shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Mehr als eine bloße Formalie

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„Berlins linke Faschisten grüßen Teddy, den Klassizisten“

Transparent bei der Störung eines Adorno-Vortrages am 7. 7. 1967

Letzte Woche war ich im Schweinsgalopp durch Friedrich Schillers ästhetische Theorie geprescht und hatte dabei vor allem auf den Form-Begriff abgehoben. Vielleicht noch einmal kurz zur Erinnerung: Bei Schiller besteht die Eigenart des Ästhetischen darin, daß es zwischen unmittelbarer Sinnlichkeit auf der einen und abstrakter Vernunft andererseits vermittelt. Wobei sich die Vernunftanteile des gelungenen Kunstwerkes in dessen Form niederschlagen, ohne daß dabei die sinnliche Seite des Kunstwerkes Schaden nimmt. Form und Sinnlichkeit erscheinen im Kunstwerk – anders als im richtigen Leben – so, als ob sie eine zwanglose harmonische Einheit bildeten, das eine aus dem anderen spielerisch hervorgehe wie auch umgekehrt. Das eigentliche Ziel des gelungene Kunstwerk ist für Schiller die Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem, von besonderer Sinnlichkeit und allgemeiner Vernunft.

Diese abstrakte Entkopplung von Sinnlichkeit und Vernunft, ihre unvermittelte Gegenüberstellung und künstliche Zusammenführung im Kunstwerk scheint eine Schwäche des Schillerschen Entwurfs zu sein. Die Schiller vorausgehende Philosophie der Aufklärung hatte, in der Folge von John Locke, den Descartesschen Dualismus verworfen und das Allgemeine, die Form, aus dem Besonderen, den Sinneneindrücken abgeleitet. Sinneseindrücke, einerlei ob nun im Alltag oder in der Erfahrung des Kunstwerkes, erscheinen zunächst als ganz individuelle, einmalige Vorkommnisse, auf die wir erst einmal rein körperlich reagieren. Wenn das Licht unser Auge trifft oder Schallwellen unser Ohr, dann ist das ein singuläres Ereignis. Wenn sich dann dieser Sinnenreiz wiederholt und mit vorherigen Sinneseindrücken verglichen wird, kann er Form annehmen und seine Singularität verlieren. Er wird zu einem mehr oder minder Allgemeinen und kann sich so zur Erfahrung verdichten. Das Allgemeine, die Form, ist in dieser Sichtweise einfach das zusammenfassende Resultat der sinnlichen Empfindungen, geht aus diesen zwanglos hervor.

Tatsächlich war Schiller über diese naive Art und Weise, das Allgemeine zu denken, hinaus. Mit Kant ist er der Auffassung, daß die Form, das Allgemeine, der sinnlichen Erfahrung vorausgehen muß. Nur wenn wir bereits über das Allgemeine, die Form verfügen, ist es uns möglich, das Besondere, den Sinnenreiz, mit anderen Sinnenreizen in Verbindung zu bringen. Die Form ist die Voraussetzung von Erfahrung, nicht deren Resultat.

Daran knüpft auch Adorno mit seinem Formbegriff an. Auch ihm ist das Allgemeine, die Form, dasjenige, das der individuellen Erfahrung vorausgeht. Dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied zu Schiller: Das Allgemeine, das Adorno meint, ist ein historisch gewordenes Allgemeines. Und damit nimmt er eine gewisse Vermittlungsposition zwischen dem Denken der Aufklärung und dem kritischen Rationalismus Kants ein: Ja, der individuellen Erfahrung geht die Allgemeinheit der Formen voraus, doch diese Formen sind selbst historisch gewordene, im Gattungsprozeß der Menschheit entstanden.

Allerdings ist der Prozeß, der aus puren Sinnenreizen die Formen des Verstandes formt, bei Adorno weniger optimistisch als bei Locke und seinen Nachfolgern aufgefaßt: Es ist die Furcht vor der Natur, vor den unheimlichen Schemen und Geräuschen, die auf unsere Vorfahren ungefiltert eindrangen, die zur Herausbildung des Formenarsenals führten, mittels dessen das Unheimliche der unvermittelten Konfrontation mit der Sinnlichkeit gebannt wurde. Und so verfolgen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung ([3]) bis in die subtilsten und abstraktesten Regungen der Vernunft deren Ursprung aus der Furcht vor der Natur zurück.

Was für die Formen der Rationalität, die die Sinnlichkeit der erscheinenden Natur in starre Schemata zu pressen sucht, festgestellt wurde, gilt, mit einigen Veränderungen auch für Adornos Auffassung künstlerischer Formen. Auch diese sind Sedimente eines historischen Prozesses, der ebenso ambivalent ist wie der wissenschaftlicher Erkenntnis:

„Alle Formen der Musik […] sind niedergeschlagene Inhalte. In ihnen überlebt was sonst vergessen ist und unmittelbar nicht mehr zu reden vermag. Was einmal Zuflucht suchte bei der Form, besteht namenlos in deren Dauer. Die Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente. Keine Verhärtung der Form, die nicht als Negation des harten Lebens sich lesen ließe.“ ([1], S. 47f)

Die historisch überlieferten künstlerischen Formen sind das Material, an denen der Künstler sich abarbeitet, indem er sie mit seiner eigenen Subjektivität konfrontiert und in dieser Konfrontation die Sedimente aufsprengt und ihren Sinn wieder freilegt. Der Sinn künstlerischer Auseinandersetzung ist es nicht, das vorgegebene Formenmaterial kritiklos zu übernehmen und seine eigene Subjektivität in diese Formen hineinzugießen. Das wäre, wie der Nörgler zurecht erklärte, bloßes Kunsthandwerk. Hier kommt weder die Subjektivität noch die Form zu ihrem Recht. Sondern es geht darum, die versteinerte Form wieder so aufzusprengen, daß Subjektivität und Form einander nicht mehr fremd bleiben, sondern eine ausdifferenzierte Totalität bilden. Diese Verlebendigung der Form, zwanglos vereinigt mit der Verallgemeinerung der Subjektivität, realisierte sich für Adorno exemplarisch auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Kultur: Beethoven ist ihm der Inbegriff dieser Versöhnung von Allgemeinen und Besonderen, von historisch gewordener Form und exemplarischer Subjektivität.

Damit scheint sich Adorno nicht allzuweit von Schillers Klassizismus entfernt zu haben: Für beide ist das gelingende Kunstwerk eines, in dem Besonderes und Allgemeines in der Totalität des Werkes als versöhnt aufscheinen. Doch es gibt einen ganz entscheidenden Unterschied. Dieser liegt in Adornos Beharrung darauf begründet, daß sowohl das Allgemeine, die künstlerischen Formen und Formelemente, wie auch das Besondere, die Subjektivität des Künstlers, historischer Natur sind. Schiller predigte ein zeitloses Ideal, das sich ihm exemplarisch in der griechischen Kunst materialisierte und das er seinen Zeitgenossen als Modell vor Augen stellte. Für Adorno hingegen ist Beethovens künstlerische Leistung selbst wieder an die historischen Umstände gebunden: Die Emanzipationsbestrebungen der französischen Revolution und die damit verbundenen Hoffnungen, diese Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem nicht nur in der Kunst zwischen Form und Subjektivität, sondern auch im Politischen, zwischen Bürger und Staat zu verwirklichen.

Der historische Zeitpunkt verstrich, die bürgerlich-kapitalistische Welt mutierte zu einem imperialistischen Moloch, in dem die Individuen zum Material einer unmenschlichen Maschinerie wurden, die in den Schrecken des ersten Weltkriegs die Utopie des bürgerlichen Individuums unwiderruflich auslöschten. Diese historisch-politischen Veränderungen gingen an der Kunst nicht spurlos vorbei. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert spaltete sich für Adorno, zeitgleich zum Niedergang des Bürgertums, die Kunst in zwei divergierende Stränge auf, die jeder für sich an dieser Spaltung krankten.

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß Adorno die Musik der Wiener Schule und insbesondere Schönbergs als den Gipfel der musikalischen Entwicklung feierte, während er die Populärkultur, insbesondere den Jazz aus tiefstem Grunde verabscheute. Tatsächlich sind für Adorno die Wiener Schule und der Jazz zwei Seiten einer Medaille, Ausdruck der selben historischen Problematik. Es ist dies die Problematik, daß ein Werk, wie es sich Schiller erträumt hatte, als Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, historisch nicht mehr möglich ist. Nicht Schönberg ist der Gipfel der musikalischen Entwicklung, sondern Beethoven. Und die Musik Schönbergs ist ebenso wie der Jazz ein Symptom dafür, daß die historische Entwicklung Werke wie die Beethovens unmöglich gemacht hat.

Natürlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen der Wiener Schule und dem Jazz, doch zunächst ist gegen das Gerücht festzuhalten, daß es für Adorno eine wichtige Übereinstimmung gibt: Beiden ist ein Bruchstück dessen zugefallen, was die Einheit der bürgerlichen Kunst ausgemacht hatte. Der Jazz – oder allgemeiner: die Populärkultur – übernimmt das Erbe der Form. Die Populärkultur bewegt sich im Allgemeinen, den wieder und wieder stereotyp wiederholten immergleichen Formen, die in minimalen Varianten ständig auf’s neue ausgewalzt werden. Der Wiener Schule fiel hingegen das Erbe der Subjektivität zu – einer so radikalen Subjektivität, daß sie, in Ermanglung eines Anschlusses an die Allgemeinheit, jede gesellschaftliche Resonanz verlor. Und so leiden beide, auf je unterschiedliche Art und Weise, an dieser Spaltung.

Doch bei aller spiegelbildlichen Übereinstimmung dürfen natürlich die ganz wesentlichen Unterschiede nicht außer acht gelassen werden. Die Populärkultur fühlt sich in ihrer kastrierten Rolle pudelwohl und sieht keinerlei Grund, daran etwas zu ändern. Und wenn Künstler innerhalb dieses Stranges der künstlerischen Entwicklung anfangen, das System in Frage zu stellen und sich mit ihrer Subjektivität gegen das kulturindustrielle Formdiktat stellen, ereilt sie recht schnell das Schicksal der künstlerischen Avantgarde: Sie werden in Nischen abgedrängt, die sie ihrer gesellschaftlichen Wirkung berauben.

Die Avantgarde hingegen ist, bei aller Verkrüppelung, für Adorno die einzige Möglichkeit, gegen die Übermacht des Systems die rebellische Kraft der Subjektivität zu bewahren. Wobei es konstanter Wachsamkeit gegenüber dem ästhetischen Material bedarf, um sich von diesem nicht überwältigen zu lassen, seinen subjektiven Eigensinn gegen die Macht des Abgedroschenen, Banalen zu behaupten. Was die Avantgarde im besten Fall hervorbringt, sind deshalb keine Werke im klassischen Sinn mehr, sondern Protokolle der Anstrengung, sich gegen den Zwang zur Konformität zur Wehr zu setzen. Im Gegensatz zu den klassischen Werken offenbaren sie die Male der Verstümmelung, sind Zeichen dafür, daß eben nicht alles gut ist, wie die Populärkultur frisch, fromm, fröhlich und frei behauptet. Doch zu mehr sind sie nicht in der Lage, und Adorno wäre der letzte gewesen, der dies nicht bedauerte. Nur darin liegt für ihn die Größe der Wiener Schule und das ist der Grund, warum Adorno den Jazz vehement kritisierte – und nicht, weil er ein verklemmter Snob war, der unfähig war, zu Glenn Miller auf der Tanzfläche mit dem Arsch zu wackeln.

Damit schließe ich diese Exkurs zur künstlerischen Form ab und wende mich ab nächster Woche einem komplett anderen Thema zu. Freuen Sie sich also darauf, daß Betty Friedan meint:

„Frauen sind Menschen, keine ausgestopften Puppen und keine Tiere.“ ([2], S. 47)

Nachweise

[1] Adorno, T. W.: „Philosophie der neuen Musik“, in: Adorno, T. W., Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt 1975.

[2] Friedan, B., Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau, Reinbek 1970.

[3] Horkheimer, M. & Adorno, T. W.: „Dialektik der Aufklärung“, in: Horkheimer, M., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt 1987, S. 11 – 290.

Written by alterbolschewik

16. August 2013 um 16:27

Veröffentlicht in Ästhetik, Theodor W. Adorno

3 Antworten

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  1. Vielen Dank für diese konzise Zusammenfassung von Schiller bis zur Wiener Schule.

    Aber es stimmt nicht, dass der Jazz es sich gemütlich im Formgehäuse eingerichtet hätte. Sondern es gibt und gab immer wieder diese Ausfluchtsmomente, und gerade jene, die soetwas unternahmen, erregten Aufmerksamkeit und haben bis heute Rang und Namen.

    Adornos Kritik ist, sofern er sich auf musikalische Ereignisse und nicht auf die Ideengeschichte seit Schiller bezieht, einfach trivial. Natürlich hat er es nicht absehen können, dass die Jazzer sich wie verrückt in der Folge Lester Youngs an „der Form“ – dem Heiligsten in Jazz – sich abarbeiten würden, bis hin zur existenziellen Krise (Ch. Parker), und dann noch weiter, aber sich für diesen Stil sich sensibilisiert habend hätte er diese innermusikalische Bewegung (um das Wort „Dialektik“ zu vermeiden) auch schon zu Lebzeiten von Billie Holioday aufspüren können.

    So, wie Du Adornos Position darstellst, hätte der Jazz gar nicht anders als unter dem adornischen kritischen Edikt figurieren könnnen. Und genauso läuft es dann auch ab. Das Urteil steht von vorneherein fest.

    Ihm geht es um Beethoven, gut, aber warum äußert er sich in seinem hochtrabenden Stil, für den wir ihn alle lieben, über einen Stil, von dem er offensichtlich nichts versteht?

    Adoro hat Angst. Eher ist Adornos Text selber soziologisch-historisch interessant, als dass wir von ihm anhand seiner „Analysen“ etwas über unsere Gesellschaft und ihre Geschichte lernen könnten. Seine Texte, zumindest die zum Jazz, sind die Flucht in die Form.

    Sein Schema, das für die Höhepunkte der bürgerlichen Kunst passt, Beethoven, passt vielleicht noch für die Romantiker, die zu kritisieren wären, wegen der bevorzugten Liedform, AABA, immer wieder bei Schumann und Schubert; Adorno ist aber selbst zivilisationskrank, er erkennt nicht, dass die Angst im Jazz sich in die Expressivität flüchtet, und dort – nicht nur im Wechselverhältnis zur Form – zu versöhnenden Momenten findet.

    Ich schlage vor, Adornos blasse und dürrbeinige „Analysen“ des Jazz einfach beiseite zu lassen und sich daher mehr auf die Romantik zu konzentrieren. Deren Deutschtümelei und restaurativen Elemente. Da kommen wir weiter. Musiksoziologisch hat er da beim Jazz jedenfalls vollkommen ins Falsche Fass gegriffen.

    Und ich gebe zu: Mahler ist für mich ein etwas zu großer Happen. Nichts aber gegen die Blue Note in das Lied der Erde. Da würde ich mich eher Schritt für Schritt an Wagner heranwagen (der Tristan Akkord ist eine exclamatio auf einem Halbschluss). Aber seltsam, die theoretischen Mittel, die ich erwarb, um zumindest im Jazz klarzukommen, reichen, wie ich feststellte, für eine erste Analyse und Interpretation eines romantischen Klavierstückes von Schumann vollkommen aus. (Und gerade dort immer wieder: AABA)

    ziggev

    17. August 2013 at 16:41

    • Eigentlich hätte ich gedacht, daß wir, als die Debatte noch drüben bei Bersarin stattfand, schon weiter gewesen wären. Ich möchte das auch nicht noch einmal aufwärmen, deshalb hier einfach einige Präzisierungen:

      Form meint bei Adorno nicht nur die musikalische Großform, wie etwa Sonatenhauptsatzform oder Liedform AABA, sondern alle die musikalischen Elemente, die nicht dem Werk als einem Besonderen angehören, sondern die allgemein sind. Das sind auch bestimmte Weisen der harmonischen Modulation, rhythmische Figuren und ähnliches. Wenn diese unreflektiert, als einfach zur Verfügung stehender Fundus verwendet werden, wenn sich die Musiker keine Rechenschaft darüber ablegen, wo das herkommt, welche historisch-künstlerischen Konnotationen das hat, machen sie einfach ihre Arbeit schlecht. Und 99,9% der sogenannten populären Musik – in unserer Zeit so gut wie zur Zeit Adornos – besteht aus solchen unreflektierten Stereotypen. Oder noch schlimmer: Die Produzenten dieser Musik wissen sehr genau, wie abgedroschen das Material ist, das sie einsetzen und spekulieren gerade deshalb darauf, daß das bei einem Publikum von musikalischen Analphabeten gut ankommt. Ich denke nicht, daß an diesem Befund Adornos zu rütteln ist.

      Zum zweiten: Wie ich bereits im Artikel geschrieben habe, gibt es auch im Bereich der populären Musik Versuche, aus diesem Diktat der Form auszubrechen. Gerade der Jazz hat sich in dieser Hinsicht seit den 30er Jahren ziemlich freigespielt. Damit hat er aber auch das Schicksal der bürgerlichen Avantgarde geteilt: Billie Holliday erreichte noch ein Massenpublikum, während ein Name wie – sagen wir einfach mal – Don Cherry nur noch eingefleischten Jazzenthusiasten ein Begriff ist. Sein öffentlicher Bekanntheitsgrad dürfte sich von dem Pierre Boulez‘ kaum unterscheiden.

      Zum Dritten: Wenn meine Darstellung von Adornos Position etwas schematisch wirkt, dann liegt das an meiner Zusammenfassung, nicht an Adornos Ausführungen. Trotz aller Polemik – die seinen Texten zum Jazz sicherlich auch zugrunde liegt – hat er sich mit der Musik um einiges genauer auseinandergesetzt als viele, die sich als Verteidiger des Jazz gegen Adorno aufschwingen. Ich will jetzt hier nicht noch einmal Beispiele dessen aufzählen was Adorno ganz konkret an musikalischer Kritik aufführt; aber das geht alles musikalisch deutlich mehr in die Tiefe als irgendwelches Gestammel über den „Groove“, von dem Adorno nichts verstanden habe. (Nur so nebenbei für die musikalischen Analphabeten: „Groove“ hat nichts mit Kunst zu tun, gehört nicht in eine ästhetische Auseinandersetzung, sondern ist pures Handwerk. Ein Jazz- oder Rockmusiker, der sein Handwerk versteht, kann auch Alle meine Entchen mit einem Groove spielen, daß das Publikum dazu mit dem Arsch wackeln muß.)

      Und zum Abschluß: Ästhetische Kritik ist keine moralische Wertung. Wer lieber Count Basie als Arnold Schönberg hört (wozu ich mich auch zähle) ist deswegen kein schlechterer Mensch. Man kann sich auch an musikalisch minderwertigerem Material erfreuen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen. Im Gegenteil: Der Witz ist ja, daß einem so jemand wie Schönberg ganz bewußt die naive Freude an der Musik vermiest, weshalb es äußerst verwunderlich wäre, wenn jemand behauptete, er würde lieber Alban Berg als Duke Ellington hören. Kunst, die ihren Namen verdient, macht nicht einfach und unvermittelt Spaß. Vielmehr kostet es Arbeit, sich damit auseinanderzusetzen. Allerdings hat diese Arbeit dann zum Resultat, daß man mehr Befriedigung aus der Musik zieht, als wenn man einfach auf der Tanzfläche herumhopst. Doch wie weit man mit dieser Arbeit gehen will oder nicht, ist jedermanns eigene Entscheidung.

      alterbolschewik

      18. August 2013 at 15:57

  2. alerbolschewik, ich fand u. finde ja nicht, dass Du den Begriff der Form im Rückgriff auf Schiller unzulänglich dargelegt hättest, im Gegenteil kann ich damit sehr gut etwas anfangen. Mir ist natürlich auch klar, dass eine Kritik an Adornos Jazz-Kritik letztere verfehlt, die ledglich mit „Körperlichkeit, „Arschgewackel“ ankommt, und nun kunsthandwerkliche Momente ins Feld zu führen bemüßigt ist – auch in Deiner Darstellung ist auch m. E. Adornos Position hinreichend klar.

    Mein Verdacht bleibt aber: Es ist ja weniger Deine Darstellung, die den Eindruck erweckt, es werde schematisch vorgegangen. Vor einigen Jahren habe ich mal ein wenig in seiner Polemik aus den 30er Jahren geblättert, ansonsten bin ich auf die im Verlauf der Diskussion angeführten Zitate angewiesen. Haber ich ja bereits bei bersarin angeführt:

    Terminologisch zu vage – hier geht mit ihm sein polemisches Temperament durch; ihm reichen offenbar Ausdrücke wie „Dreiklang“, „Synkope“ usw. bereits als (diffamierende) Signalwörter aus. Dadurch am Gegenstand nur wenig, wenn überhaupt, ausweisbar.

    Dass er sich also wirklich mit dem in Frage stehenden Phänomen auseinandergesetzt hat – sofern er dies getan hat, vielleicht sogar eingehender als jene, die von „Groove“ stammeln, wie Du Dich auszudrücken beliebtest, geschenkt – , halte ich für fraglich. Bei Dir tritt das – sorry – als bloße Behauptung auf.

    Adornos Vorgehen mag differenzierter sein; mich ärgert aber die schematische Auffassungsweise seiner Verteidiger: Wenn immer wieder genüsslich (Nörgler) von „Kunsthandwerk“ gesprochen wird (der abqualifizierende Beiklang ist kaum zu überhören), als müsste irgendjemand Uneinsichtigem sein musikalisches Analphabetentum vorgehalten werden. Nun, Deine kurze Geschichte des Formbegriffs ist hinreichend, um ihn mit Leben zu erfüllen, damit er die notwendigen Konturen gewinnt, eine einfache Übung, sich klarzumachen, was unter „Allgemeines“, „Besonderes“ zu verstehen sei. Also „Kunsthandwerk“ unter diesen Gesichtspunkten: So What? Natürlich ist „Groove“ nichts als Kunsthandwerk – es hat nie jemand etwas anderes behauptet. (Groove hat zuerst sehr viel mit Präzision zu tun – und für diese müssen die meisten einfach üben.)

    Adorno einfach zu zitieren, reicht m. E. schlicht nicht aus. (Desh. ja auch noch einmal danke, dass Du die zugrundeliegende Begrifflichkeit entstehungsgeschichtlich noch einmal nachgezeichnet hast.)

    Ist es wirklich Adornos polemischem Impetus zuzuschreiben, dass er den Begriff der Synkope unzutreffend anbringen will? – So muss man ihn nämlich wohlwollend lesen. Aber dann bleiben wir im stilfremden Paradigma. Ich bleibe also beim „schematischen“ Zugang. Einigen scheint es zu gefallen, vermeintlich Adornos Polemik sich zueigen zu machen. Das nenne ich meinerseits Kunsthandwerk.

    Adorno figuriert als „zu Verfügung stehender Fundus“, auf den „unreflektiert“ zurückgegriffen wird. Den Jazz kurzerhand der Populärmusik – wie sie im 20. Jahrhundert unter kapitalistischen Bedingungen als Massenphänomen in Erscheinung trat – zuzurechnen, ist eben jenem schematischen Denken geschuldet. Die gattungssystematische Zuordnung ist zwar nicht falsch. Und auch wenn es sich um vergleichweise triviale Konzepte handelt, handelt es sich eben nicht um Jazz, wenn unreflektiert auf jenen (im Jazz) zur Verfügung stehenden Fundus zurückgegriffen wird. Natürlich ist Jazz in großenTeilen im buchstäblichen Sinne Kunsthandwerk. Nur wenn auf diesen Fundus, diese eigentümliche musikalische Praxis zurückgegriffen wird ohne das Wissen um deren Herkunft, um die historisch- künstlerischen Konnotationen, die die verschiedenen Elemente mit sich führen, dann ist die Chance vergeben, sich in diesem Idiom artikuliert vernehmbar zu machen, eben jene minimalen Abweichungen und Unterscheidungen zum Tragen zu bringen, welche dann eben jenes Phänomen auszeichnen, und die ich als unerlässlich ansehe, damit überhaupt von Jazz gesprochen werden kann. (Ich denke hier u.A. an Percy Heath, der in Jazz-Kreisen als Traditionalist, „tief in der Tradition stehend“ gilt, andererseits jedoch mit dem Modern Jazz Quartett europisch geprägte Kammermusik – z.B. die Fuge – für den Jazz fruchtbar machte.)

    Noch ein paar Anmerkungen: Es stimmt schon, wir drehen uns ein wenig im Kreise. Dennoch möchte ich noch ein paar Punkte nennen, die bereits bei bersarin von mir angeführt wurden. Und in der Tat scheinen Deine Präzisierungen nach meinem letzten Kommentar erforderlich. Ebenfalls sehe ich schon, dass es nun an mir wäre, bei Teddy noch einmal genauer hinzulesen.

    Meine letzten Ausführungen bezogen sich auf den „nichteuropäischen“ Anteil im Jazz, jenem Zwitterwesen. Allerdings konnten so manche Protagonisten – auch und gerade im frühen Jazz – auf eine vernünftige musikalische Ausbildung zurückgreifen. (Rag-Time, C. Hawkins, L. Young.) Du hast natürlich Recht, dass hier trotzdem auf formaler Ebene die Tendenz zum Kunsthandwerk nicht von der Hand zu weisen ist/war. Sich aber allein auf das „Great American Songbook“ (also Standards, komponiert von mit allen Wassern gewaschenen Komponisten vom Broadway oder aus Hollywood) zu beziehen – um dann die Formen im Jazz als insgesamt als Stereotype zu diagnostizieren, greift m. E. zu kurz.

    Nur weil ich selber Vorbehalte gegen „stammelnde Groove-‚Theoretiker'“, Adepten irgendeiner obskuren „Körperlichkeit“ habe, heißt das noch nicht, dass ich aufhöre, skeptisch zu sein gegenüber allzueifrigen, kunsthandwerkliche Adorno-Adaptionen, die dazu noch nicht hinreichend präzisierte Einwendungen oder gar klare Fehleinschätzungen tradieren. Desh. tat ja auch das Geplänkel mit Dir bei bersarin so gut, weil wir einfach mal ausprobiert haben, was dabei herauskommt, wenn man einmal in medias res geht.

    Wollte ich nur mal gesagt haben; wir müssen also von mir aus hier nicht unbedingt endlos weiterdiskutieren. – Du hast ja vermutlich genug mit Deiner lesenwerten Reihe „Öffentlichkeit und Filterblasen“ zu tun.

    ziggev

    19. August 2013 at 16:24


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