shifting reality

Es gibt kein richtiges Lesen im valschen!

Archive for August 16th, 2007

Von Liturgien und Heilslehren

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„Die Rede von der Liturgie umfasst das gesamte gottesdienstliche Geschehen: Gebet, Lesung und Verkündigung, Gesang, Gestik, Bewegung und Gewänder, liturgische Geräte, Symbole und Symbolhandlungen.“

Steht in der Wikipedia.  Eigentlich ist es schade, daß bei so vielen aktuellen Vorgängen, die diesem Schema folgen, der Gesang fehlt. Gesänge in heiligen Börsenhallen, das hätte schon was. Nur im Stadion gibt’s die noch, deshalb macht das da  ja auch mehr Spaß als an der Börse. Also bei uns zumindest wird gesungen. Weiß nicht, wie man das woanders macht, in Leverkusen oder so.

Gewänder gibt es genug, da braucht man nur mal durch ’nen Flughafen zu gehen: Das gemeinschaftstiftende Element ist und bleibt der Anzug – und in Zeiten der Schein-Emanzipation ergänzend das Kostüm.

Liturgische Geräte gibt’s en masse: Handys, Laptops,  deren Erwerb dann so eine Art Initiation bedeutet, wären zu nennen. Verkündigung durfte ich neulich auch mal wieder erleben, als der Investor von der Themse kam und uns das neue Firmen-Evangelium predigte. Dann seine Gemeinde kennen lernen wollte.

Aktuell schwitzen bei uns alle über dem Jahresabschlußbericht, komischerweise ist der zum 31.08. fällig. Er entscheidet dann über Wohl und Wehe des Unternehmens … über dessen zukünftiges Heil. Und ob Gott Markt gnädig gestimmt ist – das eine oder andere Opfer bringt man ggf. zuvor, hier wird einer gefeuert und da auch, Fixkosten senken, damit die Bilanz in den Augen aller auch jenen Regeln folgt, die die reine Lehre des Guten und des Schlechten verkündet.

Manchmal sitzt man so da und stellt sich vor wie’s wäre, wenn man von Hartz IV-Sätzen leben müßte.

Der Hund käme nicht mehr zum Tierarzt, zu teuer, mit Einkauf von Biokälbern bei  Edeka wäre dann Schluß, zum Glück ist die nächste, noch nicht geschlossene Bücherhalle nicht allzu weit entfernt. Man hätte wahrscheinlich zunächst mal das Gefühl, daß man wieder Zeit für sich und seine Freunde hätte – um ziemlich schnell festzustellen, daß es mit den gemeinsamen Unternehmungen schwierig würde, weil ja alles überall Geld kostet, und die Freunde im Gegensatz zu einem selbst tagsüber gar nicht mehr frei haben, ganz anders als damals im Studium.

Man wäre wohl froh, noch krankenversichtert zu sein, obwohl ich auch nicht weiß, wie das so ist mit der Krankenversicherung bei Hartz IV-Empfängern, sorgte sich um Altersarmut und würde noch mehr ferngucken als sowieso schon. Die Ölfarben wären auch zu teuer, so schriebe man vielleicht einen Roman und träumte dann davon, wie Frau Rowling einen Weltbestseller zu schreiben … zwischen all den Bewerbungen, die ein Schweinegeld kosten.

Wo bitte bleibt denn da die Religion? Man wäre froh, daß man heil bliebe, klar. Aber wo ist dabei die erfüllte Dies- oder Jenseitshoffnung, die Heilslehren bestimmt?  Und wo gar die Sozialisierung von Produktionsmitteln? Wo ein Gott?

Zu den ganz billigen, rhetorischen Tricks gehört es unter säkularen Bedingungen, dem politischen Gegner zuzuschieben, er folge einer „Heilslehre“, siehe oben.

Natürlich ist das billig. Als Religion läßt sich fast alles geregelte Miteinander beschreiben. Doch während noch der „unsichtbaren Hand des Marktes“ tatsächlich mystische Gotthaftigkeit und den utilitaristischen Summentheorien sowas wie eine Heilsversprechung innewohnt, fällt diese zu finden zumindest beim Sozialstaat mir wirklich schwer.  Da geht’s wohl eher um ein halbwegs würdevolles Überleben, aber wer das schon als Heilsversprechen begreift, der hat entweder den Grund der Säkularisierung nicht verstanden  oder will wirklich für unwürdiges Sterben eintreten – im Namen unternehmerischer Freiheit. Oder er vertritt eben doch die Summentheorie des Utilitarismus, das ist aber auch eine Form diesseitiger Heilslehre. Was denn sonst?

Völlig grotesk wird’s dann, wenn in misen Traditionen der Sozialstaatsgedanke mit jenem des Sozialismus vermengt wird (via weißjaehjeder). Ganz wie den Doktrinen der neoliberalen Utilitaristen wohnt dem klassischen Sozialismus eines Marx natürlich ein Heilsversprechen inne.  Aber, mal ganz im Ernst, was soll man denn sonst proklamieren? Ein Kaputtversprechen?

Vielleicht auch gar keins, das wäre noch ’ne plausible Antwort. Meine ich ganz unironisch. Wenn ich den Hayek richtig verstanden habe, müßte man ja eigentlich die Klappe halten, anstatt Bücher zu schreiben oder zu bloggen. Alles andere führt nur zur Knechtschaft, wendet man die Gedanken auf sich selbst an. Oder habe ich was falsch verstanden?

Aber wer „unternehmerische Freiheit“ oben auf die Seite setzt, der ist bereits im Reich des Normativen und Evaluativen unterwegs. Und das nur für sich zu fordern, das geht wohl nur in Mönchszellen im einsamen Gebet … sobald man die Möglichkeit für alle fordert, muß man schon irgendeinen Grund dafür haben. Wenigstens das je eigene Heil, und eine Heilslehre ist das dann ja auch.

PS: „Sozialismus als Heilslehre: Der Sozialstaat als Religion – was folgern wir aus dem eigentlichen Charakter des Sozialismus? Daß es die „Eigentlichkeit“ war, die zu Heideggers Werdegang beitrug, das sei hier mal so als These aufgestellt. Das stinkt nach Wesensmetaphysik. Und was die da folgern, da wäre ich tatsächlich neugierig – nein, ich witzel jetzt nicht über den Faschismus als Notbehelf und vermute auch nicht, daß es das ist, was sie folgern.

Sondern, reine Hypothese, einfach nur weitere Entrechtung Anderer – im Namen „unternehmerischerFreiheit“.  Und was es mit dem Recht, Rechte zu haben, auf sich hat, das kann man dann in Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ nachlesen. Leute, die „unternehmerische Freiheit“ auf ihre Seite schreiben, fordern zumeist Rechte einfach nur für sich …  ob das bei den Verlinkten auch der Fall ist, weiß ich nicht. Und ich werde bestimmt auch nicht noch mal da lesen, um das zu überprüfen. Bestimmt nicht.

Written by momorulez

16. August 2007 at 19:12

Veröffentlicht in Ökonomie

Och, Herr Kaiser vom neodeutschen Zentralorgan der neoliberalen Ästhetik!

with 20 comments

http://www.vanityfair.de/blog/politik/02756.html

Ich gebe jetzt die Quelle immer sofort an, damit eventuelle Zitate nicht als aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen.
Lesende Leser können dann sofort den Zusammenhang nachprüfen, bevor sie hier populistische Dinge behaupten, wie der Kaiser der schönen Eitelkeit, der irgendwie ganz woanders zu leben scheint, wie ich. Ich bin nämlich einer der beneideten und gepriesenen Auswanderer aus Deutschland, da finde ich es immer interessant, wie die daheimgebliebenen sich unter grössten Schwierigkeiten um Selbstverwirklichung bemühen. Eitel Kaiser schreibt so intelligent, dass es wirklich jeder versteht. Nur ich nicht. Aber ich bin woanders.

Das Anklagen der angeblich untragbaren Zustände ist immer Hobby der Mittelschicht gewesen. Und es gilt als „links“.

Sich als „links“ zu bezeichnen ist wohl eher diffuses Unbehagen an unserer Gesellschaft, ja an der Moderne.

Denn das Seltsame ist, dass viele „Linke“ keineswegs die Probleme, die wir haben, als lösbar betrachten, sondern dass daraus gleich eine Skepsis gegenüber „der Marktwirtschaft“ oder „dem Kapitalismus“ überhaupt resultiert.

Tief in uns haben wir wohl den „langen Weg nach Westen“ (Heinrich-August Winkler) noch nicht abgeschlossen.

Soso.

60 Jahre im Großen und Ganzen sensationell funktionierende Marktwirtschaft haben nicht ausgereicht, den Deutschen die letzte Skepsis gegenüber dieser Wirtschaftsform auszutreiben. Das ist paradox.

Als ich aus Deutschland in den Westen „emigrierte“, weil ich mich auch mal als „emigrierte Leistungselite“ fühlen wollte, gab es gar keine sensationell funktionierende Marktwirtschaft, sondern eine sensationell funktionierende soziale Marktwirtschaft in Deutschland, eben ein Modell von Moderne, das die neoliberalen Populisten wie Herr Kaiser sich gerade bemühen auszutreiben. 60 Jahre lang gab es gegenüber dieser Wirtschaftsform kaum Skepsis, ausser von den „Rechten“ der Gegenaufklärung, die die Probleme, die wir haben, keineswegs als lösbar betrachten, sondern uns eben radikal austreiben wollen, die Probleme und die Skepsis ihnen gegenüber. 60 Jahre lang wurde nicht genug ausgetrieben, aber jetzt wird`s Zeit, dass die deutliche Sprache einer anderen Ästhetik gesprochen wird.

Vom Rest jenes Textes des Trommlers der radikalästhetischen Bewegung mag ich gar nicht reden, weil ich den indirekten historischen Vergleich am Ende nicht reproduzieren möchte, auch wenn Lafontaine verglichen wird. Sowas kannte ich noch gar nicht. Zweifellos ist aber Deutschland in Gefahr.

Written by talbert

16. August 2007 at 16:18

Veröffentlicht in Faschismus und Antifaschismus

Aus gegebenem Anlaß

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Was für weltfremde Philosophen. Seufz. Den vermisse ich. Der hat uns soooooooooo viel gegeben. So unermeßlich viel. Der war wirklich ’ne Revolution, und die Monarchie, in die er führte,  ist gerade weil sie so bizarr ist irrevedierbar. Und das ist auch gut so. Danke. Ich zünde Dir heute ’ne Kerze an, lege eines Deiner späten Konzert auf und weine mit Dir um Dich.  Cause you’re gone, gone, gone …

Written by momorulez

16. August 2007 at 6:30

Veröffentlicht in Pop