shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Archive for the ‘Punk’ Category

Free Pussy Riot – Jetzt erst recht! (2)

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„Die Panik der Machthaber – die sich in ihrer lächerlich exzessiven brutalen Reaktion zeigt – ist somit völlig gerechtfertigt. Pussy Riot werden, je brutaler jene agieren, ein immer wichtigeres Symbol werden.“

Slavoj Žižek

Langsam dämmert einigen auch hierzulande, daß die feministische Gruppe Pussy Riot nicht ganz so harmlos ist, wie man sich das wohl gewünscht hätte. Am 20. August hatte die Politikredaktion der FAZ wohl endgültig genug von der ausführlichen und ausgewogenen Berichterstattung Kerstin Holms im Feuilleton und plazierte auf der Titelseite einen Kommentar mit dem Titel Ein weiterer Sieg Putins ([4]). Der Autor, Michael Ludwig, vertrat darin die These, daß die Aktion von Pussy Riot die russische Opposition gespalten und damit Putins innenpolitische Macht gestärkt habe, trotz des Imageschadens im Ausland. Da ich kein Kenner der innenpolitischen Situation Russlands bin, kann ich das nicht wirklich beurteilen, würde aber, aus meiner Kenntnis der Dynamik sozialer Bewegungen eher darauf setzen, daß es sich um einen Pyrrhus-Sieg handelt. Doch man muß dem Autor zugute halten, daß seine Argumentation einigermaßen sachlich und rational nachvollziehbar war.

Offensichtlich war das aber nicht genug. Und so wurde ein gewisser Moritz Gathmann beauftragt, der Leserschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Augen zu öffnen, was Pussy Riot wirklich sind: Die russische Reinkarnation der RAF. Und für diesen ausgemachten Schwachsinn stellte ihm die Redaktion die kompletten Seiten 2 und 3 zur Verfügung ([2]). Einen Kommentar dazu erspare ich mir, Klaus Jarchow hat das in seinem Blog Stilstand bereits kompetent erledigt (dort findet sich auch der Verweis darauf, wo Gathmann den größten Teil seines Machwerkes abgeschrieben hat).

Die Gegner von Pussy Riot spüren allerdings instinktiv – und da sind sie wohl einem großen Teil der Sympathisantinnen einen Schritt voraus – daß es tatsächlich um mehr geht als einfach nur um Meinungs- und Kunstfreiheit, um „bürgerliche Werte“. Ich hatte letzte Woche bereits darauf hingewiesen, daß das herausragende Erkennungsmerkmal von Pussy Riot, ihre Strickmasken, auf eine feministische Symboltradition zurückverweisen, die in den künstlerischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhundert wurzelt. Musidora repräsentierte im Kostum von Irma Vep den Angriff auf die bürgerlichen Werte.

Bei Pussy Riot wird diese Symbolik zeitgenössisch verfremdet: An die Stelle der schwarzen Seidenmaskierung Musidoras als Irma Vep treten die quietschbunten Neonfarben des Pussy-Riot-Outfits. Die Verwendung von Strick- oder Häkelmützen verweisen ironisch auf die klassische weibliche Handarbeitstradition, während das brutale Hineinschneiden der Löcher für Augen und Mund diese Heim- und Herdidylle konterkarieren. Mit ihren Kleidern und Strumpfhosen distanzieren sie sich von einem puritanischen Feminismus, der sich von der eigenen Geschlechtlichkeit distanziert, und signalisieren stattdessen einen souveränen Umgang mit dem eigenen Frau-Sein.

Damit ist schon das äußere Erscheinungsbild von Pussy Riot ein Symbol, das einen antipatriarchalen Gestus vermittelt. Und dieses Symbol ist unabhängig von identifizierbaren Personen. Es kann von Frauen auf der ganzen Welt kopiert werden und damit zu einem universalen Träger neo-feministischer Utopien werden. Weil dieser visuelle Stil so einfach zu kopieren ist, sind auf der ganzen Welt Frauen im Pussy Riot-Outfit auf die Straße gegangen, um ihren Protest öffentlich zu machen. Und dabei ging es eben nicht nur um Solidarität, sondern auch um Selbstermächtigung, nicht nur um Aktionen für die inhaftierten Frauen, sondern auch um Aktionen für einen selbst, darum, aus der Zuschauerrolle auszubrechen und selbst Akteurin zu werden.

Es kommt aber noch eine andere symbolische Ebene hinzu. Das ganze Blasphemie-Getöse der orthodoxen Kirche versuchte ja nur davon abzulenken, daß die Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale keineswegs glaubensfeindlich war. Die Aussagen der Angeklagten im Prozeß, sie hätten keineswegs beabsichtigt, die Gefühle von Gläubigen zu verletzen, sind durchaus glaubwürdig. Denn worum ging es? Um eine Fürbitte! Unter Umgehung patriarchaler Autorität wandten sich die Frauen direkt an die Gottesmutter Maria mit der Bitte, Russland von Putin zu erlösen. Es war eben kein satanistischer Akt, wie die orthodoxe Kirche kontrafaktisch behauptete; vielmehr wurde eines der wenigen weiblichen Symbole der Kirche gegen die patriarchale Autorität mobilisiert.

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Akteurinnen selbst an die Existenz einer Gottesmutter, die ihr Gebet erhören könnte, glauben oder nicht. Entscheidend ist, daß die orthodoxe Kirche daran glauben muß. Das Gebet konfrontiert den korrupten Patriarchen Kirill, den Unterstützer Putins mit der Reinheit und Unschuld Marias. Somit griff das Gebet von Pussy Riot das symbolische Universum der orthodoxen Kirche von innen an. Maria wurde in der Auseinandersetzung zum Gegensymbol, zum Stachel im Fleisch der orthodoxen Kirche.

Tatsächlich taucht die Mariensymbolik im Verlauf des Prozesses immer wieder auf. Zu Beginn der ganzen Affäre wurde immer wieder betont, daß zwei der Angeklagten Mütter mit kleinen Kindern seinen, was die Mariensymbolik zu ihren Gunsten mobilisierte. Inzwischen versuchen die Gegner, diese sehr effektive Symbolik anzugreifen, indem sie Nadjeschda Tolokonnikowa als üble Rabenmutter hinzustellen versuchen. Ich maße mir hier auf der rein faktischen Ebene gar kein Urteil an (im Gegensatz zu Moritz Gathmann, der deswegen Tolokonnikowa mit Ulrike Meinhof vergleicht ([2], S. 2)), sondern weise nur darauf hin, daß hier jenseits der Faktenebene vor allem ein Kampf um Symbole ausgetragen wird.

Ein Höhepunkt dieses Kampfes war sicherlich, als Madonna – die amerikanische Sängerin, nicht die Gottesmutter – sich während eines Konzertes in Moskau mit Pussy Riot solidarisch erklärte und sich für die Rechte von Schwulen und Lesben in Russland einsetzte (letzteres brachte ihr eine Anzeige wegen „homosexueller Propaganda“ ein, was seit diesem Jahr in Russland strafbar ist). Danach sang sie, den Schriftzug „Pussy Riot“ auf den nackten Rücke gemalt, Like a Virgin.

Doch die schönste Verbindung des Madonnen-Themas mit Pussy Riot gelang dem Nowosibirsker Künstler Artjom Loskutow, der in drei Reklame-Lichtboxen seine Pussy-Riot-Ikonen ausstellte. Unnötig zu erwähnen, daß diese von der Polizei beschlagnahmt wurden und ihn der Metropolit der russisch-orthodoxen Kirche wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ anzeigte.

„Der Künstler erklärte mit Nachdruck, mit seinem Bild habe er niemand beleidigen wollen. Im Gegenteil, seine Pseudo-Ikonen hätten vielmehr den übergeordneten Wert von Mutter und Kind und zugleich das Zusammenkommen unterschiedlicher Gruppen vergegenwärtigen sollen, damit diese einander nicht bekriegen.“ ([1])

Man versteht also, warum Kirche und Staat in Rußland derart gegen Pussy Riot vorgehen. Es geht um viel mehr als nur um Meinungsfreiheit. Hier ist ein Kampf um die symbolische Ordnung in Gang. Dem autoritär-patriarchalen status quo, repräsentiert durch den Macho Putin und den Patriarchen Kirill setzt Pussy Riot die Symbolik einer antiautorität-feministischen Utopie entgegen. Die Zeit wird zeigen, ob es dieser gelingt, die Symbolik der Macht dauerhaft ins Wanken zu bringen.

Nächste Woche kehren wir aber wieder zurück in die 60er Jahre, wenn es um eine ganz anderes symbolisches Ensemble geht, um die symbolische Dimension von Proletariat, Räten und Revolution. Freuen Sie sich also erneut auf Henri Lefebvre, wenn dieser meint:

„Es reicht hinzuhören, um zu entdecken, was sich in den Köpfen fand unter der Herrschaft des esoterischen Schrifttums: das Beste und das Schlechteste, ein Haufen Fragen ohne Antworten, von tiefgreifenden und lächerlichen Argumenten, von scheinbarer und wirklicher Kühnheit, von gutem und schlechtem Gewissen. Im verbalen Delirium rollt ein großes Psychodrama ab, oder eher, geht ein umfassender Prozeß sozialer Therapeutik vor sich, eine ideologische Kur für Intellektuelle und Nicht-Intellektuelle, die endlich zusammenkommen.“ ([3], S. 107)

Nachweise

[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. August 2012: „Eine Ikone für „Pussy Riot““ (kho [Kerstin Holm]), S.32.

[2] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26. August 2012: „Lady Suppenhuhn“ (Gathmann, M.), S.2 – 3.

[3] Lefebvre, H., Aufstand in Frankreich – Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern (VoltaireHandbuch 7), Frankfurt a.M. und Berlin 1969.

[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. August 2012: „Ein weiterer Sieg Putins“ (Ludwig, M.), S.1.

Written by alterbolschewik

31. August 2012 at 16:21

Veröffentlicht in Medien, Punk

Free Pussy Riot – Jetzt erst recht! (1)

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„Normalerweise wird erwartet, dass Angeklagte im Schlusswort Reue zeigen, die begangene Tat bedauern oder mildernde Umstände aufzählen. Bei mir und meinen Kollegen ist das absolut unnötig.“

Jekaterina Samozewitsch, Schlußplädoyer im „Pussy Riot“-Prozeß

Das hier ist offenkundig nicht der letzte Woche angekündigte Text zum Symbolgehalt der mythischen Trias Proletariat-Räte-Revolution. Aus aktuellem Anlaß habe ich beschlossen, das aktuelle Programm zu ändern – ohne allerdings allzuweit vom Thema abzuschweifen. Denn auch in diesem Beitrag anläßlich der Verurteilung von drei Mitgliedern der russischen Künstlergruppe „Pussy Riot“ zu zwei Jahren GULAG geht es um die Macht der Symbole.

Unmittelbarer Anlaß für mich, noch einmal zu Pussy Riot zu schreiben, war eine Diskussion im Blog von Che. In typisch linksradikaler Manier wurde dort die Medienaufmerksamkeit, die der Prozeß der drei Frauen auf sich gezogen hat, kritisiert: Viel größere Schweinereien fänden keine Beachtung, während „die nun wirklich nicht gerade für voll zu nehmenden Pussy Riot“ zum Spielball in einem neuen Kalten Krieg gegen Putin würden. Ich hatte begonnen, auf diese Dummheiten einen Antwortkommentar zu verfassen, als Che bereits selbst darauf angemessen reagierte. Da mein Kommentar sowieso ziemlich ausuferte, beschloß ich dann, daraus einen eigenen längeren Text zu machen.

Ich will nicht noch einmal das haarsträubende Urteil kommentieren, denn das hieße Eulen nach Athen tragen. Mich interessiert vielmehr, warum die Aktion und dann der Prozeß ein derartiges weltweites Echo finden konnten, während – das ist ja richtig – andere, objektiv betrachtet weitaus gravierendere Vorfälle, die ebenfalls weltweite Empörung verdient hätten, mit einem Achselzucken abgetan werden. Warum also identifizieren sich Menschen weltweit mit einer Gruppe bunt maskierter Frauen, die in einer Moskauer Kathedrale in einem Punk-Gebet die Gottesmutter Maria anflehen, sie von Putin zu erlösen? Und warum fühlen sich die russische Staatsmacht und die Orthodoxe Kirche von dieser Aktion derart angegriffen, daß sie glauben, trotz des vorhersehbaren Imageschadens, diesen Protest derart drakonisch bestrafen zu müssen?

Die Aktion hat offensichtlich auf eine Art und Weise emotionale Tiefenschichten berührt, die sich nicht allein aus der Empörung über ein ungerechtes Verfahren speist. Und diese Identifizierung setzte bereits während der Untersuchungshaft ein, bevor die abscheulichen Bilder der Frauen, die wie Tiere in einem Käfig zur Schau gestellt wurden, durch die Medien geisterten. Auf der ganzen Welt zogen sich Frauen neonfarbene Mützen über das Gesicht, schnitten Löcher für Augen und Mund hinein und wurden durch diese Maskierung selbst Teil von Pussy Riot. Mit ihren bunten Masken hatten Pussy Riot ein Symbol geschaffen. Und dieses Symbol erlaubte es Frauen auf der ganzen Welt, sich mit der Gruppe zu identifizieren, sei es abstrakt in Gedanken, sei es konkret, indem sie sich derart maskiert der Öffentlichkeit stellten.

Auf ein ähnliches Phänomen habe ich bereits vor einigen Wochen hingewiesen anläßlich der Guy Fawkes Masken, die als Symbol für Aktionen gegen Internetzensur ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl stiften. Dieses Symbol hatten sich nicht die Aktivisten ausgedacht, sondern ein Künstler: Es war der Comic von V for Vendetta von Allan Moore, dem dieses Symbol entlehnt wurde. Und das ist auch der Grund, warum ein derartiges Symbol wirkt: Es ist nicht einfach ausgedacht, sondern es hat eine Geschichte, eine Tradition, die es hochgradig mit Bedeutungen auflädt. Oft genug sind diese Bedeutungen äußerst schwer zu entschlüsseln, weil sich viele historische Traditionslinien im Symbol überlagern, ihm bei jeder neuen Verwendung zusätzlich Bedeutungsschichten hinzufügen. Und dennoch erscheint denjenigen, die das Symbol für sich in Anspruch nehmen, seine Bedeutung evident: Das ist die großartige Macht der Symbole.

Und so stehen auch die neonfarbenen Strickmasken von Pussy Riot in einer Tradition, einer Tradition weiblicher Rebellion gegen die Gesellschaft, die in die Anfänge der Frauenemanzipation des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Ich hatte bereits vor einigen Monaten gezeigt, daß die Aktion von Pussy Riot in der Linie des Dadaismus und Surrealismus steht. Die Kontinuität begann damals, als der „Oberdada“ Johannes Baader 1918 im Berliner Dom eine ähnliche Aktion – und zwar mitten während eines Gottesdienstes! – durchgeführt hatte.

Auch das ausdrucksstarke Bild der Maskierung, dessen sich Pussy Riot bedienen, reicht in die fiebrige Zeit des ersten Weltkrieges zurück, als die bürgerliche Ordnung des 19. Jahrhunderts aus den Fugen geriet. Wie bei den Guy Fawkes-Masken von Anonymous ist es ein Werk der sogenannten Populärkunst, das hier die Blaupause lieferte: Die Stummfilm-Serie Les Vampires aus den Jahren 1915/16. Mit dieser Serie knüpfte der Regisseur Louis Feuillade an seine erfolgreichen Fantômas-Filme der Jahre 1914/15 an. Die titelgebenden Vampire sind eine Verbrecherbande in Paris, die das Bürgertum auf spektakuläre Art und Weise um sein Geld und manchmal auch das Leben bringt.

Doch im Gegensatz zum männlichen Schurken Fantômas wurde in Les Vampires die eigentliche Hauptrolle von einer Frau gespielt. Jeanne Roques alias Musidora verkörperte Irma Vep, eine femme fatale, die eine herausragende Rolle in der Verbrecherbande der „Vampire“ inne hat. Die Chefs der Bande bleiben blaß, sie kommen und gehen, aber Irma Vep – ein Anagramm für Vampire – bleibt.

Bereits Fantômas war eine Figur gewesen, in der sich die Ängste des bürgerlichen Publikums vor dem Zusammenbruch der etablierten Ordnung (lustvoll) spiegeln konnten. Er wurde von Feuillade als Meister der Maske und Verkleidung inszeniert wird, trat mal als Bankier und mal als kleiner Ganove auf, und verkörperte so die Verunsicherung des Bürgertums, das nicht nur um Geld und Leben fürchtete, sondern auch, daß die klar abgegrenzten Klassenschranken, die eingespielten Machtverhältnisse in Frage gestellt werden könnten. Kein Wunder, daß die Surrealisten Fantômas liebten und eine Societé des Amis de Fantômas, eine Gesellschaft der Fantômasfreunde gründeten.

Mit der Figur der Irma Vep wurde diese Furcht noch einmal gesteigert, indem eine zusätzliche Bedrohungsebene eingezogen wurde: Griff Fantômas im wesentlichen das bürgerliche Eigentum und die Klassenverhältnisse an, so stellte Irma Vep zudem das Verhältnis der Geschlechter in Frage. Das korrespondierte durchaus mit den realen Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Immer mehr Frauen gingen einer Erwerbsarbeit nach:

„Außerhalb des Heims arbeitende Frauen waren bereits vor dem ersten Weltkrieg eine bedeutsame ökonomische Macht, die 35 bis 40 Prozent der Werktätigen stellte, was Jean Louis Robert zufolge einer der höchsten Prozentsätze in Europa war. Hinzu kam, daß sich die Art der Beschäftigung für Frauen ebenfalls änderte. Frauen wechselten in weniger traditionelle Berufe wie das Transportwesen oder die industrielle Fertigung, während die Zahl der Frauen in der Textil- und Bekleidungsindustrie zurückging.“ ([1], S. 82)

Und sie begannen nicht nur, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie gingen als Suffragetten auf die Straße und reklamierten das Wahlrecht für sich. Sie forderten, nicht länger von dern Universitäten ausgeschlossen zu bleiben sollten, und proklamierten, daß auch ihnen das Recht auf eine angemessen Bildung zustünde. Mit anderen Worten, das traditionelle männliche Selbstbild geriet ins Wanken. Und es war die Aufgabe der Kunst, für diese Ängste die richtigen Bilder zu finden, in diesem Fall die neue populäre Kunst des Kinos.

Und so beutete Louis Feuillade zusammen mit Musidora in Les Vampires diese männliche Angst vor der anwachsenden Macht der Frauen kongenial aus, indem sie mit Irma Vep das perfekte Symbol für die Bedrohung der männlichen Herrschaft schufen: Maskiert und im hautengen Seidentrikot, die Arme in die Seiten gestemmt, war Musidora ein perfektes Emblem für die Veränderungen im Machtverhältnis der Geschlechter.

Dazu paßte, daß die Darstellerin Musidora im realen Leben durchaus diesem neuen weiblichen Rollenbild einer selbstbewußten, dominanten Frau entsprach. Sie verkehrte in den Kreisen der Surrealisten, schrieb und inszenierte Theaterstücke und drehte ihre eigenen Filme.

Das maskierte Gesicht mit den großen, glühenden Augen ist also keineswegs eine Erfindung von Pussy Riot, sondern speist sich aus der Tradition feministischer Symbole. Wie weit das bewußt geschieht, wie weit das Unterbewußte oder Zufälle hier eine Rolle spielen, ist kaum zu sagen: Symbole scheren sich nicht um solche Fragen, sondern schweifen durch den semantischen Raum und werden zu Zeiten und an Orten auf einmal wieder wirkungsmächtig, wo das niemand erwartet hätte. Und wer das nicht glaubt, sondern meint, Musidora und Irma Vep seien längst vergessen, sei durch das Graffiti auf einer New Yorker U-Bahn, das der englischsprachigen Wikipedia-Artikel zu Musidora dokumentiert, eines besseren belehrt.

Nächste Woche wird es um den neuen Kontext gehen, in dem Pussy Riot dieses Symbol wieder zu neuer Wirkung gebracht haben. Freuen Sie sich also darauf, wenn Jekaterina Samuzewitsch erklärt:

„Mit unserer Aufführung haben wir es gewagt, das visuelle Bild der orthodoxen Kultur ohne den Segen des Patriarchen mit der Protestkultur in Verbindung zu bringen.“ ([2], S. 23)

Nachweise

[1] Callahan, V., Zones of Anxiety – Movement, Musidora and the Crime Serials of Louis Feuillade, Detroit 2005.

[2] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. August 2012: „Keine Reue – aus den Schlußplädoyers von Pussy Riot“ (Samuzewitsch, J.; Aljochina, M. & Tolokonnikowa, N.), S.23.

Written by alterbolschewik

24. August 2012 at 15:55

Veröffentlicht in Meinungsfreiheit, Punk

Punk!

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„Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, daß einzig barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das Unbarbarische wieder herzustellen vermöchte.“

Theodor W. Adorno, Minima Moralia

Daß Punk wie DADA sei, das wurde bereits letzte Woche zitiert. Doch inwiefern ist Punk denn nun wie DADA? Nun, die erste Gemeinsamkeit, die einem sofort ins Auge springt, ist der provokatorische Gestus. DADA attackierte die Kunst oder besser: das Kunstwerk, wie es seinem bürgerlichen, aus dem 19. Jahrhundert herrührender Begriff, nach sein sollte; zerschmettert werden sollte die Illusion, es wären noch runde, in sich geschlossene, sinnhafte, womöglich gar schöne Werke möglich. An die Stelle des wohlgeformten Werkes trat die zufällige Zusammenstellung vorgefundenen, aufgelesenen Materials, das auf eine Art und Weise zusammengeschustert wurde, daß es kein sinnvolles Ganzes, ja nicht einmal mehr ein Ganzes ergab. Und diese Destruktion der Vorstellung von einem sinnvollen Ganzen, war nicht nur überzeugend, sondern machte dabei auch noch Spaß.

Und dieser Spaß an der Zerstörung ist auch das Erste, was ein äußerlicher Blick auf Punk wahrnimmt: „I wanna be anarchy / You know what I mean / And I wanna be a anarchist / Get pissed. Destroy / Ahhh“ spuckt Johnny Rotton die Schlußverse von Anarchy in the UK heraus (zit. nach [1], S.52). Doch wer ist der Gegner von Punk? Auf den ersten Blick, zumindest wenn man die Sex Pistols als die prototypische Punk Band nimmt, scheint es die ganze Gesellschaft zu sein. Auf Anarchy in the UK folgt der Angriff auf das Silver Jubilee der Königin mit God save the Queen. Doch dieser hyperbolische Gestus des Angriffs auf alle und jeden, den die britische Boulevardpresse tatkräftig unterstützte, verdeckt in seiner maßlosen Selbstüberschätzung, daß Punk tatsächlich ein sehr präziser Angriff war, nämlich ein Angriff auf die Kulturindustrie.

Um das besser zu verstehen, ist es notwendig, die spektakuläre Inszenierung des britischen Punks auszublenden und den Blick auf die originalen Wurzeln zu werfen: Auf die New Yorker Punk Szene, die sich bereits ab 1973/74 in der Lower East Side entwickelte. Hier ging es nicht so sehr darum, das Establishment anzupissen, als vielmehr darum, sich von der Kulturindustrie abzusetzen. Die zeitgenössische Rockmusik wurde, von wenigen Ausnahmen wie The Velvet Underground oder Iggy and the Stooges einmal abgesehen, völlig abgelehnt. Diese Ablehnung des kulturindustriellen Mainstreams äußerte sich in der New Yorker Szene in Form zweier unterschiedlicher Strategien.

Die eine versuchte, der Kulturindustrie dadurch Paroli zu bieten, daß sie diese wieder mit einem Kunstwollen konfrontierte, das auch an Rockmusik den Anspruch stellte, daß diese als Kunstwerk funktionieren solle. Es ist deshalb auch kein Wunder, daß die zwei wichtigsten Protagonisten dieser Richtung, Patti Smith und der Gitarrist von Television, Tom Verlaine (allein das Pseudonym von Thomas Miller stellt den Bezug zum Kunstschaffen des 19. Jahrhunderts her) zunächst einmal von der Dichtung, und nicht von der Musik herkamen. Dieser Teil der New Yorker Punk Szene experimentierte mit neuen Formen und versuchte, aktuellere künstlerische Ausdrucksweisen zu etablieren.

Ästhetisch und musikgeschichtlich bedeutsamer war jedoch die andere Richtung, die nicht mehr versuchte, der Kulturindustrie dadurch zu bekämpfen, daß man ihr wieder das Kunstwerk entgegenstellt. Diese zweite Strategie, prototypisch verkörpert in den Ramones, funktionierte völlig anders: Sie kehrte in einer raffinierten dialektischen Volte die Kulturindustrie gegen sich selbst. Die Ramones bewegten sich voll und ganz im Inneren der kulturindustriellen Formen, aber sie reduzierten diese derart auf das nackte Skelett, daß die ersten Hörer vor dem Paradoxon standen, daß ihnen etwas Altbekanntes, das sie nie zuvor gehört hatten, um die Ohren geschlagen wurde:

„The whole place stunk of urine. The whole place smelled like a bathroom. And there were literally six people in the audience and then the Ramones went onstage, and I went „Oh … my … God!“
And I knew it, in a minute. The first song. The first song. I knew that I was home and happy and secure and free and rock & roll. I knew it from that first song the first time I went so see them.“ (Leee Childers, zit. nach [3], S.201)

Hier ging es nicht um Provokation, sondern darum, der Kulturindustrie das von ihr kolonialisierte Erbe des Rock’n’Roll zu entwinden und wieder künstlerisch fruchtbar zu machen. Die Front, die Punk im Angriff auf die Kulturindustrie aufmachte, hatte weniger den Zweck, den Gegner zu treffen, als vielmehr eine Enklave innerhalb des Systems aufzumachen, einen temporären Ort zu etablieren, in dem die Gegnerschaft zum „kulturindustriellen Scheiß“ (Nörgler) eine Heimstätte finden kann.

Emblematisch hierfür ist der Ramones-Song „Pinhead“, der sich direkt auf Tod Brownings Film Freaks von 1932 bezieht, den Film, der Brownings Regie-Karriere jäh beendete, weil er nicht in die etablierten kulturindustriellen Raster paßte. Die Helden von Freaks sind Menschen, die aufgrund irgendwelcher körperlichen Besonderheiten von der sich als „normal“ definierenden Gesellschaft ausgeschlossen werden und sich ihren Lebensunterhalt als Kuriositäten in einer Zirkus-Sideshow verdienen. Einer aus dieser Truppe, der kleinwüchsige Hans, verliebt sich in die Trapezkünstlerin Cleopatra. Doch Cleopatra hat es allein auf Hans‘ Geld abgesehen und will die Ehe nur eingehen, um ihn dann mit ihrem Liebhaber Hercules zu ermorden. Beim Hochzeitsbankett nehmen die nichtsahnenden Freaks Cleopatra in ihre Gemeinschaft auf:

Diesen Pakt, den Cleopatra bricht und wofür die Ausgestoßenen furchtbare Rache nehmen, schließen die Ramones mit ihrem Publikum in Pinhead erneut:

Und genau darum geht es im Punk (und auch schon bei DADA): Nicht um die Produktion von Werken, auch nicht um Provokation, sondern darum, mit Kunst einen Raum zu öffnen, in dem sich eine Minderheit geschützt vor den Zumutungen der Mehrheitsgesellschaft Ausdrucksmöglichkeiten erobern kann, die ihnen im normalen kapitalistischen Alltag verwehrt sind. Einer dieser Orte war, Mitte der 70er Jahre, die Lower East Side in New York.

Derartige situative Orte sind selten und meist kurzlebig: Entweder sie verschwinden oder sie werden früher oder später durch die Kulturindustrie wieder kolonalisiert. Zurück bleibt allein die Legende, und wenn man Glück hat, einige an sich bedeutungslose Artefakte, die ihre Aura daraus ziehen, daß sie an einen verschwunden Ort erinnern, an dem für eine kurze Zeitspanne etwas möglich war, was im Nachhinein wie ein Fata Morgana erscheint.

Damit endet, zumindest für den Augenblick, dieser unerwartet lange Exkurs zum Kunstwerk und seinem Ende. Nächste Woche kehren wir wieder zurück nach Jugoslawien und zur Praxis-Gruppe. Lesen Sie deshalb auch nächste Woche weiter, wenn Gajo Petrović erklärt:

„Indem wir den echten Marx wiederbelebt haben, konnten wir nicht bei seinen Lösungen stehenbleiben, sondern mußten versuchen, die Fragen zu beantworten, die er offengelassen hatte.“ ([2], S.56)

Literaturverzeichnis

[1] Lau, T., Die Heiligen Narren. Punk 1976 – 1986, Berlin / New York 1992.

[2] Petrović, G., „Marxism versus Stalinism“, in: Praxis, Jg.4 (1967), Nr.1: 55 – 69.

[3] McNeil, L. & McCain, G. (Ed.), Please Kill Me. The Uncensored Oral History of Punk, New York 1996.

Written by alterbolschewik

5. August 2011 at 17:04

Veröffentlicht in Punk