shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Öffentlichkeit und Filterblasen (5)

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Zur Sozialpsychologie des politischen Sektenunwesens

„Ich habe in den letzten Jahren gesehen, wie viele Leute zerbrochen sind, zu intellektuellen Kümmerlingen geworden sind.“

Ehemaliger KSV-Funktionär

Bevor wir in unser heutiges Thema einsteigen, ist vielleicht ein kleiner Rückblick angebracht, denn diese Serie über Öffentlichkeit und Filterblasen hat ganz offenkundig die Tendenz, immer weiter auszuufern. Im ersten Teil hatte ich die Problematik ganz oberflächlich angerissen und die Relevanz des Ganzen für die antiautoritären Bewegungen und deren Umkippen in autoritäre Sekten skizziert. In der darauf folgenden Woche leistete ich mir einen Exkurs in das antike Griechenland und in die Niederlande der 60er Jahre: Durch diesen Exkurs sollte klar werden, daß politisches Verhalten immer an Öffentlichkeit gebunden ist und daß in der Frühphase der antiautoritären Bewegungen ein geradezu utopischer Begriff von Öffentlichkeit propagiert wurde. Teil drei machte dann bislang am meisten Furore (in meinen eigenen bescheidenen Maßstäben), weil er zeigte, daß bestimmte aktuelle Aktivistinnen und Aktivisten, die sich aus dem Dunstkreis von cultural und gender studies rekrutieren, jeden Begriff von politischer Öffentlichkeit verwerfen. Letzte Woche schließlich habe ich diese Abkapselung politischer Sektenstrukturen von einer diskursiven Öffentlichkeit historisch zurückverfolgt bis in die frühen siebziger Jahre, zu den maoistischen K-Gruppen. Inzwischen hat auch noch Che in seinem eigenen Blog einen Artikel dazu veröffentlicht.

Ich bleibe heute noch einmal bei den K-Gruppen der frühen 70er Jahre, und das aus zwei Gründen. Zum einen, weil es sich um ein heikles Thema handelt. Man ist gerade bei politischen Gruppen, die einem nicht in den Kram passen, sehr schnell bereit, deren Verhalten zu pathologisieren. Das hat manchmal durchaus seine Berechtigung, aber eine gewisse subjektive Abwehrhaltung, ein Widerwille, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung zu stellen, spielt dabei oft genug auch eine Rolle. Wenn ich heute auf bestimmte sozialpsychologische Mechanismen eingehe, die derartige politische Sektenstrukturen prägen, dann will ich von vornherein den Verdacht ausräumen, ich wollte mich damit vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung drücken. Und deshalb bieten sich die K-Gruppen an, weil hier eine inhaltliche Auseinandersetzung historisch obsolet geworden ist.

Der zweite Grund, warum ich dieses Thema an den K-Gruppen durchexerziere, hängt damit zusammen. Psychologisierende Einschätzungen politischer Gruppen kranken in der Regel daran, daß sie sich praktisch nie auf authentische Selbstaussagen stützen können. Derartige „Analysen“ beruhen in der Regel auf der Außensicht und haben zudem das Manko, oft ins Anekdotische abzugleiten. Aus der Welt der K-Gruppen liegen jedoch Erfahrungberichte von Insidern vor, auf die sich eine Beschreibung der sozialpsychologischen Strukturen stützen kann. Das 1977 erschienene Büchlein Wir warn die stärkste der Partein… ([1]), das ich bereits letzte Woche ausführlich zitiert habe, liefert also ausreichend empirisches Material, um die folgenden Behauptungen zu untermauern.

Das Buch versammelt Erfahrungberichte von insgesamt 11 Personen. Durch die Bank erklären sie alle, daß eine der wesentlichen Erfahrungen für sie war, daß sie ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigenen, ganz konkreten Interessen zugunsten der Sekte aufgegeben haben. In ganz eklatantem Maße gilt das für zwei Gesprächsprotokolle. Im einen reflektieren zwei Schwule, welche Rolle Schwule im KSV und in der KPD spielten und wie ihnen mitgespielt wurde, im anderen zwei Frauen. Eine der Frauen bringt es prägnant auf den Punkt:

„Vor meiner Organisierung hatte ich eine Sensibilität dafür, daß ich eine Frau bin und hab mich als solche verhalten, und als Sympathisantin dieser Organisation wurde dieses Bewußtsein mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und hatte schließlich keine Bedeutung mehr, auch für meine persönliche Entwicklung nicht. […] Ist dir eigentlich schon mal die »männliche Sprache« dieser Organisationen aufgefallen? Ich selbst habe damals nie gemerkt, daß ich »ein guter Kommunist« werden wollte und keine »gute Kommunistin«. Zwei Jahre vorher wäre mir das nicht passiert.“ ([1], S. 37)

Die letzte Woche thematisierte Standardisierung der Sektensprache ist nur ein äußeres Symptom der massiven Entindividualisierung, die innerhalb dieser Sektenstrukturen vor sich geht. Der/die Einzelne tritt nicht als individuelle Persönlichkeit in Erscheinung, sondern nurmehr als austauschbarer Repräsentant der Organisation oder der vertretenen Ideologie. Diese Zerstörung der Persönlichkeit nahm in den K-Gruppen mit ihren Kritik-und-Selbstkritik-Ritualen systematische Züge an:

„Entweder hatte der Delinquent Glück, dann wurde über seine politische Arbeit gesprochen, hierzu Passendes aus dem Privatleben lobend erwähnt. Das hatte den Charakter von Konfirmation oder Ordensvergabe – Weihrauch eingeschlossen. Oder er hatte Pech: Aggressionen entluden sich in Unterstellungen, inquisitorisch und auf schmerzende Wirkung abzielend. Dann war das Ganze wie eine Demontage, auch in der Intimsphäre wurde Unpassendes entdeckt – der Bedauernswerte wurde geknetet, bis er für jede Reue weich war. […] Unfähig, die Beziehungen solidarisch zu gestalten, weil Solidarität nur als Solidarität mit politischen Ansichten, aber nicht mit Individuen verstanden wurde, wurden die Bedürfnisse der Einzelnen mißachtet.“ ([1], S. 83)

Dabei konnte sich die Organisation oft genug auf charakterliche Dispositionen bei ihren Opfern stützen, die es ihnen erlaubte, deren Persönlichkeit zu zerbrechen. Damit wir uns richtig verstehen: Es geht nicht darum, die Opfer für ihre eigene Unterwerfung verantwortlich zu machen. Dennoch ist es frappant, wie viele der Erfahrungsberichte davon berichten, wie ihr Eintritt in die Organisation durch eine persönliche Krise motiviert wurde, die das Selbstbewußtsein der Betroffenen angeknackst hatte. Nur ein Beispiel:

„In der Zeit lernte ich Sylvia kennen. Und das war irgendwie sehr entscheidend für mich, Tochter von einem Unternehmer, der Vater war Hauptaktionär oder so was. […] Wir wollten zusammenziehen und alles. Das war eine sehr romantische Zeit. […] Und dann kriegte ich einen Brief von ihr, das war ein ziemlich kaputter Brief, unheimlich vorwurfsvoll – da bin ich ausgerastet, ich war einfach geschafft. Dann hab ich alles negativ gesehen, nur noch das Schlechte der Welt, ich hätte vielleicht heulen sollen. Ich hab das aber dann sofort verdrängt, hab mir gesagt: »Siehste – ne Tochter der Bourgeoisie. Was hast du anderes erwartet? Die mußt du jetzt bekämpfen.« Innerhalb von zwei Stunden – ungefähr – hab ich den Kampf aufgenommen mit dem kapitalistischen Weltsystem – das war ein richtig harter Entschluß.“ ([1], S. 10)

Nicht bei allen ist der Übergang so krass, aber was in den Beschreibungen immer wieder auftaucht ist die Situation, daß das bisherige soziale Umfeld wegbricht, oft durch einen Wechsel in eine neue Stadt, daß die neue Tätigkeit oder das Studium als Überforderung empfunden wird, daß man sich auf einem psychischen Tiefpunkt befindet. Und in diesem Moment scheint einem die politische Sekte einen Ausweg aus der Sinnkrise zu weisen.

Tatsächlich aber macht die Sekte nichts dergleichen, sondern verschärft das Problem. Sie bindet diejenigen, die in ihren Strukturen Schutz suchen, dadurch, daß sie sie noch weiter von jeden Außenkontakten abschotten und einem Wechselbad von (seltenen) Belohnungen und (häufigen) Demütigungen aussetzen. Perverserweise sind es dann gerade die Demütigungen, die die Individuen an die Organisation ketten: Sie untergraben das bereits geschwächte Selbstbewußtsein, das diese überhaupt in die Fänge der Sekte getrieben haben, noch weiter. Die Opfer dieser Strategie, die sich selbst als ungenügend empfinden, versuchen nur noch mehr, den Ansprüchen der Organisation zu genügen. Das gelingt natürlich nicht, was dann immer tiefer in den Teufelskreis hineinführt. Die Trennung, falls sie dann doch irgendwann vollzogen wird, erweist sich für die meisten Betroffenen als traumatisierend:

„Dieses schlechte Gewissen, was sich noch lange danach in Träumen offenbart hat: da triffst du die Genossen wieder. Die stehen da und fragen: »Was ist mit dir? Wir müssen dich jetzt bekämpfen.« Ja und du siehst in den Träumen Demonstrationen an dir vorbeiziehen, an denen du nicht mehr teilnehmen kannst und auch nicht mehr sollst. Und nicht mehr darfst, weil du Angst haben mußt. Also Angst vor dieser Organisation, aber eine moralische: schlechtes Gewissen.“ ([1], S. 9)

Nun mag es den Anschein haben, daß derartige Praktiken längst vergangen sind, daß das heutige politische Sektenunwesen nicht mit den maoistischen K-Gruppen vergleichbar ist. Doch dem ist keineswegs so. Die sich als antirassitisch verstehende Gruppe Reclaim Society! berichtete letztes Jahr stolz im Netz:

„Innerhalb des rs! Projekts »reclaim your voice« sind u.a. einige weiße zwischen November 2010 und Juli 2012 in Lager gegangen und haben dort mit Kindern und Jugendlichen Theaterkurse konzipiert und geteamt. Durch das »freie« Rein- und Rausbewegen aus den Lagern haben die weißen ihre Privilegien der Bewegungsfreiheit vorgeführt. Außerdem wurden durch das Teamen der Kurse Bilder von weißer Autorität und somit Überlegenheit re_produziert. Die weißen haben dadurch gewaltvolle Erfahrungen von weißer Herrschaft geschaffen. Ab Frühjahr 2011 wurde dies von PoC [People of Colour; Sektensprache für Nicht-Weiße] und Roma Mitgliedern von rs! markiert, während weiße dazu schwiegen. Nur durch das Markieren durch PoC und Roma, haben die weißen realisiert, dass sie – bewusst oder unbewusst – kontinuierlich Gewalt ausüb(t)en. Die weißen konnten nur durch den Widerstand von PoC und Roma zu Halt gebracht werden. Es war eine Herausforderung für die weißen den Widerstand zu akzeptieren, was zu langen, jedoch bereichernden und fortwährenden politischen Prozessen geführt hat, von denen weiße bis heute profitieren.“ ([3])

Mit anderen Worten: Die sado-masochistischen Unterwerfungsrituale, die ich anhand der K-Gruppen beschrieben habe, feiern fröhliche Urständ in Gruppen, die sich angeblich emanzipatorische Ziele auf’s Panier geschrieben haben.

Angesichts dieses deprimierenden Befundes ist es vielleicht ganz gut, wenn wir nächste Woche die schnöde Gegenwart verlassen und bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen. Freuen Sie sich also darauf, daß Jürgen Habermas schreibt:

„Rousseau entwirft die unbürgerliche Idee einer penetrant politischen Gesellschaft, in der die autonome Privatsphäre, die vom Staat emanzipierte bürgerliche Gesellschaft, keinen Platz hat.“ ([2], S. 120)

Nachweise

[1] Autorenkollektiv, Wir warn die stärkste der Partein… Erfahrungsberichte aus der Welt der K-Gruppen, Berlin 1977.

[2] Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied und Berlin 1975.

[3] Reclaim Society!: „Positionspapier“, URL: http://reclaimsociety.wordpress.com/2012/08/22/positionspapier-von-reclaim-society/, abgerufen am 5. Juli 2013.

Written by alterbolschewik

5. Juli 2013 um 15:19

Veröffentlicht in Nicht kategorisiert

11 Antworten

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  1. Gesellschaftliche Emanzipation resultiert und manifestiert sich konkret in den individuellen Lebenssituationen Aller, was bedeutet, sich nicht von Anderen knechten lassen zu müssen.
    Der Verlust von Privilegierung stellt dabei keine Form von Knechtschaft dar.
    Sicherheit und Freiheit sind nur nach „idealistischer“ Betrachtungsweise Gegensätze. Im „materialistischen“ Sinne ist Sicherheit die Basis für Freiheit.
    Insofern sind die dargelegten Praktiken der K-Gruppen gewiss inkongruent zu den großen philosophischen Leistungen eines Karl Marx. Dazu zähle ich zuerst seine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und seine Thesen zu Feuerbach, wobei die letzte und meistzitierteste eigentlich die unbedeutendste sein dürfte und als Abschluss verstanden werden müsste.

    Was ich damit ausdrücken will:

    Emanzipation nach „idealistischem Schablonen-‚Denken'“ und dementsprechenden Klischees hat es noch nie gegeben und wird es wohl auch nicht geben.
    Die Anhänger des alten Materialismus‘ (Feuerbachthesen) sind in Wirklichkeit (auch) nur verkappte Idealisten.
    Henri Lefebvre zu verstehen bedeutet deshalb insbesondere, die Prozessebene gesellschaftlicher Entwicklung hinreichend zu berücksichtigen und dabei die entsprechenden philosophischen Schlüsse, insbesondere in Bezug auf die Erkenntiskritik, zu ziehen, was nichts anderes bedeutet, als Kant Frage „Sind synthetische Urteile apriorisch möglich“ in der materialistischen Fassung zu beantworten.

    Gelänge dies wirklich, würde bei der Frage nach dem Glauben von Menschen an einen Gott die Existenz eines Gottes als völlig unnötig und belanglos erscheinen.
    Nach alther gebrachter Lesart idealistischer Ausprägung stellt dies zwar eine Syntax-Verletzung dar, nach wirklichen materialistischen Maßstäben jedoch nicht, weil sie von den konkreten Lebensumständen des Menschen ausgehen. Während der Verstehende „Der Mensch erschuf Gott nach seinem Ebenbild“ kein „Henne-Ei“-Dilemma kennt, ersäuft der idealistisch Bornierte darin.

    ludwig

    7. Juli 2013 at 23:33

    • Ich weiß nicht, ob das Problem der K-Gruppen in erster Linie ein falsches Marx-Verständnis war. Das Nichtverstehen des Marxschen Praxis-Begriffs ist selbst das Resultat einer Praxis, die selbst wieder aus den historischen Umständen zu erklären wäre (den Schwierigkeiten, den antiautoritären Impuls in vernünftige organisatorische Bahnen zu lenken). Und innnerhalb dieses historischen Kontextes ist dann, glaube ich, eher eine sozialpsychologische denn eine erkenntnistheoretische Kritik fruchtbar.

      alterbolschewik

      13. Juli 2013 at 10:11

  2. Wobei wir dann gleichzeitig bei Nietzsche, Krishnamurti und Pascal wären.

    che2001

    9. Juli 2013 at 22:42

  3. Nach der Logik von RS ist also Sich kümmernde Flüchtlingsarbeit mit Besuchen in den Wohnheimen eine Performance weißer Privilegiertheit, weil die Flüchtlinge selber keine Bewegungsfreiheit haben. Ein grandioser Höhenflug im Kampf um die Lufthoheit über das Zwanghafte. Hat mal jemand Flüchtlings gefragt wie die das sehen und was sie über die Alternative denken, deswegen vielleicht nicht mehr besucht zu werden oder künftig nur mit PoC-Teamern zu tun zu haben auf Kosten des Wegbrechens bereits vorhandener Vertrauensverhältnisse? Meine Fresse, sind die kinderkrank…..

    che2001

    11. Juli 2013 at 11:57

    • Die bezwingende Logik, dass „also Sich kümmernde Flüchtlingsarbeit mit Besuchen in den Wohnheimen eine Performance weißer Privilegiertheit [ist], weil die Flüchtlinge selber keine Bewegungsfreiheit haben“, hat aber schon ihren ganz eigenen Charme.

      Ich glaube, es war bei Dir, wo ich von solchen Besuchen der Leute in einer „Unterbringung“ in Bayern las, die außerhalb eines kleinen Ortes direkt neben einem Schweinemaßtbetriebes unter entwürdigenden Umständen im entsprechenden Gestank leben mussten. Dazu noch diese sog. „Residenzpflicht“ und die feindseligen Blicke der Anwohnerschaft, sollte sich jemand tatsächlich dort herauswagen.

      Sie befragten ein paar Leute oder versuchten dies. Von dem einen, der dieses Martyrium schon seit Jahren erduldet hatte, aus Afrika kommend nach einer Überlebenschance suchend im Schweinescheiße-Gestank ohne jede Bewegungsfreiheit in Bayern endend, kam aber keine Antwort mehr. So, wie ich mich an den Bericht erinnere, winkte der nur ab. Was sollte er auch Menschen sagen, die das „Privileg“ genossen, ein menschenwürdiges Leben führen zu können?

      Ich kann natürlich nicht in Köpfe dieser BerucherInnen hineinschauen und kann die geschilderte Situation aus der Ferne überhaupt nicht beurteilen. Aber der Verdacht, dass hier dich die Performance weißer Privilegiertheit auswirkte, liegt dennoch nahe. Was mich betrifft, ist dieser erschütternde Bericht wichtig, weniger das Agieren vor Ort. Wie Menschen zerstört werden, manifest werdende depressive Folgen.

      ziggev

      12. Juli 2013 at 11:15

  4. Wenn ich heute auf bestimmte sozialpsychologische Mechanismen eingehe, die derartige politische Sektenstrukturen prägen, dann will ich von vornherein den Verdacht ausräumen, ich wollte mich damit vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung drücken. Und deshalb bieten sich die K-Gruppen an, weil hier eine inhaltliche Auseinandersetzung historisch obsolet geworden ist.

    Beim Übergang zu RC ist dieser Verdacht aber wieder da. Sonst könnte man sich ja auch mal fragen, ob an der (Selbst-)Kritik inhaltlich nicht doch was dran ist. Ich finde das jedenfalls bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar (da von „gewaltförmig“ und „weiße Autorität reproduzieren“ zu sprechen finde ich mächtig überzogen, aber ansonsten ist schon was dran), und prinzipiell ist doch nichts dagegen einzuwenden, sich die Kehrseiten eigener Handlungen bewusst zu machen. (Kann man auch gern Dialektik nennen. 😉 ) Ob man das in so einem Schuld-und-Sühne-Modus machen sollte, und ob man die Selbstreflexion immer bis zum Exzess betreiben sollte, sind noch andere Fragen. (Suggestivfragen, deren Antwort natürlich „nein“ lautet.) Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, ist noch ne andere Frage. Wenn sie darin bestehen, dass Weiße nicht mehr in die Lager gehen, ist das natürlich absurd. Entweder man findet einen Weg, vernünftig mit diesen Kehrseiten umzugehen, oder man muss sie auch mal in Kauf nehmen. Es gibt sowieso keine völlig unproblematischen Aktionen.

    „PoC“ als Sektensprache zu bezeichnen halte ich aber für Blödsinn. Das ist einfach ne Bezeichnung für Nichtweiße, die inzwischen auch weit über solche Splittergruppen verbreitet ist.

    Alles in allem denke ich, dass die Kritik mit RC die richtigen trifft. (Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die tatsächlich so eine sektenartige Struktur haben wie einst die K-Gruppen, dafür fehlen mir dann die Insiderberichte.) Ich weiß aber nicht, ob ich mir mehr Sorgen um diese bekloppten Auswüchse der CW machen sollte, oder über die Gefahr, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und die kritische (Selbst-)Reflexion antirassistischer Arbeit einfach eingestellt wird. Und schließlich weiß ich nicht, ob diese psychologische Kritik überhaupt so sinnvoll ist, oder ob man nicht lieber RC und dergleichen gleich inhaltlich kritisieren sollte.

    earendil

    12. Juli 2013 at 12:29

    • Mir ging’s bei dem Zitat jetzt weniger um die innere Problematik antirassistischer Arbeit – die sicherlich ein großes Maß an Selbstreflexion verlangt, um nicht selbst wieder rassistischen Stereotypen zu verfallen. Sondern um die dort offengelegte psychologische Struktur. Das Verhalten des „PoC“-Wortführers ist offenkundig vom Bedürfnis, die „Weißen“ zu demütigen, bestimmt. Es werden, im vollen Bewußtsein, daß die Beschuldigten schweigend zuhören müssen (was befriedigt referiert wird), absurde Behauptungen aufgestellt. Und dann wird auch noch behauptet, daß die so Gedemütigten davon „bis heute profitieren“. Das erinnert wirklich an die Moskauer Prozesse, wo es den Schergen nicht nur genügte, absurde Anklagen zu erheben; die Angeklagten mußten auch noch so lange bearbeitet werden, indem an ihre Verpflichtung der „Sache“ gegenüber appelliert wurde, bis sie sich diese Anschuldigungen zu eigen machten und ihre „Verbrechen“ öffentlich bekannten.

      Daß sich reclaim society! sang- und klanglos aufgelöst haben, wundert mich überhaupt nicht. Ich nehme mal an, daß die so Gedemütigten peu à peu einfach nicht mehr aufgetaucht sind. Ein derartiges Verhalten berichten zumindest die K-Gruppen-Aussteiger fast komplett übereinstimmend: Sie hatten ab einem bestimmten Punkt nicht mehr die Kraft, sich der Gruppe zu stellen und blieben einfach weg, ohne jede Diskussion, ohne offen deklarierten Bruch, sondern psychisch so ausgelaugt, daß sie das Ganze nicht mehr ertrugen.

      alterbolschewik

      13. Juli 2013 at 10:32

    • Mir ging’s bei dem Zitat jetzt weniger um die innere Problematik antirassistischer Arbeit – die sicherlich ein großes Maß an Selbstreflexion verlangt, um nicht selbst wieder rassistischen Stereotypen zu verfallen. Sondern um die dort offengelegte psychologische Struktur.

      Ok, solange nicht ersteres mit letzterem über Bord geworfen wird, finde ich das richtig. Und auch wenn ich mir wie gesagt nicht sicher bin, wie sinnvoll diese psychologische Kritik ist – auf jeden Fall sollte sie erst nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung erfolgen – erscheint sie mir doch inhaltlich weitgehend richtig.

      Die Schweigepflicht, also sich Vorwürfe anhören zu müssen, ohne darauf reagieren zu dürfen, ist wirklich was gaaanz übles. Das ist in der Tat schon sektenhaft. Aber auch da sollte erstmal inhaltliche Kritik einsetzen. Eigentlich steht ja die Idee dahinter, gesellschaftliche Machtverhältnisse mal punktuell umzukehren, um damit in der Bilanz so etwas wie ausgeglichene Verhältnisse hinzubekommen. Ob das überhaupt eine sinnvolle Idee ist, sei mal dahingestellt, hab ich auch keine abgeschlossene Meinung dazu. Aber auf jeden Fall müsste man mal überlegen, ob diese Machtverhältnisse im Kontext so einer Gruppe überhaupt in dem Maße bestehen, dass so eine drastische Maßnahme gerechtfertigt wäre. Dort, wo man Weißen oder anderweitig Privilegierten wirklich mal das Maul verbieten müsste, ist das ja meistens wegen eben der Machtverhältnisse, die das erforderlich machen, nicht möglich, während es dort, wo es möglich wäre, eigentlich nicht erforderlich ist. Das bekannte Dilemma der Zensur.

      Interessant finde ich übrigens, dass bei denen immer irgendwas „(kritisch) markiert“ anstatt kritisiert wird. Das ist in der Verwendung wirklich eine Art Sektensprech. Sonst wird das ja im Sinne von rassistischem, sexistischem oder heteronormativem Markieren verwendet, vielleicht noch im Sinne von Selbst-Markieren der eigenen Sprecherposition. Wenn hier „kritisieren“ oder „benennen“ durch „markieren“ ersetzt wird, soll das wohl eine Art pervertierter Definitionsmacht ausdrücken und das Gesagte gegen Kritik immunisieren.

      Daß sich reclaim society! sang- und klanglos aufgelöst haben, wundert mich überhaupt nicht.

      Ist aber irgendwie schade, denn eine Art Erklärung dazu wäre schon interessant gewesen. Vielleicht gibt’s ja irgendwann mal rückblickende Reflexionen von RC-Leuten. Auch aus dem Scheitern solcher Projekte kann man ja was lernen.

      earendil

      13. Juli 2013 at 16:53

  5. In Strukturwandel der Öffentlichkeit – ich halte regelmäßig ein Seminar über dieses Buch – werden noch andere Dinge schön anschaulich erklärt. Z.b., dass unsere Vorstellung von Intimität ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft ist. Am Hof des Sonnenkönigs waren der Gang des Monarchen auf die Toilette, königlicher Geschlechtsverkehr und die Geburt königlicher Kinder öffentliche Handlungen. Dass im alten Rom sogar geschäftliche Besprechungen auf öffentlichen Toiletten ausgehandelt wurden finden wir noch in der Redewendung „großes bzw. kleines Geschäft machen“. Habermas erklärt vieles gesellschaftlich Gewordene, an eine konkrete Sozioökonomie Geknüpfte , das wir für selbstverständlich und naturhaft erachten ebenso wie Foucault oder Butler das tun, er tut es nur auf andere Weise und mit anderen Beispielen.

    Und seine These, dass die bürgerliche Öffentlichkeit auf eine Refeudalisierung hinausliefe, die war 1962 geradezu prophetisch und findet sich, wenn auch immer wieder dialektisch gebrochen heute bestätigt.

    che2001

    14. Juli 2013 at 15:40

    • Hey, Du kannst doch nicht verraten, worüber ich nächsten Freitag schreiben werde! Das ist nicht fair. Worauf sollen sich jetzt meine sonst vor atemloser Spannung bebenden Lesermassen freuen?

      alterbolschewik

      14. Juli 2013 at 16:55

  6. zur ‚Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit‘

    gern gelesen: der Klartext von der großartigen Hannah Arendt. Um sich die Zwischenöffentlichkeit der pariser Salons zu vergegenwärtigen, ist vielleicht nochmal ne Re-Lektüre Prousts zu empfehlen, bei dem kein Auge trocken bleibt.

    ziggev

    16. Juli 2013 at 21:35


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