen worden war:

„Während dieser Debatte setzte sich die Ansicht durch, daß die zentrale Kategorie der Marxschen Philosophie die freie, menschliche, schöpferische Aktivität sei – Praxis. Der Dualismus von Materie und Geist, von Objekt und Subjekt wurde überwunden, in dem man zeigte, wie diese Kategorien aus dem Begriff der Praxis abgeleitet werden können. Objekte, von denen wir sinnvoll reden können, sind nicht an sich gegeben, sondern sie sind Objekte einer historischen menschlichen Welt, durch unsere praktische Aktivität geformt, vermittelt durch unser früheres Wissen, Sprache, Bedürfnisse und in der Tat die gesamte menschliche Kultur zu einem gegebenen historischen Moment.“ (Ebd., S.22f)

Diese erste siegreiche Schlacht gegen den stalinistischen Dogmatismus führte zu einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen den marxistischen Humanisten. Aus dem jährliche Treffen der Jugoslawischen Philosophischen Assoziation 1962 in Skopje ging dann der Sammelband  Humanismus und Sozialismus hervor, zu dem ein großer Teil der späteren Herausgebergruppe der Praxis beitrug.

1963 wurde die Sommerschule auf Korčula gegründet, Thema des ersten Treffens lautete Fortschritt und Kultur. 1964 erschien schließlich die erste Nummer der Praxis, auf die dann 1965 die internationale Ausgabe der Zeitschrift folgte. Den historische Höhepunkt ihrer Bedeutung erreichte die Philosophie der Praxis-Gruppe in der anti-autoritären Bewegung 1968 – sowohl in Jugoslawien selbst wie auch international. In den folgenden Beiträgen wird es jedoch erst einmal um einzelne Aspekte dieser Philosophie gehen, bevor wir uns wieder den historischen Entwicklungen zuwenden.

Lesen Sie deshalb auch nächste Woche wieder weiter, wenn Danko Grlić meint:

„Unsere Welt [braucht] die Individualität, das Unkonventionelle, den außergewöhnlichen Enthusiasmus, die Spontaneität, die aufrichtige eruptive Kraft und die humane Revolte der Kunst.“ (Danko Grlić, „Wozu Kunst?“, in: Praxis 3/1966, S.269)

Written by alterbolschewik

20. Mai 2011 at 13:09

Veröffentlicht in Jugoslawien, Marx, Philosophie

Kritik des Alltagslebens

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„Der Marxismus beschreibt und analysiert das Alltagsleben
der Gesellschaft und zeigt die Mittel, es zu verändern“

Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens (1945)

Wenn in diesem Beitrag das Verhältnis der Situationisten zum Marxismus genauer untersucht werden soll, muß zunächst eine etwas ungewöhnliche Fragestellung aufgeworfen werden. Es geht nämlich zunächst nicht so sehr darum, wie die Situationisten Marx rezipiert haben (was kompliziert genug wäre), sondern allererst einmal: Warum? Denn eigentlich ist der Bezug auf Marx und die Arbeiterbewegung ein Rätsel: Warum bezog sich eine Gruppe von Künstlern (die keine mehr sein wollten) auf den Marxismus? Und erhoffte sich die Veränderung der Gesellschaft letztlich vom Proletariat? Eigentlich paßt das überhaupt nicht. Gepaßt hätte, zumindest auf den ersten Blick, doch wohl eher ein individual-anarchistischer Ansatz.

Ein erstes Argument, das einem schnell einfallen könnte, wäre einfach die Beharrungskraft der Tradition. In den 30er Jahren hatten, angesichts des Faschismus in Italien, Deutschland und Spanien viele Künstler und Intellektuelle das kommunistische Lager gewählt – oft mit heftigen Bauchschmerzen, die aber angesichts der realen Bedrohung durch den Faschismus ignoriert wurden. Das galt auch für einen Teil der Surrealisten, in deren Tradition sich die Situationisten verstanden. Diese verbündeten sich zunächst mit dem Kommunismus Moskauer Prägung und dann mit dem Trotzkismus. Hier könnte man nun auf eine direkte Fortsetzung dieser Tradition spekulieren, doch dagegen spricht einiges.

Zum einen steht einer solchen Kontinuität die reale Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg entgegen. Asger Jorn etwa, der während des zweiten Weltkriegs in Dänemark in der Kommunistischen Partei und im Widerstand gewesen war, trat nach dem Krieg wieder aus, weil die künstlerischen Doktrinen Moskaus nicht gerade zur westlichen Kunstavantgarde kompatibel war. Die ursprüngliche Lettristische Bewegung verwarf dann auch jede Form traditioneller Politik und proklamierte stattdessen den Aufstand der Jugend (Andrew Hussey, The Game of War. The Life and Death of Guy Debord, London 2001, S.52). Faktisch hatte die künstlerische Avantgarde nach dem zweiten Weltkrieg weitgehend mit dem Kommunismus gebrochen. Die Lettristische Internationale, Debords linksradikale Abspaltung von der ursprünglichen Lettristischen Bewegung, griff jedoch wieder auf eine leninistische Klassenkampfrhetorik zurück.

Exemplarisch wird dies an einem Streit mit den Restbeständen der Surrealisten sichtbar. 1954 wollte die Lettristische Internationale zusammen mit den Surrealisten Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag von Rimbaud stören. Es sollte ein gemeinsames Flugblatt verfaßt werden, über dessen Text es zum Streit kam. Konkret ging es um folgende Textpassage:

„Eine „unparteiische“ Literaturwissenschaft kann es in einer auf Klassenkampf aufgebauten Gesellschaft nicht geben. Die gesamte Kritik benützt auf die eine oder andere Weise die aufeinander folgenden Umwälzungen der ästhetischen Disziplinen, um die Werte der herrschenden Klasse zu verteidigen.“ (Guy Debord (Hg.), Potlach, Berlin 2002, S.294)

Den Surrealisten klang das zu orthodox-marxistisch (um präzise zu sein, die exakte Formulierung war: „stalinistischer Müll“), weshalb die gemeinsame Aktion platzte. Ich werde später noch auf diesen Flugblattentwurf zurückkommen, für hier und jetzt soll das nur zeigen, daß es sich nicht um ein Anknüpfen an die kommunistische Tradition innerhalb des Surrealismus handelte, wenn die Situationisten ihre Sache mit der der Arbeiterklasse verbanden.

Stattdessen muß das Augenmerk auf einen ganz anderen, wichtigen Einfluß auf die Theorie der Situationistischen Internationale gerichtet werden, nämlich auf die Theorien von Henri Lefebvre. Insbesondere dessen sehr erfolgreiche Kritik des Alltagslebens von 1945 beeinflußte die Theorien der Situationisten entscheidend.

Henri Lefebvre, 1901 geboren, tummelte sich selbst in den zwanzigr Jahren im Umfeld des Surrealismus, bevor er 1928 Mitglied der Kommunistischen Partei wurde (die ihn dann 1958 ausschloß). In der Kritik des Alltagslebens führt er sich als Kritiker der Elche auf, denn das Buch beginnt mit einer furiosen Kritik an den Surrealisten und all ihren illustren Vorläufern wie Baudelaire, Rimbaud oder dem Comte de Lautréamont. Von ihrer künstlerischen Revolte hält er (nicht mehr) viel:

„Revolte, Protest gegen ein unerträgliches Wirkliches, Verweigerung angesichts dieser Wirklichkeit, Verzweiflung, Hoffnung auf ein menschliches Heil, das unmittelbar möglich ist, ständiger Aufbruch nach der nahen und wunderbaren Welt der Bilder und der Liebe vermischen sich in einer Wirre, die keine noch so intelligente Analyse klären kann.“ (Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens, Kronberg/Ts. 1977, S.119)

Der Kern seines Vorwurfs: Sie verwerfen die (bürgerliche) Welt in Bausch und Bogen und schaffen/imaginieren daneben eine völlig andere, neue Welt, eine Welt surrealistischer Kunst, die keine Berührungspunkte mit der realen Welt haben soll:

„Der […] Fehler der Surrealisten war, […] daß sie die erniedrigende Lebensweise des Bürgertums und die wirklichen Möglichkeiten des Menschen gleichermaßen unter das Infame einordneten.“ (Ebd.)

Der entscheidende Punkt für Lefebvre ist jedoch, daß die real existierende, niederträchtige Welt nur deshalb so niederträchtig ist, weil sie eine entfremdete Welt ist: Sie ist zwar menschliches Produkt, aber ein Produkt, das sich seinen Produzenten gegenüber verselbständigt hat und sie versklavt; in ihr regiert, um mit Marx zu sprechen, die „Herrschaft der vergangnen, toten Arbeit über die lebendige“ (Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt a.M. 1969, S.16). Die Surrealisten hätten zwar diese Entfremdung empfunden und kritisiert, aber keinen Weg aufgezeigt, sie zu überwinden. Sie hätten eine Gegenwelt entworfen, die anderen, poetischeren Gesetzen folgen soll, aber dabei die bestehende Welt der Niedertracht einfach bestehen lassen. Lefebvre zufolge aber geht es darum, genau an dieser Welt des Alltags selbst anzusetzen, sie im Hegelschen Sinne aufzuheben: Die lebendige Arbeit muß die Herrschaft der toten Arbeit abschütteln und sich als die eigentliche Macht setzen.

Hier können wir das Programm des Unitären Urbanismus wiedererkennen: Es geht nicht mehr darum, Kunst zu produzieren, sondern den menschlichen Alltag selbst umzugestalten. Das Umherschweifen als erste und einfachste Form, sich die Stadt wieder anzueignen, ist ein nur erster, experimenteller Schritt in der Umgestaltung des Alltags. Von derartigen Verhaltensweisen ausgehend muß sich dann die konkrete Veränderung des gesamten Alltags entfalten. Diese Revolutionierung des Alltags kann aber nur das Werk derjenigen Kraft sein, die auch – gegen ihren eigenen Willen – diese entfremdete Welt geschaffen hat: Das Proletariat.

Für Lefebvre und in seinem Kielwasser die Situationisten ist also nicht die Tatsache, daß das Proletariat ausgebeutet oder elend ist, der springende Punkt, der es zum natürlichen Subjekt der Revolution macht. Der Punkt ist vielmehr, daß das Proletariat, im Gegensatz zur Bourgeoisie, die schöpferische Kraft schlechthin ist, nur daß es um die Früchte seiner Schöpferkraft gebracht wird, die ihm als fremdes Eigentum gegenübertreten und von denen es beherrscht wird.

Man sieht natürlich sofort, daß diese Argumentation auf die Frühschriften von Marx zurückgeht, vor allem auf die ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844. Tatsächlich war Lefebvre der erste, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Marxschen Frühschriften in französischer Sprache zugänglich machte. Wir werden deshalb in der nächsten Folge noch einmal einen Sprung um 100 Jahre zurückmachen und uns die Marxsche(n) Revolutionstheorie(en) genauer ansehen.

Lesen Sie deshalb auch nächste Woche weiter, wenn es heißt: „Die positive Aufhebung des Privateigentums, als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d.h. gesellschaftliches Dasein.“ (Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: MEW 40, S.537)

Written by alterbolschewik

29. April 2011 at 17:54

Mal wieder Kraushaar lesen

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Sehr erhellend fand ich ja diese Beitrag, bei dem sich mir die Frage stellte, wie das denn jetzt ist und ob es nicht an der Zeit sei, zumindest teilweise den ursprünglichen Impetus der 68er wieder aufzugreifen – unter veränderten Zeitzeichen latürnich:

http://www1.bpb.de/publikationen/N86ETU,2,0,Denkmodelle_der_68erBeweg

Nachtrag zu einer alten Debatte

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Zu den Mucken und Tücken eines Ansatzes, um dessen Richtigkeit, Plausibilität und Reichweite Momorulez, Nörgler, T.Albert und ich uns heftigst gefetzt hatten kommt hier nochmal eine Perspektive, die das Ganze in eine neue Richtung aufspannt; ist allerdings reichlich sperriger Stoff.

http://www.wildcat-www.de/wildcat/66/w66hartm.htm