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Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Öffentlichkeit und Filterblasen (1)

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„Da der öffentliche Raum meist durchquert wird, um etwas zu erledigen, sollte es keine großen Hürden geben, ihn zu betreten.“

Esme Grünwald, „Gucken, aber nicht anfassen“

Vor ein paar Wochen habe ich den Versuch unternommen, den eigentlich erst mit dem Internet entstandenen Begriff der „Filterblase“ über seinen eigentlichen Gegenstandsbereich hinaus fruchtbar zu machen. Im eigentlichen Sinn wird damit eine Form von technisch induziertem Autismus beschrieben: Indem das immense Informationsangebot des Internets – absichtlich oder unabsichtlich – auf schon Bekanntes hin gefiltert wird, entsteht mit der Filterblase eine beschränkte Weltsicht, angesichts derer diejenigen, die außerhalb dieser Blase stehen, nur den Kopf schütteln können.

Ich hatte diesen Begriff bei der erwähnten Gelegenheit aus seinem Internetkontext herausgelöst und auf die radikale Linke angewandt. Konkret ging es mir um die Kritik einer Veranstaltungsreihe, die es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, Perspektiven zur Überwindung des Kapitalismus zu diskutieren. Doch statt Perspektiven aufzuzeigen und zu diskutieren, blieb die Diskussion über weite Strecken in einer Kommunikationsblase stecken, die mehr an Diskussionen aus den 70er Jahren erinnerte als an die Gegenwart.

Damals ging es mir vor allem um eine Kritik an dieser Form mehr oder minder autistischer Diskussion in einer Filterblase. Im diesem und den folgenden Artikeln will ich jedoch versuchen, diesen Begriff daraufhin abzuklopfen, ob er nicht nur in kritischer Absicht verwendbar ist, sondern ob sie dazu taugt, Veränderungen in der Art und Weise, wie sich politische und soziale Bewegungen seit den 60er Jahren verstanden, zu beschreiben.

Im historischen Rückblick trat das Filterblasen-Phänomen ganz massiv zu Beginn der 70er Jahre auf, als Reaktion auf einen als bedrohlich empfundenen Zustand ideologischer Uneindeutigkeit. Ich habe das bislang immer nur als einen Zerfall der Bewegung beschrieben, als ein Auseinanderbrechen. Doch wenn wir die Filterblasenmetapher auf diese Zeit anwenden, dann ist es nicht nur ein Auseinanderbrechen, sondern gleichzeitig auch ein Zusammenballen. Ein Auseinanderbrechen ist es auf die Gesamtheit der Bewegung, doch ging dieser Prozeß auch einher mit der Bildung harter ideologischer Kerne, von denen jeder seine eigene Filterblase produzierte.

Es ist vielleicht gar nicht so abwegig, sich das Auftreten der antiautoritären Bewegungen in der zweiten Hälfe der 60er Jahre als eine Form sozialen Urknalls vorzustellen: Der gesellschaftliche Zwang zur Konformität, der in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg herrschte, hatte einen weltanschaulichen Druck produziert, der sich in einer jähen Explosion entlud. Die scheinbar universell vorherrschende Meinung, die parlamentarische Demokratie des sogenannten freien Westens sei die einzig sinnvolle Möglichkeit gesellschaftlicher Organisation, zerplatzte in tausend Stücke. Und der dadurch frei gewordene Raum füllte sich mit einem ungeheuren Reichtum unterschiedlichster Vorstellungen von gesellschaftlichen Alternativen: Marxismus-Leninismus, Buddhismus, Sexpol, Rätekommunismus, Anarchismus, Trotzkismus, Feminismus, Situationismus, Propaganda der Tat, Syndikalismus, Operaismus – vergessenes und/oder an den Rand gedrängtes Wissen über gesellschaftliche Alternativen wurde durch diese Explosion aus seinem verborgenen Dasein herausgeschleudert, prallte in unvermuteten Konstallationen aufeinander und richtete ein herrliches ideologisches Chaos an, das in einem Nebel von Räucherstäbchen und Haschischwolken durch den öffentlichen Raum zog. Für einen Augenblick schien alles unklar und damit alles offen.

Dabei entstand – zumindest in den westlichen Gesellschaften – erneut etwas, was eigentlich seit dem 2. Weltkrieg verlorengegangen war: Eine politische Öffentlichkeit. Politik war auf einmal wieder etwas, das jeden und jede anging, etwas, das viele nicht länger gewillt waren, an (Partei-)Politiker zu delegieren. Der öffentliche Raum wurde wieder zu einem politischen Raum in dem sich unterschiedlichste Vorstellungen dessen, wie Gesellschaft auszusehen habe, aufeinander prallten.

Daß sich die Bürger in der Nachkriegszeit aus dem öffentlichen Raum ins Private zurückgezogen hatten, hatte eine ganze Reihe von Gründen. In Deutschland kann man beispielsweise auf den Mißbrauch des öffentlichen Raums durch die Nazis verweisen. Das erklärt die im Vergleich zu anderen Staaten doch sehr vehementen Auseinandersetzungen in der BRD. Doch das Phänomen war ja ein internationales. Zwei technische Erfindungen scheinen mir für den Zerfall des öffentlichen Raumes in den 50er und 60er Jahren wichtig zu sein: Das Fernsehen und das Auto. Beide hatten den beabsichtigten oder unbeabsichtigten Nebeneffekt, die Begegnung im öffentlichen Raum zu verhindern. Wer sich im Auto von A nach B bewegt, geleitet von den Signalströmen der Verkehrszeichen und Ampeln, begegnet niemand mehr. Jeder sitzt abgekapselt in seiner Blechschachtel und nimmt die anderen bestenfalls noch als Verkehrshindernis wahr. Das Fernsehen verstärkte diesen Effekt, indem es Formen der Unterhaltung ersetzte, bei denen die Menschen das Haus verlassen mußten. Man ging nicht mehr am Samstag zum Tanz oder ins Kino, man sah sich die Familienshow im Fernsehen an.

Die antiautoritären Bewegungen brachten die „formierte Gesellschaft“, wie es im Jargon der Zeit hieß, zur Explosion; und dadurch öffnete sich ein öffentlicher politischer Raum, in dem alle Vorstellungen davon, wie das gesellschaftliche Zusammenleben gestaltet werden soll, auf den Prüfstand kamen. Eines der wirklich ikonischen Bilder der damaligen Zeit ist für mich das Photo von Ralf Dahrendorf, der 1968 vor der Freiburger Stadthalle mit Rudi Dutschke und anderen Mitgliedern des SDS diskutiert. Diese improvisierte Diskussion am Rande eines FDP-Parteitages ist eines der stärksten Symbole dafür, wie die antiautoritären Bewegungen Ende der 60er Jahre wieder den öffentlichen Raum zu einem politischen Raum machten.

Doch dieser Zustand war nicht von langer Dauer. Die Nebelschwaden des antiautoritären politschen Urknalls begannen sich um einige ideologische Kristallisationskerne herum zu verdichten. Am bescheuertsten stellten sich dabei die maoistischen K-Gruppen an, doch der Trend war allgemein: Dem marxistisch-leninistischen Dogmatismus auf der einen Seite korrespondierte durchaus ein libertärer Dogmatismus auf der anderen Seite. Alle alten ideologischen Schlachten wurden noch einmal geschlagen, nur jetzt als Farce statt als Tragödie. Die radikale Linke richtete sich in einer Filterblase ein, in der Diskussionen geführt wurden, die auf Außenstehende nurmehr wie bizarre Rituale merkwürdiger Stämme wirken konnten.

Ein wirkliches Agieren in der Öffentlichkeit fand nicht mehr statt. Denn dazu wäre es notwendig gewesen, sich selbst als einen Teil – und eben nur einen Teil – dieser Öffentlichkeit zu verstehen. Das aber hätte geheißen, die anderen, die in diesem öffentlichen Raum agieren, ebenfalls ernst zu nehmen. Doch genau das verschwand zusehends, als sich die antiautoritäre Bewegung zu Beginn der 70er Jahre in unterschiedliche Sekten aufspaltete. Wobei ich hier ausnahmsweise das Wort „Sekte“ nicht leichtfertig in den Mund nehme, denn in Bezug auf Öffentlichkeit ist der Begriff nicht einfach polemisch, sondern gibt Einsicht in das Agieren solcher Sekten im öffentlichen Raum: Sekten betreten den öffentlichen Raum nicht, um zu diskutieren, sie betreten ihn, um zu missionieren.

Dabei ist noch nicht einmal so sehr entscheidend, daß sie glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Entscheidend ist, daß sie – dank Filterblasen – über hermetische Gedankengebäude verfügen, mit derer Hilfe jeder Einwand abgebügelt werden kann. So können Scheindiskussionen simuliert werden, bei denen es nicht um Erkenntnis geht, sondern darum, recht zu behalten. Insofern ist das Verhältnis der Sekte zur Öffentlichkeit asymmetrisch. Eine funktionierende Öffentlichkeit geht davon aus, daß es darum geht, gemeinsam Einsichten zu entwickeln, die für das Gemeinwesen und dessen Veränderung nützlich sind. Sekten hingegen verstehen die anderen in der Öffentlichkeit agierenden Gruppen als ideologische Gegner, die im diskursiven Zweikampf geschlagen werden müssen. Deshalb ist der Teil der Öffentlichkeit, der keinem Sektendiskurs anhängt, zunächst in einem strategischen Nachteil. Aber früher oder später wird die Sektenstrategie durchschaut und der asymmetrische Diskurs verweigert (Auf die Folgen dieser Diskursverweigerung wird in einem Fortsetzungsartikel noch eingegangen werden.).

Bestes historisches Anschauungsmaterial für diese Art des asymmetrischen Sektendiskurses bieten, wie bereits erwähnt, die maoistischen K-Gruppen in der ersten Hälfte der 70er Jahre. Doch die Filterblasen, innerhalb derer die K-Gruppen agierten, waren, verglichen mit späteren Ausprägungen des Phänomens, noch ziemlich rückständig. Natürlich bewegte man sich in einem abgeschlossenen Diskursrahmen, dessen Grenzen durch die Schriften von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao markiert wurden. Doch innerhalb dieses Rahmens waren die Interpretationsspielräume einfach viel zu groß, die theoretischen Möglichkeiten viel zu mannigfaltig, als daß die notwendige Hermetik auf Dauer hätte aufrecht erhalten werden können. Hinzu kam, daß die K-Gruppen, trotz aller diskursiver Hermetik, tatsächlich politisch aktiv waren, in die Fabriken gingen, sich (je nach Lenin-Interpretation) zu Wahlen aufstellen ließen etc. Eine solche Konfrontation mit der gesellschaftlichen Realität ist aber für Filterblasendiskurse tödlich. Das Resultat waren endlose Spaltungen, deren Gründe außerhalb der Gruppen niemand verstehen konnte und mochte.

Nächste Woche gehe ich noch einmal zurück in die frühen 60er Jahre, wenn Constant Nieuwenhuys meint:

„Sie streifen durch die Sektoren von Neubabylon auf der Suche nach neuen Erfahrungen, bislang ungekannten Umgebungen. Ohne die Passivität der Touristen, sondern im vollen Bewußtsein der Energie, die sie haben, um in der Welt zu agieren, sie zu transformieren, sie neu zu schöpfen.“ ([1])

Nachweise

[1] Nieuwenhuys, C.: „New Babylon“, URL: http://isites.harvard.edu/fs/docs/icb.topic709752.files/WEEK%207/CNieuwenhuis_New%20Babylon.pdf, abgerufen am 07. Juni 2013.

Written by alterbolschewik

7. Juni 2013 um 17:37

Veröffentlicht in Nicht kategorisiert

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