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Reine Formsache

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„Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lang es ihren Zauber erfährt“

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen

Der heutige Text fällt etwas aus dem selbstgesteckten Rahmen, paßt aber, wie ich finde, ganz gut. Zum einen setzt er eine Diskussion fort, die im Aisthesis-Blog von Bersarin begonnen wurde. Darin ging es um Adornos viel geschmähte, von mir immer vehement verteidigte Kritik am Jazz. Dank ziggev, der mehr von der Materie versteht als ich, mußte diese Diskussion nicht in Äußerlichkeiten steckenbleiben, sondern konnte sich exemplarisch an einem konkreten Musikstück, Billie Holidays Interpretation von Easy Living, entfalten. Ich demonstrierte an diesem Stück, das ziggev gegen Adornos Kritik in Anschlag gebracht hatte, daß Adornos Kritik an der musikalischen Form des Jazz völlig berechtigt ist: Die Form dieses Stückes ist eine kulturindustriell vorfabrizierte Hülle, innerhalb derer keinerlei musikalische Entwicklung stattfindet, ein völlig äußerliches 32-Takte Schema in der Aufteilung AABA (ziggev wies mir im Ausgleich dazu nach, daß meine Abqualifizierung der Harmonik als bloßen Impressionismus zu kurz griff).

Doch warum ist die Form eigentlich so wichtig? Warum reduziert sich ein Kunstwerk auf bloßes Kunstgewerbe, wenn die künstlerische Form dem Ganzen äußerlich bleibt? Die Antwort auf diese Frage ist komplizierter, als man annehmen möchte. Und sie führt uns zurück in die Zeit, in der ich letzte Woche hier im Blog stehen geblieben war, in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der bürgerlichen Kunst und Kultur, die ich im letzten Blogbeitrag als eine nicht-diskursive Form der öffentlichen Auseinandersetzung beschrieben hatte, wurde der Formbegriff im Klassizismus heilig. Und dies keineswegs nur aus rein inner-ästhetischen Gründen, sondern aus ganz handfesten politischen. Warum das so ist, versuche ich im folgenden an Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen deutlich zu machen.

Im Januar 1793 war Ludwig XVI. hingerichtet worden, Anfang Juni schlug die französische Revolution dann endgültig in eine Terrorherrschaft um, die binnen eines Jahres mehrere Zehntausend Menschen das Leben kostete. Und Schiller, der wie Hegel oder Hölderlin zunächst ein Bewunderer der französischen Revolution gewesen war, begann zur selben Zeit seine Ansichten zur Ästhetik in einer Reihe von Briefen zu entwickeln, die zunächst an den Prinzen Friedrich Christian von Augustenburg gerichtet waren, die dann aber 1795 in deutlich veränderter Form in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien.

Der Grund dafür, daß Schiller sich der Ästhetik zuwandte, hatte nichts mit Eskapismus zu tun. Der Umschlag von Freiheit in Terror, dessen Zeuge er geworden war, bestärkte Schiller in seiner Ansicht,

„daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert.“ ([2], S. 11)

Das eigentliche Problem, so Schiller, liege in der Doppelnatur des Menschen begründet, der einerseits ein sinnliches Natur-, andererseits aber auch ein abstraktes Vernunftwesen ist. Dort, wo die sinnliche Natur des Menschen triumphiert, ist er ein Wilder, wo aber die abstrakte Vernunft herrscht, Barbar. Die französische Revolution hatte den Naturstaat zerschlagen, der die wilde, sinnliche Seite des Menschen in Schranken gehalten hatte, aber der abstrakte Vernunftstaat eines Robbespierre erwies sich dann als neue Form der Barbarei. Tatsächlich lesen sich manche Passagen bei Schiller bereits wie eine Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Schiller stellt deshalb die Forderung auf, daß Natur so wenig dem abstrakten Zugriff der Vernunft unterworfen werden dürfe wie die Mannigfaltigkeit der Natur die Einheit der Vernunft unterminieren:

„Wenn also die Vernunft in die physische Gesellschaft ihre moralische Einheit bringt, so darf sie die Mannichfaltigkeit der Natur nicht verletzen. Wenn die Natur in dem moralischen Bau der Gesellschaft ihre Mannichfaltigkeit zu behaupten strebt, so darf der moralischen Einheit dadurch kein Abbruch geschehen; gleich weit von Einförmigkeit und Verwirrung ruht die siegende Form.“ ([2], S. 17f)

Und damit sind wir bei der Form angelangt, die Schiller hier unvermittelt in seinen Text einbrechen läßt. Die Form garantiert, daß Sinnlichkeit und Vernunft sich in einem ausbalancierten Verhältnis finden. Wie allerdings dieser Ausgleich faktisch zustande kommen kann, dies zu begründen bereitet Schiller ziemliche Mühe.

Zu diesem Zweck postuliert Schiller zwei menschliche Grundtriebe:

„Der erste dieser Triebe, den ich den sinnlichen nennen will, geht aus von dem physischen Daseyn des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur, und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen […]. Dieser Zustand der bloß erfüllten Zeit heißt Empfindung, und er ist es allein, durch den sich das physische Daseyn verkündigt.“ ([2], S. 47)

Diesem sinnlichen Trieb, der den Menschen in den Strudel kontinuierlicher sinnlicher Empfindungen hineinreißt, steht ein anderer, entgegengesetzter Trieb gegenüber:

„Der zweyte jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus von dem absoluten Daseyn des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur, und ist bestrebt, ihn in Freyheit zu setzen […] und bey allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten.“ ([2], S. 48)

Zwischen diesen beiden Trieben muß es einen Ausgleich geben, denn die Verabsolutierung des einen wie des anderen führt entweder in Wildheit oder Barbarei. Deshalb muß es eine Instanz geben, die diesen Ausgleich herstellt:

„Ueber diese zu wachen, und einem jeden dieser beyden Triebe seine Grenzen zu sichern, ist die Aufgabe der Kultur, die also beyden eine gleiche Gerechtigkeit schuldig ist, und nicht bloß den vernünftigen Trieb gegen den sinnlichen, sondern auch diesen gegen jenen zu behaupten hat. Ihr Geschäft ist also doppelt: erstlich: Die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freyheit zu verwahren: zweytens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicher zu stellen.“ ([2], S. 51)

Zu diesem Zweck postuliert Schiller nun einen dritten Trieb, der die Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft bewerkstelligen kann: Den Spieltrieb.

„Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt seyn, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.“ ([2], .S. 57)

So werden Sinnlichkeit und Form zueinander in Beziehung gesetzt, obwohl sie grundsätzlich unterschiedlichen Sphären angehören. Die Sinnlichkeit soll erscheinen, als ob sie nicht willkürlich sei, sondern der Form entspringe. Und die Form soll den Anschein erwecken, als ob sie sich zwanglos aus der Sinnlichkeit ergebe: So, und nur so, entsteht ästhetische Freiheit. Und an dieser ästhetischen Freiheit, am gelingenden Kunstwerk, das die spielerische Verschränkung von Sinnlichkeit und Form verwirklicht, machen wir die Erfahrung, was es wirklich heißt, Mensch zu sein:

„Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne daß die Gattung, die in uns wohnt, daran Antheil nähme […]. Die Freuden der Erkenntniß genießen wir bloß als Gattung, und indem wir jede Spur des Individuums sorgfältig aus unserm Urtheil entfernen […]. Das Schöne allein genießen wir als Individuen und als Gattung zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung.“ ([2], S. 121)

Dies ist die Utopie, die das bürgerliche Kunstwerk angesichts des Schreckens der französischen Revolution postuliert: Die Versöhnung des Allgemeinen mit dem Besonderen und umgekehrt. Sie kann aber nur gelingen, wenn die Form dem Kunstwerk nicht äußerlich bleibt, sondern aus der Entwicklung der sinnlichen Momente sich entfaltet, wie sie umgekehrt diese Momente in einen vernünftigen Zusammenhang bringt.

Und weil mir der Text schon wieder viel zu lang geraten ist, werde ich erst nächste Woche ausführen, wie sich dies diese Utopie noch einmal negativ widerspiegelt in Adornos Kritik der Kulturindustrie. Freuen Sie sich also auf nächste Woche, wenn Adorno meint:

„Unter der reicheren Oberfläche des Jazz liegt kahl, unverändert, deutlich ablösbar, das primitivste harmonisch-tonale Schema mit seiner Gliederung in Halb- und Ganzschluß und damit der ebenso primitiven Metrik und Form.“ ([1], S. 774)

Nachweise

[1] Adorno, T. W.: „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“, in: Adorno, T. W., Gesammelte Schriften Bd. 18, Frankfurt 1970ff, S. 729 – 777.

[2] Schiller, F., Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000.

Written by alterbolschewik

9. August 2013 um 14:33

Veröffentlicht in Ästhetik

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